Читать книгу Große Gefallen - Lillian Fishman - Страница 6
3
ОглавлениеOlivia sehnte sich nach Ekstase. Sie hatte es mit dem ganz normalen Leben versucht, Bilder gemalt und bei der Arbeit lange Röcke und Schnürschuhe getragen, aber das war ihr nicht genug gewesen. Am meisten beneidete ich sie darum, dass sie durch Nathan einen Weg gefunden hatte, das Problem zu umgehen.
Sie war seit Jahren in ihn verliebt, auf eine inbrünstige, unerhörte Weise. Aber Nathan war einer dieser wenigen Menschen, die von der Liebe verschont bleiben. Bei unserer ersten Begegnung wirkte er so bei sich, so vollendet, dass ich mir unmöglich vorstellen konnte, wie er sich einem anderen auslieferte. Sein Ausdruck war ebenso gelassen wie belustigt, seine Gesten zielgerichtet. Neben ihm fühlte ich mich fast durchsichtig. Als ich sah, wie er mit Olivia umging, dämmerte mir, dass es ihm großen Spaß machte, einer anderen Person ihre Emotionen und Sehnsüchte zu entlocken und selbst völlig ungerührt zu bleiben.
Wäre er ein Künstler, hätte das einen Sinn ergeben, in der Tat wäre es der ultimative Kunstgriff gewesen: Er war in der Lage, ein so brennendes Verlangen wie das von Olivia zu wecken, und bewahrte sich dabei die Fähigkeit, es aus dem Abstand zu studieren. Aber Nathan war kein Künstler. Er leitete seit drei Jahren eine Vermögensverwaltung in Manhattan. Einmal, ich war gerade dabei, mich wieder anzuziehen und ihn dabei wie üblich mit Fragen über Olivia zu löchern, wollte ich es endlich wissen: Stört es dich nicht, dass ich immer so viele Fragen stelle?
Nein, sagte er, mir gefällt sehr, wie du die Informationen aufsaugst. Das ist deine Kunst. Meine ist Ficken.
* * *
Das stimmt nicht, sagte Olivia, als wir drei zusammensaßen. Es war der dritte Abend, den ich im Laufe des ungewöhnlich milden Dezembers mit den beiden verbrachte. Wir waren im Pleiades, einer Bar in Uptown mit in Leder gebundenen Cocktailkarten und höflichem Personal, die sie regelmäßig besuchten. Nathan saß neben mir in einer plüschigen Nische, Olivia auf der anderen Seite des kleinen runden Tischs.
Natürlich ist Nathan ein Künstler, wiederholte Olivia. Weißt du, früher hat er auch gemalt.
Wirklich?, fragte ich.
Früher, sagte Nathan.
Er war ein wunderbarer Maler, sagte Olivia. Ein Naturtalent. Aber er hat es nie ernst genommen.
Warum hast du aufgehört? Hast du aufgehört?
Keine Ahnung, sagte Nathan.
Er ist heute wohl ein bisschen wortkarg, sagte Olivia zu mir. Er hat das Interesse verloren, weil er in einfach allem gut ist. Stimmts, Nathan?
Olivia lachte hinter vorgehaltener Hand. Ich freute mich sehr darüber, denn mir war aufgefallen, dass sie sich nur selten mit mir verbündete. Unter dem Tisch legte ich eine Hand auf Nathans Oberschenkel, wie um ihm zu signalisieren, dass ich es nicht so meinte. Es dauerte immer eine Weile, bis mir wieder einfiel, dass Nathan gegen Spott oder harte Kritik immun und ich vom gesellschaftlichen Gebot der Rücksichtnahme befreit war.
Ich hatte gedacht, es würde mir viel mehr abverlangen, sagte Nathan. Außerdem hätte ich es nie so machen können wie Olivia und zu Hause malen, nach der Arbeit. Diese Art von Doppelleben wäre nichts für mich gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass ich, wenn ich wirklich malen wollte, alles dafür geben und ganz anders leben müsste. Und das wollte ich nicht.
Wie anders?
Mit Hingabe, sagte Nathan.
Und dafür, fragte ich, hättest du unter einer Brücke schlafen müssen? Dir die Haare wachsen lassen?
Es war in der Tat sehr romantisch, sagte Olivia lächelnd. Während des Studiums hat er in einer Dachkammer gewohnt, direkt an der Mass Ave. Ja, wirklich! In einer Mansarde. Seine kleine Mansarde. Ich habe ihn so darum beneidet.
Ich kann mich nicht erinnern, dass du je in meiner Mansarde, wie du es nennst, gewesen wärst, sagte Nathan.
Ein Mal, sagte Olivia. Bei einer Party.
Und für dich, sagte ich zu Olivia, ist es anders? Du gehst ins Büro, kommst wieder nach Hause und malst deine Bilder? Das funktioniert?
Ja, sagte Olivia. Sobald ich meine Aufmerksamkeit auf sie richtete, zog sie den Kopf ein. Wenn wir uns mit Nathan unterhielten, war ihr Gesicht entspannt, fast offen, doch sobald ich sie ansah, verschloss sie sich wieder. Ich fühlte mich unsicher und uncharmant. Wirkte ich neben Nathan so himmelschreiend langweilig? Oder war der Gedanke an den Sex, den wir später haben würden – unsere Barbesuche waren immer nur ein Vorspiel –, für sie so schmerzhaft und abstoßend, dass sie meine Anwesenheit nur Nathan zuliebe ertrug? Aber warum sollte sie sich der Situation in dem Fall schutzlos ausliefern?
