Читать книгу Elmsfeuer - Lilly Hansson - Страница 10

5. Sie fliehen

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»Vielleicht hätte ich doch einfach in meinem Krankenhaus bleiben sollen. Jeder, wirklich jeder meiner Kollegen hat mir dazu geraten. In ein paar Jahren wäre ich Oberarzt geworden, und dann, eines Tages vielleicht sogar Chefarzt. Der Operationssaal hatte mir doch, weiß Gott, genügend Herausforderungen zu bieten.«

Lorna stimmte nicht in Johnnys Klagelied ein. Was hätte sie ihm auch entgegnen sollen? Dass er recht hatte?

Immerhin hatte die Fehlentscheidung, für die er seinen Weggang aus Hamburg hielt, sie beide an diesem Ort zusammengeführt. In der Sanitätsstation eines Schiffes namens Elmsfeuer, das in diesem Moment den stürmischen Nordatlantik kreuzte. Das Ziel hieß Island.

Johnny schlug mit der Faust auf die gepolsterte Liege. Das Metallgestell knirschte. Keiner von ihnen konnte den Vorfall mit Rosina vergessen.

Das Mädchen war doch die gute Seele des Schiffs gewesen. Sie hatte Brovny während der Notoperation ins Leben zurückgeholt. Und nun war ihr eigenes so früh erloschen.

Nach allem, was sie sich vorzustellen vermochten, gehörte Ertrinken zu den grausamsten Arten zu sterben. Johnny war nie ein gläubiger Mensch gewesen. In diesem Augenblick aber hoffte er inständig, dass es auf der anderen Seite jemanden gab, der Rosina mit offenen Armen empfangen hatte.

Es klopfte an der Tür.

Johnny legte eine Packung Mullbinden, die er gemeinsam mit Lorna sortierte, ins Regal. »Herein.«

Mommsen schob seine gebeugte Gestalt durch die Tür. Sein professionelles Lächeln konnte nicht verbergen, wie nahe ihm Rosinas Tod ging. Seine geröteten Augen verrieten, dass er geweint hatte.

»Könnte ich«, begann er, »eine neue Packung Kopfschmerztabletten von Ihnen bekommen?«

»Ist es immer noch nicht besser?«, sagte Lorna besorgt.

»Nicht so richtig. Wenn wir das nächste Mal an Land gehen, werde ich umgehend einen Arzt aufsuchen, versprochen«, entgegnete er, war aber nicht in der Stimmung, über seinen kleinen Scherz zu lachen. Niemand war es. Mommsen ließ sich auf einem der Stühle nieder. In der Hand hielt er eine ungeöffnete Cognacflasche.

»Für von Adler?«, fragte Johnny düster und reichte Mommsen seine Packung Aspirin.

Statt einer Antwort entkorkte Mommsen die Flasche und angelte schweigend drei eingeschweißte Urinbecher aus dem Regal. Als er jeden davon zu einem Viertel mit Cognac befüllt hatte, sagte er: »Auf das Leben…«

Dann tranken sie.

***

Auf dem Vorderdeck stand einsam eine dunkle Gestalt.

Seit Stunden schon starrte Brovny auf das aufgewühlte Meer, in der Hoffnung auf ein Zeichen – ein Zeichen, das ihm verriet, wohin seine kleine Rosina gegangen war. Sein Töchterchen. Der Leitstern seines Lebens. Das Erste, woran er morgens dachte, und das Letzte, bevor er nachts die Augen schloss.

Er war in dritter Generation Maschinist an Bord eines Schiffes. Dort wo er herkam, ging man mit Kindern nicht sonderlich pfleglich um. Es gab schließlich genug davon. Wenn eines starb, war das kein großer Verlust, sondern lediglich ein hungriges Maul weniger. Brovny wusste von früher Kindheit an, was Schmerzen sind. Als Zweijähriger hatte er die Ruhr überstanden. Mit vier hatte ihm sein Vater im Vollrausch die Schädeldecke zertrümmert. Mit dem Schürhaken hatte er auf ihn eingedroschen, als seine Mutter ihm, von Ekel erfüllt, nicht mehr zu Diensten sein wollte. Die Lungenschwindsucht war Brovny danach wie eine Erholungsphase vorgekommen. All das und noch einiges andere hatte er irgendwie überstanden. Aber dies hier?

Dem Schmerz, den es verursachte, wenn einem bei lebendigem Leibe die Seele aus der Brust gerissen wurde, war auch ein Mann wie er nicht gewachsen.

Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb.

Dann begann er zu singen. Eine langsame Melodie, wunderschön und so traurig, dass sie jedem, der sich in diesem Moment in seiner Nähe befunden hätte, das Herz gebrochen hätte.

