Читать книгу Große Gefallen - Lillian Fishman - Страница 5
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ОглавлениеIm College half mir ein Trick, mich auf Partys wohlzufühlen: Ich fragte Pärchen – oder Leute, die miteinander schliefen – nach ihrem ersten Mal, als die eine Person die andere verführt hatte. Wie habt ihr es gemerkt?, fragte ich. Ich sah zu gern, wie sie über ihre alten Mutmaßungen lachten, über den erhebenden Augenblick, als sie gemerkt hatten, dass ihre Gefühle erwidert wurden. Sie tauschten verschwörerische Blicke aus und erinnerten sich an das Zeitfenster, in dem Sex – die Erfüllung ihrer heimlichen Sehnsüchte und Hoffnungen – plötzlich zum Greifen nah war, an die Signale, die sie erst abgetan und dann richtig gedeutet hatten. Manche Paare erzählten lange dramatische Geschichten, die entweder ein moralisches Versagen verschleiern oder die Moral der Zuhörerin auf die Probe stellen sollten. Andere gaben unumwunden zu, sie hätten keine zwei Stunden nach dem ersten Kennenlernen miteinander geschlafen. Im Laufe des Erzählens löste sich der verschwörerische Blickkontakt, sie wurden wieder zu zwei getrennten Menschen und erinnerten sich an ihre Einsamkeit, als die Zweifel noch nicht ausgeräumt waren. Die süße Erinnerung war etwas ganz Privates, ein Trost für das alte verunsicherte Ich.
Darüber dachte ich nach, als ich auf meinem Weg zur ersten Verabredung mit Olivia durch Bed-Stuy lief. Über die Frage, woran ich es merken würde. Oder würde sie sich gar nicht stellen, da wir online bereits unser unverblümtes Interesse aneinander bekundet hatten? Doch ich brauchte einen körperlichen Austausch, einen Blick, der uns beiden bestätigte, dass unser zartes Interesse noch vorhanden war. Ich hatte seit Jahren nicht mehr geflirtet.
Als ich die Bar betrat, war sie schon da. Sie saß an einem Ecktisch in ein Taschenbuch vertieft und trug einen langen Rock, der knapp den Boden streifte. Ihr Haar war ein dichter Vorhang. Offenbar hatte sie ein Glas Wasser bestellt und seither ignoriert.
Bevor ich mich setzte, berührte ich sie an der Schulter, woraufhin sie zusammenfuhr. Sie hatte wunderschöne, mit hellen Sommersprossen besprenkelte Haut. Ihre Nase war eine Spur zu breit, was die Haarwolke um ihren Kopf eher widerspenstig als sinnlich wirken ließ. Als sie mich anlächelte, fiel mir zu meiner Beschämung ein, dass auch bei mir die Nase den Gesamteindruck zu verderben drohte. Ich war attraktiv, aber nicht auf die atemberaubende Weise; nicht, solange ich meinen Körper unter Kleidung versteckte.
Ich suchte nach Anzeichen von Enttäuschung in ihrem Gesicht, aber da war nur so etwas wie Verbindlichkeit, als täte es ihr leid, mich nicht früher gesehen zu haben.
Möchtest du etwas trinken?, fragte sie, sobald ich ihr gegenüber Platz genommen hatte. Ein Bier oder etwas anderes?
Noch nicht.
Tut mir leid, sagte Olivia, aber ich weiß nicht mal deinen Namen. Wie heißt du?
Eve.
Sie errötete so heftig wie ein Mädchen in der Mittelstufe. Das hatte ich von der Person, die auf meine Bilder reagiert hatte, nicht erwartet, trotzdem erfüllte es mich mit warmer Zuversicht. Es gab also Hoffnung, dass ich sie einlullen und rumkriegen konnte, und danach würde sie dankbar zu mir aufschauen.
Olivia, sagte ich, ich bin froh, dass du mich angeschrieben hast. Ich war ziemlich überrascht. Wie schön, dich kennenzulernen.
Warum hast du mir geantwortet?, fragte Olivia. Ich … Wahrscheinlich bekommst du jede Menge Nachrichten. Entschuldige.