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob meine Annahme, das alles sei allein Nathans Idee, nur meine eigene Naivität und Spießigkeit bewies. Schließlich war es Olivia gewesen, die mich angeschrieben hatte. Ich hatte Nacktfotos gepostet. Auf einmal wurde mir klar, wie sehr ich mir wünschte, dass alles Nathans Idee sei.
Nein, ich male gern in meiner Freizeit, erklärte Olivia und berührte die Spitzen ihrer Haare, die sie zu einem langen Zopf geflochten hatte. Die Arbeit … füllt mich irgendwie aus. Sie nährt mich. Ich beschäftige mich gern damit.
Und später beim Malen fließt sie in deine Bilder ein?, fragte ich.
Irgendwie schon, sagte Olivia. So wie alles andere auch.
Liv, möchtest du noch einen Drink?, fragte Nathan.
Nein danke.
Also gut, dann los.
Sofort erschien ein Kellner. Die knappe Geste, mit der Nathan die Rechnung bestellte, implizierte eine naturgegebene Überlegenheit, für die er sich nicht zu entschuldigen brauchte. Er blieb stets höflich, doch seine forschen Bewegungen schienen jeden anzuklagen, der jetzt noch im Pleiades herumlungerte. Etwas so Anmutiges und gleichzeitig so Befremdliches hatte ich nie gesehen. Ich wollte vor ihm davonlaufen, aber ich wollte auch lernen, danke zu sagen wie er: als wären das Wort und alle Menschen, zu denen ich es sagte, mein Eigentum.
* * *
Wie hatte Olivia es gemerkt? Sie und Nathan hatten sich im College kennengelernt und waren nach dem Abschluss sechs Jahre lang entfernte Bekannte gewesen, bis Nathan ihr auf der Weihnachtsfeier eines gemeinsamen Freundes einen Job anbot. Er war gerade dabei, eine Vermögensverwaltung für den großen und wohlhabenden Clan eines alten Bankiers zu gründen, der darauf hoffte, die neue innovative Firma würde den Bedürfnissen der nachkommenden Generation gerecht. Die jungen Leute wollten ihr Geld nicht mehr in Waffenproduktion und Pharmaindustrie investieren, zumindest wünschten sie sich auch noch andere appetitlichere Projekte, die von den verwerflichen ablenken würden. Sie mochten Nathan wegen seiner Herkunft, seiner künstlerischen Vergangenheit und, obwohl ihnen das nicht so bewusst war, wegen seines entschlossenen und dennoch eleganten Führungsstils.
Damals hatte Olivia mehr schlecht als recht an einer Bilderserie für eine Ausstellung im darauffolgenden Frühjahr gearbeitet, die am Ende nie zustande kam. Sie besaß ein Treuhandvermögen, fühlte sich aber unwohl bei dem Gedanken an zu viel Müßiggang beziehungsweise daran, wie das auf andere gewirkt hätte. Ihre freie Zeit, die sie sonst mit ihrer Freundin verbracht hatte, erschien ihr nach der hässlichen Trennung hohl und tückisch. Seit dem College hegte sie insgeheim den unerklärlichen Wunsch, Nathan oral zu befriedigen. Während ihrer ersten sechs Monate an der Uni hatte er bei ihr, der Studienanfängerin, einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Sie war besessen von seiner Art, Entscheidungen zu treffen, mit Menschen zu reden, sich zu bewegen – als wäre ihm jeder Zweifel fremd. Sie hingegen verließ einen Coffeeshop, wenn er zu voll war oder der Barista einen schlecht gelaunten Eindruck machte.
Weißt du, hatte Nathan zu ihr gesagt, ich glaube, du solltest dich wegen der Bilder nicht so unter Druck setzen. Sicher findet sich bei uns in der Firma etwas für dich. Ein bodenständiger Job könnte hilfreich sein und dich beflügeln. Dein Denken herausfordern, neuen Schwung in die Sache bringen.
Olivia, die bis zu dem Zeitpunkt noch nie von einer Festanstellung geträumt hatte, stellte fest, dass der Vorschlag, sobald er aus Nathans Mund kam, einen ganz eigenen Reiz entfaltete. Ich weiß nicht, sagte sie, bist du dir sicher? Und Nathan winkte ab, als sei es längst entschieden.
Sie war eine zwanghafte Person, schüchtern und ängstlich. Vor der Fixierung auf Nathan hatte sie sich nach einer ihrer Lehrerinnen von der Highschool verzehrt, die zu laut sprach und sich nicht scheute, Olivias brillante Essays zu kritisieren. Eines Nachmittags bestellte sie Olivia in ihr Büro und sagte: Glaubst du wirklich, damit würdest du den Ansprüchen gerecht, Olivia? Ist das wirklich der Text, unter den du deinen Namen setzen willst? Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich erwarte Großes von dir. O ja, Olivia.
Olivia dachte ungefähr einmal pro Woche an diese Lehrerin und spürte dabei eine beschämende Nässe zwischen den Beinen, und als Nathan ihr vorschlug, die Bilder beiseitezulegen und stattdessen für ihn zu arbeiten, hatte sie die Frau abermals deutlich vor Augen. Sie war überzeugt, dass es ihr nicht an Talent mangelte, sondern an der Fähigkeit, sich selbst zu managen; dass Nathan ihr Anweisungen gab, war aufregend und eine große Erleichterung. Sobald sie seine Erlaubnis hatte, die Bilder aufzugeben, wandte sie sich ihnen mit frischer Energie zu. Nathan hatte nie irgendwelche sexuellen Andeutungen gemacht, aber sie spürte, dass seine Kraft unerschöpflich war, sein Hunger grenzenlos und er kein Mann, den man zurückwies.