***

Durch die salzverkrustete Frontscheibe der Brücke sahen Mousson und der Kapitän ihren einbeinigen Maschinisten an der Reling stehen. Der Kapitän hielt eine halb gefüllte Tasse kalten Tees fest in den Händen.

Moussons Kiefer mahlten. Die schwarzen Ränder unter seinen Augen verrieten, dass er in letzter Zeit kaum geschlafen hatte.

»Hm, Captain, können Sie erkennen, was Brovny dort unten tut?

Er wird doch nicht… nein, nicht unser Brovny…« Er hielt inne. »Singen?« Mousson strengte seine Augen an. »Ja. Sie haben recht. Es sieht aus, als würde er singen.« Er nahm seine Mütze ab und legte sie vor sich auf den Kartentisch.

»Was immer dieser Mann gerade ertragen muss, ich bin froh, dass nicht ich es bin. Bei meiner Mutter, jeden Vater auf diesem Erdball würde es zerbrechen, sein Kind zu verlieren, auf diese Weise zu verlieren… aber nicht Brovny… Brovny ist nicht der Mensch, der sich durch irgendetwas brechen ließe… auch nicht durch diese… diese…« Er verstummte.

Der Kapitän wusste auch so, was auszusprechen Mousson sich verbot, aus gutem Grunde verbot. Ein Zittern ging durch seinen Körper, und für einen Moment schloss er die Augen.

»Was ich damit aber keinesfalls sagen will«, fuhr Mousson nach einer Weile fort, »ist, dass der alte Brovny seine kleine Rosina nicht geliebt hat… er hat sie geliebt… und nur Gott weiß, wie sehr.«

Ein mächtiger Brecher traf das Schiff. Gischt schlug zischend gegen die Scheiben. Eine diffuse Erschütterung ließ die Elmsfeuer erbeben.

***

Kreszentia Rausch saß auf ihrer Eckbank und drehte eine gelblasierte Keramiktasse in ihren Händen. Auf dem Boden der Tasse waren eingetrocknete Kakaoreste zu erkennen. Das Herz der Köchin zog sich zusammen.

»Weißt du, kleine Rosina«, begann sie, »es ist nicht mehr dasselbe hier, auf dem Schiff, seitdem du nicht mehr da bist.« Sie machte eine Pause und versuchte, sich Rosinas rundes Kindergesicht vor ihr inneres Auge zu holen. Als es ihr schließlich gelang, musste sie lächeln. Tränen rannen ihr über das Gesicht. »Du hast zwar, wenn wir beide ehrlich sind, nie besonders viel geredet… aber wir haben uns doch trotzdem ganz gut verstanden… oder?«

Als sie keine Antwort erhielt, erhob Kreszentia Rausch sich und ging hinüber zu dem angekokelten Radiogerät auf der Anrichte.

Seltsamerweise lief es seit dem Moment wieder, als es den leichtsinnigen Brovny mit einem kräftigen Stromschlag niedergestreckt hatte. Wieder musste Kreszentia Rausch lächeln.

»Du bist mir doch nicht böse, wenn ich ein bisschen das Radio einschalte, oder? Das heißt ja nicht gleich, dass du mir nicht fehlst. Aber ich merke den Schmerz nicht so, wenn ich um mich herum ein paar Geräusche habe. Du verstehst das schon, hab ich Recht?«

Sie drehte an einem der Knöpfe auf der rechten Seite des Apparats. Ein Knacken erklang, dann ein schwaches Rauschen und schließlich die Stimme eines Sprechers, der sagte: »… der offenbar kurz bevorstehende Ausbruch des Vulkans Grimmwasser auf einer Island vorgelagerten Insel ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil dieser Berg eigentlich schon seit Jahrhunderten als erloschen galt. In Fachkreisen ist höchst umstritten, wie stark die zu erwartende Eruption ausfallen wird.

Evakuierungen finden derzeit lediglich auf der schwach besiedelten Insel selbst statt. Wann das Festland an die Reihe kommt, wird derzeit noch diskutiert. Eine Handvoll Wissenschaftler immerhin warnt vor einer Katastrophe nie geahnten Ausmaßes, für Island, ja sogar für ganz Europa. Die Regierung vor Ort allerdings scheint diese Warnungen nicht ernst zu nehmen.« Der Sprecher legte eine kurze Pause ein. Ein der Situation unangemessen fröhlicher Jingle war zu hören. »In wenigen Minuten haben wir einen Experten für Sie am Telefon, der uns live aus Island zugeschaltet ist. Vor dem Parlament in Reykjavik kommt es bereits zu ersten Protestkundgebungen. Viele Menschen dort sind in großer Sorge.