Bist du auf Komplimente aus?
Nein, nein, sagte Olivia schnell und drückte sich das Buch an die Brust. Sie fing sich wieder und legte es mit den offenen Seiten nach unten auf den Tisch.
Also, du kannst gern eins haben, sagte ich. Deine Haare sind wirklich umwerfend. Das ist mir auf deinem Profil sofort aufgefallen.
Schon gut, aufhören, bitte.
Und deine Nachricht hat mir auch gefallen. So höflich.
Oh, sagte Olivia, und diesmal sah ich tatsächlich so etwas wie Enttäuschung. Sie schämte sich, für ihre Höflichkeit gemocht zu werden.
Was ist denn?, fragte ich. Du weißt doch, wie höflich sie war. Das hat mir gut gefallen.
Schön, sagte sie wenig überzeugt.
Und wahrscheinlich habe ich dir geantwortet, weil du eine Frau bist.
Ihr Blick wanderte zur Tür. Ich fragte mich, ob es ein Fehler gewesen war, sie zu treffen. Ob sie mir irgendwie gefährlich werden konnte oder ob sie nur ein kleines Mädchen mit einer fixen Idee war, das sich völlig unerwartet in dieser Lage wiederfand. An reiner Schüchternheit war ich nicht interessiert. Aus ihrer Nachricht hatte ich geschlossen, dass zumindest ein bisschen Wildheit in ihr steckte.
Ist das … Hast du damit ein Problem?, fragte ich.
Damit, dass du dich lieber von Frauen anschreiben lässt? Nein, natürlich nicht.
Auf welche Sorte Frau stehst du?, fragte ich. Du stehst doch auf Frauen, oder?
Ja.
Auf mich?
Olivia senkte den Blick. Ja, hauchte sie wie ein Mädchen, das ein Bagatelldelikt – Kaugummi unter die Tischplatte kleben – gesteht.
Wirklich?, fragte ich.
Ich will dich nicht kränken, sagte Olivia, auf keinen Fall. Du bist sehr schön. Es ist nur so, dass ich nicht genau weiß, worauf ich stehe. Irgendwie hat sich alles verändert … Ich mache gerade eine merkwürdige Phase durch, sagte sie und klang plötzlich ernst.
Okay, sagte ich. Was für eine merkwürdige Phase?
Das ist schwer zu erklären. Ich rede nicht gerne darüber.
Was hat dich denn früher interessiert?
Keine Ahnung. Kunst, hauptsächlich.
Und jetzt nicht mehr?
Na ja, ich bin Malerin, sagte Olivia und neigte verlegen den Kopf, als wollte sie sich unter einer streichelnden Hand wegducken. Auf einmal fand ich ihre Tics seltsam anziehend – wie sie sich hinter ihrem Haar versteckte, wie ihre Finger nervös auf den Buchrücken trommelten. Vielleicht fand ich ihre Ängstlichkeit so attraktiv, weil sie mich in eine ungewohnt gelassene und selbstsichere Haltung zwang.
Früher hast du dich also für Malerei interessiert, sagte ich, und jetzt für etwas anderes. Vermutlich ist es was Sexuelles?
Olivia nestelte an dem Taschenbuch herum und zuckte die Schultern.
Was ist so merkwürdig an deinem Leben?
Nach einer längeren Pause presste sie entschlossen die Lippen zusammen und sah mich an.
Da ist dieser Mann, mit dem ich schlafe, sagte sie. Wir mochten deine Fotos und dachten uns, du würdest uns vielleicht gern kennenlernen. Uns beide.
Auf einmal überfiel mich dasselbe ungewohnte Gefühl wie am Vortag, als ich das Café verlassen hatte – die Ahnung, mein Leben könnte ein Spektakel vor lauwarmem Publikum sein. Olivias Vorschlag war nicht sonderlich schockierend. Frauen, die Frauen daten, kennen das, es ist ermüdend. Aber weil ich mich möglicherweise nach einer Intrige sehnte, begrüßte ich ihn als zusätzliche aufregende Komplikation, als einen weiteren Faden, den es zu entwirren galt. Immerhin bestätigte er mir, dass sich hinter Olivias schüchternem Auftreten tatsächlich etwas verbarg. Etwas, das längst existierte, potenziell anstößig war und ganz eigenen Regeln gehorchte.