Während einer Geschäftsreise klopfte sie nachts an seine Hotelzimmertür und flehte ihn an, sich von ihr den Schwanz lutschen zu lassen. Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, sagte sie, bitte, bitte, bitte.
Nathan fand Olivias Unterwürfigkeit so seltsam und manisch – anscheinend war sie besessen und brauchte ein bestimmtes Medikament oder einen heilsamen Schock –, dass er sich, obwohl er sich nie sonderlich für sie interessiert hatte, auf sie einließ wie auf ein kompliziertes Forschungsobjekt. Er würde herausfinden, welches Heilmittel sie brauchte.
* * *
Als unbeholfene Dreierreihe liefen wir über die Park Avenue zu Nathans Wohnung in der 83rd Street. Beim Gehen sah Olivia auf ihre schwarzen Oxfords hinunter. Ich fand, sie als Künstlerin sollte mehr auf ihre Umgebung achten. Was sie sonst vielleicht auch tat, normalerweise. Nathan hatte erwähnt, dass sie manchmal hobbymäßig fotografierte und die Fotos später abmalte.
Während wir uns dem Gebäude näherten, nahm ihre Schüchternheit groteske Formen an. Nathan betrat die Lobby, ich folgte ihm und hielt ihr die Tür auf, sie senkte den Kopf. Ganz kurz musste ich an Romi denken, die mir immer die Tür aufhielt und überall den Vortritt ließ.
Guten Abend, grüßte Nathan den Portier.
Der Aufzug brachte uns direkt in Nathans Wohnung. Es gab ein eigenes kleines Foyer mit beeindruckend großer Standuhr. Diese Art von Luxus war mir vage vertraut; als Kind hatte ich Freundinnen gehabt, die in riesigen Häusern mit Eingangshallen voller Kunst aufwuchsen. Aber im Allgemeinen assoziierte ich diesen Reichtum mit alten Leuten und schlechtem Geschmack. In meinem New Yorker Erwachsenenleben war er mir höchstens in Restaurants oder als Zeitschrift begegnet.
Was möchtet ihr trinken?, fragte Nathan vom Wohnzimmer aus.
Egal, sagte ich.
Ich brauche nichts, sagte Olivia. Ich hole mir ein Wasser.
Während ich meine Stiefel aufschnürte, verschwand Olivia in einen dunklen Flügel der Wohnung, in dem ich während meiner Abende dort nie gewesen war und in dem ich die Küche vermutete. Wenn wir ankamen, entschuldigte sie sich jedes Mal mit einer Ausrede und mied das Wohnzimmer, wo Nathan es sich gemütlich machte, als wäre sie gedemütigt und nicht in der Lage, die Konstellation auszuhalten. In Momenten wie diesen fragte ich mich, wie Olivia und ich wohl miteinander umgehen würden, wenn Nathan nicht dabei wäre und das Geschehen lenkte. Ich erinnerte mich an das Ziehen und Schieben, das sich oft zwischen mir und einer anderen Frau ergab und über die übliche Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders weit hinausging. Wenn keine von uns die Initiative ergriff, fühlte ich mich sofort verantwortlich, die aufkommende Situation zu moderieren. Diese Verhandlungen waren ebenso lustvoll wie beklemmend. Es war nervenaufreibend, die Machtposition zu vermeiden, sie zu umgehen oder so zu tun, als hätten wir die Schieflage durch unsere Queerness überwunden. Aber sicher kamen Nathan solche Überlegungen nie in den Sinn.
Bis zu diesem Dezember war ich jahrelang nicht mehr allein mit einem Mann im selben Zimmer gewesen. Wenn Olivia verschwand, erinnerte sich mein Körper trotz Nathans erregender Aufmerksamkeit an den Grund. Nathan wirkte nicht wie ein Gewalttäter, aber ich beobachtete ihn trotzdem genau, ich machte mir klar, wie entspannt er wirkte und wie unwahrscheinlich es war, dass seine verbindliche Art in wütende Unsicherheit umschlug.
Er reichte mir ein Glas Wein. Wir saßen an den jeweiligen Enden des Sofas, dessen abgewetzter dunkler Brokatbezug an Möbel in einem Lesesaal erinnerte. Überhaupt hatte Nathans Wohnzimmer etwas Gedämpftes, es wirkte altmodisch, fast bescheiden und völlig unpassend im Vergleich zu dem imposanten Gebäude und dem privaten Foyer. Die grünen Bankierslampen glichen denen in öffentlichen Bibliotheken, vor den beiden Lehnsesseln in der Ecke standen zwei Fußbänke.
Wie läufts im Café?, fragte er. Du arbeitest als Barista, richtig?
Gleich bei Olivia um die Ecke, sagte ich, aber sie kommt nie vorbei.
Sicher ist es ihr peinlich.
Warum?
Na ja, ihr ist alles peinlich, sagte Nathan.
Dann hat es nichts mit mir zu tun?
Nathan stand auf, öffnete das äußerste linke von vier Fenstern, nahm eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Fensterbrett und zündete sie an. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihn wirklich attraktiv fand. Er war blass, hatte ein kantiges Kinn und breite entspannte Schultern. Oft achtete ich nicht auf sein Gesicht, sondern nur auf seinen Anzug und den strahlend weißen aufgeknöpften Kragen seines Hemds, das sich vorbehaltlos und bescheiden an ihn schmiegte. Er trug eine schlichte Uhr mit schwarzem Lederarmband und an der rechten Hand einen goldenen Ring.
Nathan stellte sein leeres Weinglas neben die Zigarettenschachtel und aschte hinein. Ich fragte mich, warum er keinen Aschenbecher besaß, ob er sich für zu unkonventionell oder zu idealistisch hielt.