Zunächst aber hören Sie, von uns für Sie, die isländische Popgruppe

»Fire« mit ihrem derzeitigen Hit »Cold as Ice«.

Kreszentia Rausch drehte den Ton leiser, als die Musik einsetzte.

»Island?«, murmelte sie, »fahren wir da nicht gerade hin?«

Im selben Moment begann das in den Regalen festgezurrte Geschirr lautstark zu vibrieren. Ein Ruck ging durch das Schiff. Kreszentia Rausch bekreuzigte sich.

***

Der Kabinentrakt auf Achtern lag verlassen im matten Schein zweier zuckender Neonlampen, als die Tür zu von Adlers Kabine geöffnet wurde. Mommsen trat schwerfällig auf den Gang hinaus. Das Licht der Neonröhren gab seinem Gesicht einen ungesunden Gelbstich. Er tastete nach dem Messingknauf hinter sich und zog sanft die Tür ins Schloss.

Sein sonst so akkurat geknöpftes Hemd war weit geöffnet, die Krawatte hing lose um den schwitzigen Hals. Das, gegen jede Gepflogenheit, vollständig geöffnete Jacket war zerknittert. Es roch nach Alkohol.

In der Hand hielt Mommsen den zerpflückten Verschluss einer Cognacflasche. Er starrte den Korken fasziniert an, als handle es sich um einen Diamantring. Dann ließ er ihn fallen und taumelte lallend in Richtung Küche davon.

***

»Seebeben sind in diesen Breiten keine Seltenheit, Captain. Das wissen Sie so gut wie ich.« Mousson massierte mit der rechten Hand besorgt seinen faltigen Hals. »Außerdem befinden wir uns schon seit einiger Zeit in isländischen Hoheitsgewässern… wenn also etwas im Anmarsch wäre, von dem Gefahr ausgeht, hätte die Küstenwache uns längst angefunkt und gewarnt. Die isländischen Behörden sind, was das betrifft, ausgesprochen sorgfältig.«

Sie sahen schweigend über die raue See. Der Wellengang war so stark, dass der Bug der Elmsfeuer hin und wieder vollständig im Wasser verschwand.

Bedingungen wie diese waren ganz nach Moussons Geschmack. Männer wie er brauchten einen sichtbareren Gegenüber, dem sie sich entgegenstemmen und an dem sie sich abarbeiten konnten.

»Ein Vulkan meinen Sie? Nein, Captain, das kann ich mir nicht vorstellen. Der Eyjafjallajökull gibt doch schon seit einer ganzen Weile Ruhe.

Der Grimmwasser? Nein. Der erst recht nicht. Der ist seit Jahrhunderten nicht mehr aktiv. Was los wäre, wenn ausgerechnet der wieder anfinge sich zu rühren, will ich mir lieber nicht vorstellen. Dagegen wäre die Erschütterung von vorhin nicht mehr als ein… Furz.« Er wischte sich fahrig über die glänzende Stirn. »Man müsste die gesamte Küste evakuieren. Ach, was rede ich? Die gesamte Insel. Aber…«, er wurde ernst, »selbst alle Vulkane Islands zusammen würden an unserem Kurs nichts ändern… könnten es nicht…«

Der Kapitän schloss die Augen.

»Aber solange wir auf dem Meer keine…« Mousson verstummte. Er griff nach dem Fernglas, das um seinen Hals hing. Seine Miene verfinsterte sich. Er reichte das Glas an den Kapitän weiter. »Sehen Sie mal…« Nach ein paar Sekunden nahm der Kapitän den Feldstecher von den Augen und nickte.

»Diese Lichter sind kein gutes Zeichen…« Mousson schürzte nervös die Lippen. »Das sind die Markierungsleuchten ihrer Boote«, hauchte er.

Der Kapitän tat einen weiteren Blick durch das Fernglas und gab es anschließend Mousson zurück. »Sie verlassen das Festland«, brummte der, »also doch… ein Vulkan, der… Vulkan.«

***

»Anders als die Isländer, haben die Regierungen anderer europäischer Staaten, darunter Deutschland, England und Frankreich, inzwischen auf die Seebeben vor der Küste Islands reagiert und den Schiffsverkehr dorthin bis auf Weiteres eingestellt. Ob und in welchem Maße ein Wiedererwachen des seit Jahrhunderten inaktiven Vulkans Grimmwasser bevorsteht, ist derzeit noch unklar. Wir werden Sie über die aktuellen Veränderungen und Ereignisse selbstverständlich auf dem Laufenden halten. Sie hören Welle…«

Kreszentia Rausch drehte das Radio erneut leiser, als die Nachrichtensendung vorüber war. Nach ausgelassener Musik stand ihr nicht der Sinn. Auf dem Korridor vor der angelehnten Kombüsentür hörte sie Schritte. Dumpf und schwer und dazwischen metallisch spitz. Brovny kam, die Krücke unter dem Arm, in den Raum.