Okay, sagte ich. Was ist daran merkwürdig?
Das kann ich nicht erklären. Du musst ihn kennenlernen.
Warum sollte ich dir vertrauen? Ich meine, wer ist er?
Du musst ihn kennenlernen, sagte Olivia. Er wird dir gefallen.
Olivia, sagte ich, falls das überhaupt dein richtiger Name ist. Du klingst, als wolltest du mich für eine Sekte rekrutieren, merkst du das? Während ich dachte, ich würde mich einfach nur mit einer Frau treffen.
Olivia wurde abermals rot. Wir sind keine Sekte, sagte sie.
Warum habt ihr mir dann nicht gemeinsam eine Nachricht geschickt?
Haben wir doch.
Aha. Aber das habt ihr nicht gesagt.
Eben hast du selbst gesagt, dass du dich lieber von Frauen anschreiben lässt.
Warum ist er nicht hier?
Unsere Beziehung ist ein bisschen kompliziert, sagte Olivia. Wir gehen nicht oft zusammen aus.
Warum nicht?
Ich kann dir das nicht allein erklären. Triffst du dich mit uns? Dieses Wochenende?
Macht ihr das oft?
Nein, natürlich nicht. Ich habe so was noch nie gemacht.
Du hast noch nie eine Frau gefragt, ob sie sich mit dir trifft? Oder noch nie mit einer Frau geschlafen?
Doch, sagte sie und wich meinem Blick aus. Doch, ich war schon mal mit einer Frau zusammen. Mit Frauen, meinte ich.
Dieser Typ könnte sonst wer sein.
Ich weiß, sagte Olivia. Endlich lächelte sie. Ich komme nicht gerade überzeugend rüber, oder? Nathan könnte das viel besser als ich. Er hätte dich in einer Minute überredet.
Wie hat er dich überredet?
O nein, mich brauchte er nicht zu überreden, sagte sie. Das ist eine lange Geschichte.
Na ja, hast du heute noch was vor? Wir könnten uns was zu trinken bestellen, und du erzählst mir die Geschichte.
Nein, tut mir leid. Ich muss los. Aber du solltest am Wochenende wirklich vorbeikommen und ihn kennenlernen.
Du bist diejenige, die ich kennenlernen wollte. Außerdem vertraue ich ihm nicht.
Aber mir kannst du genauso wenig vertrauen.
Stimmt, sagte ich. Aber ich mag, wie du aussiehst. Das reicht doch fürs Erste.
Bist du denn gar nicht neugierig?
Weißt du denn gar nicht, wie gefährlich Männer sind?
Im Ernst, sagte Olivia sanft. Magst du keine Männer, nicht mal ein bisschen?
Du hast für Männer kein Gespür, oder?, hatte Fatima einmal gesagt, als ich mit ihr in einer Hetero-Bar war und mir Drinks ausgeben ließ. Es hatte geklungen, als wäre ich eine Austauschschülerin und sie in ihrem Heimatland. Ja – die Dynamik zwischen Männern und Frauen war mir ein Rätsel. Ich probierte die Männer an und wurde mir der vielen Stellen bewusst, an denen sie mir nicht passten. Als ich das einräumte, sah ich einen Funken Angst in Fatimas Augen. Was ich für Männer empfand, konnte man wohl kaum ein Gespür nennen. Die meisten existierten kaum für mich, ich nahm sie nur undeutlich wahr, als Bekannte oder als Hindernis. Nur manchmal, in der Gegenwart eines Mannes, der Macht ausstrahlte, spürte ich eine Art Schwerelosigkeit; ich wurde weich und nachgiebig, sobald seine Aufmerksamkeit mich auch nur streifte. Aber diese Wahrheit war in meinem Leben so unzulässig, dass ich sie sogar vor mir selbst verleugnete.
Ich weiß nicht, sagte ich zu Olivia. Manche fand ich ganz nett. Aber eigentlich möchte ich das nicht forcieren. Ich bin nicht wirklich drauf aus, sie zu mögen.