Nein, sagte er, gar nichts. Überhaupt nichts.
Warum hat sie mich dann ausgesucht?
Das wäre mir neu, sagte Nathan lächelnd. Wir haben dich zusammen ausgesucht.
Oh. Du hast meine Fotos entdeckt?
Ja, natürlich.
Und dann hast du mich in Olivias Namen angeschrieben?
Kannst du dir vorstellen, dass ich solche Nachrichten schreibe?, lachte Nathan. Nein, sie hat dir geschrieben. Wir sehen uns Fotos an und erzählen uns, was wir mögen. Ich sage ihr, welche mir gefallen. Sie genießt das.
Und verschickt Anfragen in deinem Auftrag?
Nein, das machen wir zusammen, sagte Nathan. Das und noch ein paar andere Sachen. Wir bilden uns weiter.
Nathan bot mir seine Zigarette an. Auf Socken tapste ich ans Fenster, er gab sie mir und nahm sich eine neue.
Aber sie hat schon mal mit einer Frau geschlafen, sagte ich.
Ja, natürlich. Fast nur mit Frauen. Früher.
Wir redeten über Olivia, als wäre sie ein Mündel und wir ihr Vormund. Ihre gesamte Art verlangte nach Schutz, gleichzeitig erkannte ich dahinter eine einnehmende Rücksichtslosigkeit, die sich nicht zuletzt in ihrer Fixierung auf Nathan zeigte, und wenn nicht Rücksichtslosigkeit, dann irgendein anderes Verlangen, das sie bis zum Äußersten trieb.
Ich finde sie sehr attraktiv, sagte ich. Sie ist faszinierend, obwohl sie ehrlich gesagt nicht ganz mein Typ ist. Aber ich mache mir auch Sorgen um sie.
Nathan sah mich an und sagte nur: Das stimmt kein bisschen.
Wie bitte?
Das stimmt kein bisschen, wiederholte er. Du brauchst dich nicht zu verstellen. Du stehst nicht auf sie. Du bist meinetwegen hier.
Ich war so perplex, dass mir nichts weiter einfiel, als zu rauchen und ihn anzustarren.
Als ich in das Treffen eingewilligt habe, hatte ich noch nicht einmal ein Foto von dir gesehen, sagte ich.
Wie lange kennst du uns?, sagte Nathan. Zwei Wochen, einen Monat? Und du gehst nach Hause und machst dir Sorgen um Olivia?
Ja.
Warum?
Komm schon, Nathan. Sie ist in einer schwierigen Lage – du hast sie eingestellt, in der Firma bist du ihr direkter Vorgesetzter. Ich kann nicht glauben, dass das für sie immer nur ein Zuckerschlecken ist.
Aber genau das ist es, was sie antreibt. Es macht sie an.
Weiß irgendwer davon? Hat sie jemanden, mit dem sie reden kann?
Ihren Therapeuten, sagte Nathan. Wenn sie will.
Sie geht ein hohes Risiko ein.
Wir hätten wahrscheinlich beide viel zu verlieren. Du brauchst dir um sie keine Sorgen zu machen.
Aber für Olivia ist es anders, sagte ich. Sie arbeitet für dich. Nicht dass ich irgendeine Ahnung von deiner Firma hätte. Was macht sie eigentlich genau?
Sie kümmert sich um die gemeinnützigen Spenden, sagte Nathan.
Ach so, ja, die Spenden … Was heißt das?
Du weißt, was es heißt. Tu nicht so, als wären wir korrupt. Abgesehen davon, sagte Nathan seufzend, sind wir das natürlich, aber nicht korrupter als alle anderen. Was spricht dagegen, dass sie ihren Beitrag für eine bessere Welt leistet? Sie ist jung und findet bei ein paar sehr einflussreichen Leuten Gehör. Sie ist erstaunlich gut, denn sie hat die richtige Einstellung. Leidenschaftlich und demütig zugleich.
Wie heißt die Familie noch? Für die du arbeitest?
Nathan lächelte mich an. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Antwort selbst herauszufinden, ich hätte einfach nur seine Brieftasche aufklappen und seinen Nachnamen lesen müssen. Aber Nathan gab nie irgendwelche Informationen preis, und ein Teil von mir zog es vor, unwissend zu bleiben.
Weißt du, das Ganze war Olivias Idee, sagte Nathan. Kurz nachdem sie bei mir angefangen hatte. Sie wollte, dass zwischen uns was passiert.
Trotzdem. Ist diese Heimlichtuerei nicht anstrengend? Ich meine, ihr könnt das nicht ewig für euch behalten. Außerdem glaube ich kaum, dass sie …
Ist ein bisschen Heimlichtuerei nicht schön? Auf der Hut sein zu müssen? Muss denn alles langweilig und durchschaubar sein?
Ich hielt meine Zigarette über sein Glas und aschte hinein.
Olivia will es so, sagte Nathan. Ich kann nichts dafür. Ich weiß, du hältst mich für ein Arschloch, aber ich bin kein … Nein, im Ernst! Ich bin kein Sadist. Olivia will es so.