Kreszentia Rausch versuchte ein Lächeln zur Begrüßung. Brovnys Blick fiel auf das leise spielende Radio. In seinen Augen spiegelte sich einen Moment lang Überraschung. Er zog den freien Arm, den er hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, hervor, und Kreszentia Rausch sah, dass er ihr einen kleinen Weltempfänger mitgebracht hatte. Gerührt drehte sie den Kopf zur Seite.

»Habe gedacht, das hier ist kaputt.« Er sah sie schuldbewusst an. »Wollte Ihnen nur das hier bringen… als Ersatz…« Er ging auf den Tisch zu, stellte den Weltempfänger ab und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sein erschöpfter Blick irrte ziellos umher. Wenig später beugte er sich nach vorne und zog die gelbe Tasse, die Kreszentia Rausch dort hatte stehen lassen, zu sich heran. Im selben Moment bereute die, Rosinas Tasse nicht weggeräumt zu haben. Sie ging auf Brovny zu und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Soll ich Ihnen vielleicht einen Tee machen… einen schwarzen…?«

Brovny drehte sich um und sah sie dankbar an: »Haben Sie Wodka?«

»Wodka? Leider nicht. Aber ich kann Ihnen einen sehr guten Kräuterschnaps anbieten…«

»Kräuterschnaps?« Er murmelte etwas auf Russisch, das sie nicht verstand, von dem sie aber ahnte, dass es nicht besonders vornehm war. Und während sie noch überlegte, ob sie ihm sein grobes Benehmen angesichts der furchtbaren Situation, in der er sich befand, nachsehen sollte, blickte er erneut zu ihr auf und brummte: »Einen Kräuterschnaps nehm ich sehr gerne.«

***

Von der Brücke aus war inzwischen auch ohne Fernglas zu erkennen, wie die schlanken Holzboote, in deren Bug matte Laternen schimmerten, sich von der isländischen Küste entfernten. Anders als der Elmsfeuer schien den schmal gebauten Biremen der Seegang nichts auszumachen. Federleicht schwebten sie über der Gischt wie Luftkissenboote. Jeweils drei von ihnen nebeneinander, eine Reihe hinter der anderen, ein endloses Meer aus verzauberten Lichtern. Von denen, die sie steuerten, allerdings war nichts zu sehen. Mousson wusste aber, dass sie es waren, und dass sie sich unsichtbar machen konnten, um frei von irdischer Schwere zu navigieren.

Dass sie ihr Land, in dem sie seit jeher lebten, verließen, war kein gutes Zeichen.

Die beiden Männer im Kommandostand hätten in diesem Moment gerne anders gehandelt, als sie es taten. Tun mussten. Dass dort, wo sie hinfuhren, Verderben wartete, war ihnen bewusst, und es verlangte ihnen alles ab, ihren angeborenen Fluchtreflex niederzuzwingen. Jede Sehne ihres Körpers, jede Nervenfaser war zum Bersten gespannt.

Quälende Schmerzen waren die Folge.

Mousson hielt das Steuerruder fest mit beiden Händen gepackt. Seine Augen suchten mechanisch den Horizont ab. Die Küste Islands konnte nicht mehr weit sein.

Plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Weder er noch der Kapitän hatten es kommen sehen. Ein gewaltiger Schlag erschütterte das Schiff. Papiere, Karten und Instrumentarium schossen durch die Luft. Von der Schockwelle wurde der Kapitän gegen das Steuerruder geworfen.

Die Elmsfeuer, so viel war den beiden erfahrenen Seeleuten klar, musste mit etwas sehr Großem kollidiert sein. Ein Riff oder Felsen konnte es nicht gewesen sein, das hätten die Seekarten ihnen gezeigt. Sie fuhren nicht zum ersten Mal in diesen Gewässern.

Einen endlos langen Moment lag ihr Schiff schräg im Wasser, wie ein Boot, das man an den Strand gezogen hatte. Deutlich war dann zu spüren, dass, was immer es auch war, unter dem Gewicht der Elmsfeuer nachgab. Begleitet von einem dumpfen Brüllen und weiteren, stoßweisen Erschütterungen wurde es unter ihnen von der Strömung fortgerissen. Das Schiff kippte zurück in seine normale Position. Sein Leib ächzte. Der Kapitän rappelte sich verstört vom Boden auf. Mousson versuchte, das Ruder zu bewegen, um sie zurück auf Kurs zu bringen. Doch es rührte sich keinen Zentimeter.

Elmsfeuer

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