Warum hast du die Fotos gepostet, wenn du nicht willst, dass Männer sie sehen?
Ich lachte, um zu überspielen, wie sehr die Bemerkung mich traf.
Ich war hier nicht mit einem Mann verabredet, wiederholte ich.
Nein, sagte Olivia, aber ich glaube wirklich, dass es dir nichts ausmachen würde. Ich glaube sogar, dass du sehr viel Spaß hättest.
Auch das gefiel mir – Olivias Überzeugung. Zum ersten Mal wirkte sie sicher; und wenn nicht sicher, dann wenigstens überlegen. Sie war kurz davor, das Interesse zu verlieren. Sie saß hier, um besagtem Mann einen Gefallen zu tun, nicht, weil sie mich begehrte. Wenn ich sie abwies, würde sie einfach gehen, sie wäre ein bisschen enttäuscht, aber trotzdem der Überzeugung, dass ich etwas verpasste, nicht sie. Das hier war kein Flirt, sondern ein Streit, und ich hatte keinen Grund zu glauben, wir würden uns irgendwann später doch noch in die Arme fallen. Aber noch während ich meine Überflüssigkeit erkannte, wurde mir klar, dass ich sie verführen wollte.
Dann kann ich dich also nicht allein treffen?, fragte ich. Nie?
Wenn du auf unser Angebot zurückkommen möchtest, sagte Olivia, hätten wir am Samstagabend Zeit. In Uptown. Ich schreibe dir die Adresse.
Sie zog ihren Mantel von der Lehne und begann, ihre Sachen einzusammeln. Als sie das zerfledderte Buch einsteckte, sah ich das Cover: Mansfield Park.
Du willst schon gehen?, fragte ich. Das wars?
Sie wirkte so peinlich berührt, dass ich die Frage sofort bereute. Ich war lange nicht so feinfühlig, wie sie es offensichtlich gebraucht hätte. Ehrlich gesagt war ich immer noch ein bisschen beleidigt wegen des Verlaufs, den unser Gespräch genommen hatte.
Tut mir leid, sagte sie wieder. Ich hoffe, wir sehen uns am Wochenende?
Und dann ging sie, mit gesenktem Kopf und wehendem Rock.
* * *
Worauf immer ich gestoßen war – nun, da ich die Grenze erreicht hatte, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich bereit war. Bis zu dem Punkt hatte ich viel Zeit damit verbracht, mir die Dinge auszureden, die ich mochte, um ein anderer, besserer Mensch zu sein. In den vergangenen zehn Jahren hatte ich aus meiner Vorliebe für Frauen ein politisches Bekenntnis zum Lesbischsein gemacht, und statt mich an den Genüssen des Lebens zu erfreuen, schämte ich mich bitterlich für die Nichtigkeiten, die mir früher solchen Spaß gemacht hatten – Charme, harmlose Schwindeleien, Lästern, Eitelkeit, schöne Frauen, gute Tänzerinnen, Taxifahrten und Cafébesuche, Männer, die mir hinterherpfiffen, und Bemerkungen, die mir die Röte ins Gesicht trieben. Und auch Leute, die es schafften, mit etwas »durchzukommen«, selbst jene, die sich das bloß einbildeten, denn ich konnte mich noch sehr gut an das Gefühl erinnern und vermisste es schmerzlich. Ich war überzeugt, Ernsthaftigkeit zu mögen, wenigstens theoretisch, aber eigentlich langweilten mich ernste Menschen. Doch war es nicht meine Pflicht, meinen Teil beizutragen und mich an Regeln zu halten, die meiner Meinung nach die ganze Welt beherzigen sollte?