Er lächelte mich gewinnend an, eine Hand am Ellbogen und in der anderen die Zigarette. Mit ihm zu plaudern und mir einzubilden, wir wären zwei besorgte, um Olivias Wohlergehen bemühte Freunde, beruhigte mich. Hoffte ich, es würde mich von jeder Verantwortung entbinden? Trug ich ihr gegenüber überhaupt eine Verantwortung? Immerhin hatte ich die beiden, Nathan hatte es selbst gesagt, gerade erst kennengelernt. Was die Leute über sich behaupteten, nahm ich praktisch immer für bare Münze; vielleicht aus Bequemlichkeit redete ich mir ein, die Menschen verstehen zu wollen wäre naiv und anmaßend. Was wusste ich schon über Olivias Leben? Ich hatte keine Ahnung, was sie tat, wenn sie allein war, was sie wollte, wer sie vor Nathan gewesen war oder was sie nach ihm sein würde. Sie wiederum wussten nichts über mein Leben, über Romi und meinen Vorsatz, ein besserer Mensch zu sein.
Olivia ist zäh, sagte Nathan. Versprochen. Sie ist unverwüstlich. Sie wirkt schüchtern, aber sie hat alles unter Kontrolle.
Was hast du gesagt?, fragte Olivia, die plötzlich auch im Wohnzimmer stand.
Ach, wir haben uns nur darüber unterhalten, wie zäh du bist, sagte Nathan. Bist du doch, oder?
Olivia setzte sich aufs Sofa und zog die Beine in den blickdichten Strümpfen unter sich. Sie hielt ein Wasserglas in der Hand.
Eve glaubt, du magst sie nicht, sagte Nathan. Weil du so zurückhaltend bist.
Das habe ich nie …
Stopp!, sagte Olivia, als machten wir es damit nur noch schlimmer. Nein, nein. Ich mag dich sehr. Oder, Nathan?
Ja, sagte Nathan. Wir beide mögen dich sehr.
* * *
Im Verlauf des Dezembers wurde ich mit jedem Treffen neidischer auf Olivia. Zwei Monate vorher war es ihr endlich gelungen, Nathan zu verführen. Ich wusste, ich kannte nur die aufregendsten, verstörendsten Ausläufer ihrer Beziehung, trotzdem fühlte es sich an, als entwickelte sie sich vor meinen Augen. Die besondere Fülle der Erfahrungen, die Olivia in diesen Wochen und mit mir als Zeugin machte, das berauschende, leidenschaftliche Ausmaß des Ganzen schimmerte an ihr wie ein Kleid oder eine Lackschicht. Im Verborgenen hatte sich ihr ganzes Leben verändert. Offensichtlich hatte sie bis dahin mit den üblichen Ängsten und Freuden vor sich hin gelebt, aber dann war sie Nathan endlich so nahegekommen, wie sie es sich in ihren Zwanzigern erträumt hatte, und fand sich nun auf einer märchenhaften Orgie wieder: Nathan fickte sie sechs oder acht Stunden am Stück, lud sie ein, ihm zuzusehen, wenn er sich mit anderen Frauen vergnügte, und verwandelte ihren Arbeitsplatz in eine ebenso fremde wie bezaubernde sexuelle Landschaft. Für sie war es Liebe und ging tiefer als jedes Verbot. Auf seinem Sofatisch stapelten sich Bücher, deren Zwillingsausgaben Olivia mit sich herumtrug – sie lasen gemeinsam. Nach dem Sex schaute ich zu, wie sie halb nackt und mit der vorwurfsvollen, stoischen Gelassenheit von Geschwistern darum zankten, welchen der Schokoriegel aus Nathans Vorrat sie essen würden, und wie sie ihn anschließend direkt aus der Verpackung teilten. Er war überaus erfahren, aber sie schaffte es, nicht nur mit ihm zu schlafen, sondern ihn zu beschäftigen; sie brachte ihn zum Staunen. Es war, als wäre sie gerade sechzehn geworden und hätte ihre gesamten Kräfte auf einmal erhalten oder als wäre sie in einen Geheimbund aufgenommen worden, von dessen Existenz sie immer schon etwas geahnt hatte.
Ihr Glanz, der nur auf Nathan zurückging, war das, was mich anfänglich zu ihm hinzog. Mein Interesse an ihm war ebenso abstoßend wie faszinierend. Er war Mitte dreißig, aber sein Gesicht kam mir jungenhaft und vertraut vor; man konnte es überall in der Stadt sehen, es war das Gesicht junger Männer beim Besteigen eines Taxis. Er trug stets Anzug und nie Krawatte. Das Attraktivste an ihm war seine starke, feste Stimme, die sein ganzes Charisma offenbarte. Bevor er eine Frage beantwortete, nahm er sich kurz Zeit zum Nachdenken und sprach dann schnell und mit wachsendem Nachdruck. Wenn er einen Gedanken zu Ende geführt hatte, erschien seine Logik bezwingend, und mich beschlich das Gefühl, es wäre naiv, seine Worte infrage zu stellen.
Obwohl ich wusste, dass er in mir nicht dieselbe Ehrfurcht auslösen würde wie in Olivia, spürte ich in seiner Nähe so etwas wie Hoffnung. Möglicherweise war ich Olivia ähnlicher, als ich glaubte; vielleicht würde auch ich erweckt und in einen hedonistischen Lebensstil hineingezogen werden, der mich einschüchtern und völlig in Beschlag nehmen würde. Hatte ich nicht dasselbe von Romi verlangt, hatte ich mir nicht ihre Stärke und Ernsthaftigkeit aneignen wollen? Nach einem Treffen mit den beiden dachte ich tagelang über unsere Gespräche nach, über den Rhythmus und die Einzelheiten unserer Körper, über die Blicke, die sie in meinem Beisein ausgetauscht, über den Tonfall, in dem sie mir eine gute Nacht gewünscht hatten.
Dass ich eifersüchtig sein würde, hätte mir nach dem ersten Sex klar sein müssen. Als Nathan mich küsste – ohne jede Vorwarnung, wie es seine Art war –, wallte ein Triumphgefühl in mir auf. Während ich leicht angetrunken in Nathans weitläufiger Wohnung zwischen halb leeren Gläsern und doppelten Ausgaben von Bad New Days und The Art Fair saß, begriff ich, dass ich in ihrem System der Intimität nur als das Neue bestehen konnte. Mir wurde glasklar, dass sie mich, falls sie mich überhaupt mochten, wie ein formvollendetes Objekt behandeln würden – das beste Mädchen in der Reihe. Meine Gier war üppig und schwer. Anscheinend führten sie ein Leben, wie es angesichts meiner Zugeständnisse an die Heterosexualität, den Kapitalismus und diese monströse Stadt auch mir zugestanden hätte – ein Leben voller Abenteuer, Romantik, Schönheit und Vergnügen.
An dem Abend pendelte Nathan, es war jetzt schon Routine, zwischen Olivia und mir wie zwischen zwei benachbarten Inseln. Im warmen Licht seiner Aufmerksamkeit wurde mir schwummrig. War es uns denn unmöglich, in diesem Raum zu sein und den bitteren zwanghaften Wunsch nach männlichem Begehren zu überwinden? Olivia und ich hatten uns zu zweit getroffen und, wie ich glaubte, auch gemocht. Doch der Drang, Nathan zu beeindrucken, war so groß, dass er sich nicht intellektuell fassen oder durch Gedankenspiele unter Kontrolle bringen ließ. Zu später Stunde und in seiner Wohnung war Nathan durchaus in der Lage, unseren Wert zu bestimmen.
Ich konnte nicht anders, als mir seiner auf eine schmerzliche, köstliche Weise bewusst zu bleiben – wo er hinsah, wie er sich bewegte. Wenn er sich Olivia zuwandte, wurde ich erregt und ungeduldig. Ich war neidisch auf beide. Manchmal wurde mein Neid von meiner Unsicherheit verdrängt; dann wusste ich nicht mehr, welche Position ich während des Wartens auf ein einladendes Zeichen einnehmen sollte. Dann wiederum wartete ich nie lange. In unseren Nächten zu dritt fickte er Olivia nie vor meinen Augen; er küsste und zerzauste sie ein bisschen, drehte sich zu mir um, entkleidete mich binnen zwanzig Sekunden und drückte mich aufs Sofa. Sobald er über mir war, nahm ich nichts mehr wahr als sein Gewicht und die Temperatur des Zimmers, die wunde Kälte überall dort, wo er mich nicht berührte.
Erst danach fiel mir wieder ein, dass ich eigentlich Olivia gewollt hatte. Olivia, die Frau, mit der ich mich ursprünglich getroffen hatte. Warum sie? Sie schaffte es, ihre Unschuld vorzuführen und gleichzeitig ihre ausgeprägte eigensinnige Sexualität. Ich wollte sie erforschen, ich wollte sie flachlegen und zärtlich dabei sein.
Während ich nackt auf dem Rücken lag, kauerte sie auf der Sofakante, immer noch in Samtrock und Satin-BH. Sie hatte nur die Bluse abgelegt und sah aus wie ein Teenager, der sich zum ersten Mal vor seinem Schwarm auszieht. Die Hälfte ihrer Haare war aus dem Zopf gerutscht.
Hast du keine Lust?, fragte ich schließlich. Ich sah sie an und wurde plötzlich verlegen.
Olivia versteckte ihr Gesicht in der Haarwolke.
Sie ist nur schüchtern, sagte Nathan, und sie ließ sich in seine Arme sinken.
Alles in Ordnung?
Ja, absolut, sagte Nathan.
Ja, sagte Olivia.
Willst du eine rauchen?, fragte Nathan.
Klar, sagte ich. Olivia?
O nein, sagte sie. Ich rauche nicht.
Sorry.
Nein, nein, macht nur, sagte sie und fing an, sich die Bluse wieder anzuziehen. Ich weiß, es ist albern, aber ich … ich habe keine guten Erfahrungen damit gemacht.
Wirklich?
Und deswegen rauche ich nicht, sagte Olivia wie zur Entschuldigung. Aber bitte, macht ruhig.
Sie richtete ihre Strümpfe und verließ das Wohnzimmer.
Nein, nein, sagte ich, obwohl nur noch Nathan mich hören konnte.
Er stellte sich in Boxershorts ans Fenster, zündete zwei Zigaretten an und sagte: Liv stört das nicht.
Aber es ist nicht richtig, sagte ich. Anscheinend hat sie was dagegen, dass du rauchst.
Aber noch während ich das sagte, merkte ich, dass Olivias Abwesenheit mir und Nathan einen kurzen Moment der Intimität bescherte, der mir den Rest des Abends versüßen würde.
Sie ist nicht sauer, sagte Nathan. Sie muss sich einfach nur dran gewöhnen.
Habe ich was falsch gemacht?
Nein, nein. Sie sieht gerne zu, sagte Nathan.
Ich stellte mich zu ihm ans Fenster.
Sicher?
Sie ist eine ziemliche Masochistin, sagte er.
Ich glaube, sie hat was gegen mich.
Sie probiert sich aus.
Obwohl ich wusste, dass ich mich genauso ausprobierte wie Olivia, ärgerte ich mich: Ich war nicht selbstbewusst, nicht unempfindlich genug, um als Testperson herzuhalten.
Also, wie ist das nun mit euch?, fragte ich. Komm, erzähl es mir. Ihr seid nicht richtig zusammen, oder?
Wir stehen uns sehr nah, sagte Nathan.
Aber es sind keine Gefühle im Spiel?