Mir war bewusst, dass meine Selbstkontrolle nach all den Jahren jederzeit zerbröckeln konnte. Ich hatte es nie zugegeben, aber wenn man mich aus dem Tiefschlaf geweckt und vor die Wahl gestellt hätte, wäre ich nicht in der Lage gewesen, mich zwischen Männern und Frauen zu entscheiden. Das wäre, als sollte man sich zwischen Land und Meer entscheiden. Das eine lag näher, denn die meisten Menschen bevorzugen das entgegengesetzte Geschlecht, obwohl ich Frauen kannte, die andere Frauen für die offensichtlichere Wahl hielten und den Rest der Menschheit für blind. Wenn ich mich nicht zur krassen Außenseiterin machen und das Gute, mit dem ich gesegnet war, nicht aufgeben wollte, müsste ich an Land leben, zusammen mit allen, die ich liebte. Aber die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Jeder, der schon einmal aufs Meer hinausgefahren ist, weiß, dass man es nie ganz vergessen kann. Das Meer liefert den Beweis für die Größe der Welt, das Meer zeigt, wie rund, großartig und monströs sie ist. Es steht für die Feier des Lebens, für Anziehung und Tiefe. Wer wollte darauf verzichten?
So dachte ich über die Wahl zwischen Männern und Frauen. Wahrscheinlich fiel die Entscheidung immer gleich aus, was sonst, die Menschen haben nun mal ihre Vorlieben. Aber manchmal probierte man etwas Neues, nur um nicht zu vergessen, dass man am Leben war. Manchmal brauchte man Sex, um sich daran zu erinnern, dass man die Leute, die man auf der Straße sieht, nicht wirklich kennt. Der Sex versetzt uns abermals in einen Zustand der Ehrfurcht – er offenbart, wie schwierig es ist, jemanden wirklich zu kennen, und wie viel Konzentration und Selbstbetrug nötig sind, um Liebe heraufzubeschwören. Vermutlich könnten die meisten Menschen die Sache so sehen, würde die Bisexualität mit derselben kulturellen Leichtigkeit behandelt wie das Fremdgehen. Über das Fremdgehen hatte immer schon ein stilles Einverständnis geherrscht, es machte ein eintöniges Leben erträglich und verlieh allem, wofür man sich entschieden hatte, einen neuen Glanz. Doch ich wollte weder auf das eine noch auf das andere verzichten, schon gar nicht auf den Glanz! Für den Glanz des Lebens, dachte ich, bräuchte es Unmengen von Beteiligten: Männer, Frauen, Respekt und Respektlosigkeit, Liebe und lustvollen Hass.
Aber ich wusste, dass ich eigentlich etwas anderes wollen sollte. Woher konnte ich wissen, was gut für mich war? Ich hatte immer nur gelernt, was es zu vermeiden galt. Worauf es wirklich ankam, hatte niemand mir je erklärt. Meine Freundinnen und ich waren ohne Religion oder eine vergleichbare Lebensethik aufgewachsen, die unsere Überzeugungen und Wünsche gefiltert hätte, und mit genug Geld, was uns die Angst vor einem zukünftigen Überlebenskampf ersparte. Die Fenster unserer Brooklyner Wohnungen gingen auf Straßen hinaus, wo in den wärmeren Monaten Bäume und Vorgärten leidenschaftslos blühten. Viele von uns arbeiteten in Jobs, von denen sie nicht gerade geträumt hatten, dann wiederum wussten die meisten gar nicht, wovon sie träumen sollten. Das eigene Leben auf den Erwerb von Geld, Besitz oder Status auszurichten kam nicht infrage. Wir lernten, die Liebe zu schätzen, uns aber nicht zu sehr auf sie zu verlassen, denn wir waren in eine Welt der grenzenlosen Freiheiten hineingeboren worden, wo geduldige Treue, wie die Liebe sie erfordert, nicht gedieh. Wir wurden ermutigt, uns große Sorgen um den Zustand der Welt zu machen, gleichzeitig traute uns niemand zu, wirklich Einfluss zu nehmen. Uns wurde ganz allgemein vermittelt, der Abstand zwischen Wünschen und Pflichten habe sich in den letzten Jahrzehnten geschlossen, wobei alle sich einig waren, dass die Abschaffung der Pflicht uns nicht befreite. Vor allem blieb uns der Glaube an Komplexität. Diese Denkweise hatte auch ihre Vorteile; sie hielt uns von den beiden Extremen Dogma und Unwissen fern und schützte uns vor Militarismus ebenso wie davor, auf Schneeballsysteme hereinzufallen. Gleichzeitig rechtfertigte sie eine gewisse Lethargie. Angesichts der moralischen Kompromisse, die jede Entscheidung mit sich brachte, schien es manchmal, als wäre Nichtstun der am wenigsten verwerfliche Weg.