Doch, natürlich, sagte Nathan, als hätte ich einen dummen Witz gemacht. Ich bete sie an. Sie ist ein liebes Mädchen.
Als er fertig geraucht hatte, drückte er die Zigarette aus, legte sich wieder aufs Sofa und bedeutete mir mit dem gekrümmten Zeigefinger, zu ihm zu kommen.
Ich bete sie an, sie ist ein liebes Mädchen – als wäre sie seine Nichte oder eine Praktikantin, die zu ficken er sich herabgelassen hatte; eine Bekannte, die er leidlich charmant fand, aber nicht ganz ernst nahm. Ich wusste, Nathan sagte die Wahrheit, aber irgendwie wählte er seine Worte so, dass sie ehrlich waren und ihm gleichzeitig erlaubten, Nähe zu mir herzustellen, sobald Olivia den Raum verließ.
Bist du sicher? Es stört sie nicht, dass wir miteinander schlafen, während sie nebenan ist?
Es gefällt ihr.
Wirklich?
Weißt du, nachdem du letztes Wochenende gegangen bist, habe ich sie drei oder vier Stunden lang gefickt.
Wenn er von Olivia sprach, sagte er immer, er habe sie gefickt, nie, dass sie gefickt oder miteinander geschlafen hätten.
Ach, du hast sie tatsächlich gefickt?, fragte ich. Wirklich? So langsam glaube ich, das ist nur eine Geschichte, die du erzählst.
Nathan lächelte. Sie wird sich schon noch an dich gewöhnen, sagte er.
Du hast sie also gefickt …
… und wir haben über dich geredet. Du weißt schon – was du magst, wie es ist, dich zu ficken, wie gut es mir gefällt.
Währenddessen?
Ja. Sie liebt es, so was zu hören.
Was liebt sie noch?
Du meinst, worauf sie steht?
Wenn ich dabei bin, ist sie immer so still.
Nathan lachte. Ich würde sagen, am liebsten mag Liv … die Faust im Samthandschuh. Sie will sich unterwerfen, sie will dominiert werden, aber auf eine absolut intime und innige Weise.
Ich kann verstehen, warum sie mich nicht mag.
Sie mag dich. Nur eben nicht so, wie du es gerne hättest.
Sie will keinen Sex mit mir!
Olivia sieht dir gern zu, weil sie ihre eigene Unzulänglichkeit spüren will, sagte Nathan. Die schmerzhafte Wahrheit über sich selbst. Über ihr Aussehen.
Aber sie ist wunderschön!
Nathan legte lächelnd den Kopf schief, als wollte er sagen: Was soll man da machen?
Er wackelte abermals mit dem Finger, und ich ging zu ihm. Wenn wir allein waren, schien ich mich selbst, die Welt der Frauen und die Landschaft meines Lebens zu vergessen. Der Sex verlangte mir nichts ab, ich tauchte einfach unter. Ich war ein Geschenk, das er entgegennahm.
Nach einer Dreiviertelstunde stand Nathan vom Sofa auf, entschuldigte sich lächelnd und erklärte, Olivia wolle nun von ihm in den Schlaf gefickt werden. Im ersten Moment war ich kleinlicherweise angeekelt. Wahrscheinlich hätte ich etwas Ähnliches gefühlt, hätte eine Freundin mir erzählt, sie habe die ganze Nacht vor dem Haus ihres Ex gewartet oder ihm betrunken eine Szene gemacht, irgendetwas so Hilfloses und Mitleiderregendes, dass es mir im Herzen wehtat. Was sollte das überhaupt heißen, in den Schlaf gefickt werden? Musste sie sich körperlich verausgaben, um müde genug zum Einschlafen zu sein? Hing sie so sehr an ihm, dass sie sich nur in seinen Armen entspannen konnte?
Während ich zuschaute, wie Nathan in dem Flügel der Wohnung verschwand, wo Olivia auf ihn wartete, wurde mir die Tiefe ihrer Intimität bewusst. Ihre Beziehung ließ zu, dass Olivia im Bett auf ihn wartete, während er mit mir auf dem Sofa lag. Nathan war bei mir gewesen, im Wohnzimmer, aber paradoxerweise schien es nun so, als hätte sich noch nie jemand so gut um mich gekümmert wie er sich um Olivia. Niemand war am Ende eines langen Tages, ungeachtet der eigenen Sorgen und Pflichten und unabhängig davon, dass er am nächsten Morgen früh rausmusste, so um meinen Schlaf und mein Wohlergehen bemüht gewesen. Wenn ich bei ihnen war, vergaß ich Romi komplett; es war mir unmöglich, die Existenz von Nathan und Romi gleichzeitig zu erfassen, im selben Gedanken. Was bei Nathan wie eine monumentale und selbstlose Leistung aussah – die Rückkehr zu seiner Partnerin in den frühen Morgenstunden –, hätte ich Romi als unverständliches Desinteresse vorgehalten.
* * *
Obwohl ich es damals nicht zugeben wollte, sehnte ich mich danach, in andere Beziehungen einzubrechen. In meinen Augen schrie die Beziehung von Nathan und Olivia geradezu danach, zerstört zu werden; sie war zu gut und gleichzeitig zu hässlich und unstatthaft. Unmöglich, dass sie reich, attraktiv, erfolgreich, geschmackvoll, belesen und Stammgäste in Bars waren, wo Jazzsängerinnen im Meerjungfrauenkostüm auftraten, und trotzdem so eine Beziehung führten – innig und rückhaltlos, beneidenswert und beängstigend, kurz gesagt eine Beziehung, die das Leben verändert und verkompliziert und von der die meisten Menschen nur träumen können.