Ich beneidete tiefreligiöse Menschen. Sie lebten nach einem Kodex, der ihnen vorschrieb, was wünschenswert, was gut und was schlecht war. Sie verfügten über einen sicheren Maßstab und hatten Rituale, die den Eindruck erweckten, das Leben unterliege einer zeitlichen Logik: Taufen, Feiertage, Gottesdienste, Andachten, Gebete. Anscheinend strebten sie das Unerreichbare an, doch ihr Scheitern wurde ihnen immer wieder verziehen. Gab es eine bessere Art zu leben? Sich permanent auf ein Ideal hinzubewegen und bis ans Lebensende von diesem Schwung tragen zu lassen?
In meinem Umfeld war niemand gläubig, ganz im Gegenteil galt Religiosität als Kapitulation, als aktive Komplizenschaft mit Strukturen, die den Kapitalismus stützten. Also musste es andere Wege geben, die Illusion einer alles verwaltenden Logik zu erzeugen. Ich hatte eine Schwäche für Uniformen, weil sie ein einzigartiges Pflichtbewusstsein signalisierten, den Glauben an ein Geistesleben jenseits der Eitelkeit (wann immer ich Romi im Krankenhauskittel sah, überkam mich eine Welle der Ehrerbietung). Ich bewunderte alle Aktivistinnen, weil sie eine scheinbar unantastbare Überzeugung gewählt oder gefunden hatten, die ihren Alltag um spezielle Anforderungen herum strukturierte. Doch was war schon so unantastbar, dass ich daran hätte glauben können?
Die Queerness breitete sich in meinem Leben aus wie eine Religion; als ich nach New York kam, merkte ich schnell, dass es hier übergreifende Überzeugungen und Glaubenssysteme gab. Sie verbanden vielleicht nicht alle queeren Menschen, aber doch jene, für die queer zu sein mit einem bestimmten moralischen Bewusstsein einherging. Nun würde ich also endlich erfahren, was für mich gut und wünschenswert war. Stagnation wurde strikt abgelehnt, der Fokus lag auf Dynamik. Wichtig war vor allem, sich selbst immer besser kennenzulernen, damit man irgendwann entscheiden konnte, was man mit seinem Körper und seinem Leben anfangen wollte, wen man lieben wollte und wie, was man fürchten und demzufolge meiden sollte. Selbsterkenntnis war für uns queere Menschen deshalb so relevant, weil wir uns in einem fortdauernden Genesungsprozess befanden, in dem wir das Unterdrückte zutage förderten und alte Glaubenssätze hinterfragten. In einer vorherrschenden Praxis radikaler Toleranz wurde nichts höher geschätzt als Offenheit und Aufrichtigkeit. Zu reden, egal worüber, war grundsätzlich von Nutzen, denn Geheimnisse konnten sich zu beschämenden Wunden entwickeln.
In einem Leben mit vielen Möglichkeiten und wenigen echten Problemen mangelt es trotzdem nicht an Emotionen, man könnte sogar behaupten, dass sich manche Dinge gegen den eigenen Willen im Zentrum des eigenen Lebens festsetzen (obwohl das Gefühl, es geschähe gegen den eigenen Willen, natürlich eine Illusion ist, gäbe es doch kaum einen angenehmeren Ort oder eine angenehmere Zeit). Etwas setzt sich im Zentrum des Lebens fest. Manchmal eine ganz natürliche, wenn auch schmerzhafte Verlusterfahrung, manchmal eine hartnäckige Fixierung auf die eigene Unzulänglichkeit innerhalb dieses weiten angenehmen Lebens mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten. Das Leben weiß, es braucht eine Form; es sucht in Filmen und in anderen Existenzen nach Vorbildern und bildet einen Kern aus, um den herum es kreisen kann. Das Leben hat ein Gespür dafür, auf welcher Bühne seine Protagonistin am authentischsten erscheint.
Und mein Leben kreiste um Sex, entgegen aller Vernunft.