Aber hätte mir jemand Olivias Platz angeboten, hätte ich abgelehnt. Ihr ganzes Leben gehörte ihm. Er beurteilte ihre Arbeit, legte ihr Gehalt fest, pflegte Umgang mit ihren wenigen Freundinnen und kannte ihre Eltern. Sie gab vor, Zeit zum Malen zu brauchen, und traf kaum jemanden außer ihn. Im Büro entschied er darüber, welche Projekte sie übernahm; im Privatleben, in ihrem Atelier waren es seine Leidenschaft und seine Ruhe, die sie in den kostbaren Zustand der Kreativität versetzten. Diese Regelung war ihre Basis, das lebendige Fundament. Sag mir, dass du mir kein Gehalt zahlst, wenn ich dir nicht den Schwanz lutsche, hörte ich Olivia mehr als einmal zu ihm sagen, und ihre schüchterne Stimme strafte ihre Worte lügen. Ich war viel zu argwöhnisch, um mich dieser Art von Macht zu unterwerfen. Stattdessen fragte ich mich, wenn ich mich hinterher von Nathans erregenden Blicken erholte oder mir wieder einmal Sorgen um Olivia machte, wie ich selbst so mächtig werden könnte. Ich analysierte sogar Nathans Art, sich zu bewegen und zu sprechen. Aber trotz meines Argwohns war ich eifersüchtig auf die beiden. Ich wollte nicht, dass ihre Beziehung auch ohne mich existierte, draußen in der Welt. Ich wollte sie sehen wie in einem Film, ich wollte vor den Konsequenzen und vor der Verantwortung der eigenen Rolle geschützt sein und trotzdem alle dramatischen Wendungen hautnah miterleben.
Manchmal trat ich gedanklich einen Schritt zurück – letztlich war ich einfach nur zu einem Treffen mit einer Frau gegangen, die ich online kennengelernt hatte – und wunderte mich, warum die Beziehung zwischen Olivia und mir zu einem grausamen, bizarren Wettbewerb geworden war. Das war natürlich übertrieben, denn ich war bloß schmückendes Beiwerk, ein Zaungast in ihrem gemeinsamen Leben; doch offenbar hatte die Intensität von Nathans Aufmerksamkeit mein Begehren neu verdrahtet. Durch ihre Beziehung zu Nathan – eine Stärke, der ich nichts entgegenzusetzen hatte – erschien mir Olivia attraktiver als am Anfang, geradezu einschüchternd. Nach einer Weile merkte ich, dass ich eigentlich nicht mit ihr schlafen, sondern wissen wollte, wie es wäre, sie zu sein, so hingerissen war ich von ihrem erblühten Leben.
Ich wollte Nathan nicht begehren oder mich ihm hingeben; ich gab mich nur wegen meines Interesses an Olivia mit ihm ab. Aber seine Aufmerksamkeit war fesselnd, er selbst von Zweifeln oder Angst völlig unbelastet. Ich wollte mir einreden, diese Art von Kontrolle wäre unschön, doch illoyalerweise sehnte ich mich selbst danach. Nach den ersten Wochen mit Nathan und Olivia fragte ich mich, ob ich es nicht immer schon ziemlich anstrengend gefunden hatte, Frauen zu Liebe und Sex zu verführen, egal, wie sehr ich sie begehrte. Am Ende war es demoralisierend. Romantik mit einer Frau setzte voraus, dass ich für mich einstand und darauf vertraute, dass ich geliebt würde, sobald ich bewiesen hatte, wie gut ich mich um sie kümmern würde, wie aufregend ich wäre. Anscheinend beruhten meine Beziehungen darauf, dass ich eine Frau von meinem Wert überzeugen konnte. Und jetzt war es eine Wohltat, mich zu zeigen, und sei es nur meinen Körper. Viele Frauen belastet der Gedanke, ihr Körper könnte für Sex gemacht sein, das hatte ich schon als Jugendliche gewusst und meinen Körper deshalb mit ebenso viel Angst wie Hoffnung betrachtet. Doch bei Nathan spürte ich eine tiefe Erleichterung, denn für ihn war das alles ganz einfach. In seinen Augen hatte mein Körper einen Zweck, eine Natur, zu der er mühelos Zugang fand. Warum hatten meine Freundinnen meinen Körper immer gefürchtet, als könnte er uns beide jeden Moment überrumpeln? In gewisser Hinsicht waren wir dazu erzogen worden, allen Frauenkörpern gegenüber misstrauisch zu sein. Wenn ich mit einer Frau schlief, wurde das Vergnügen von den alten Vorstellungen darüber verzerrt, was eine Frau zu sein hat. Um der Leidenschaft Platz zu machen, mussten wir erst einmal lernen, diese erbarmungslosen Stimmen auszublenden. Doch für Nathan war ich keine unangenehme Erinnerung an den eigenen überfrachteten Körper; nichts an mir schüchterte ihn ein. Er sah mich und wusste, was zu tun war.
Wenn ich unter Nathan lag, wurde mir bewusst, wie sehr die romantischen Unwägbarkeiten mich erschöpft hatten: das Warten, das Hoffen, das Überreden, das Versuchen, selbst der Erfolg. Ich wusste, ich war schwach und hatte kapituliert, aber es fühlte sich so gesund an wie Einschlafen. Wenn klar war, dass Nathan mich in wenigen Stunden ficken würde, war mein treuloser Körper angespannt und aufgekratzt und wusste, er brauchte einfach nur zu warten. Wenn Nathan dann endlich in mich eindrang, war es so tröstlich und neu und befriedigend, dass ich sofort kam.