Читать книгу Osaka Love. Morden auf Japanisch - Linda Hellinger - Страница 6

Оглавление

P r o l o g

A n n a s A n k u n f t

Ein weißes, mehrstöckiges Gebäude, das hinter in voller Blüte stehenden Kirschbäumen fast verschwand. Erstmalig erbaut unter Toyotomi Hideyoshi und fertiggestellt im Jahre 1583, ungefähr ein Quadratkilometer Grundfläche, umgeben von zwei Burggraben: Das Schloss Osaka.

Wie schön. Anna freute sich darauf. Sie blickte kurz zum Fenster hinaus. Nacht. Sie versuchte wieder, sich auf den Reiseführer zu konzentrieren. Es fiel ihr schwer.

Erneut kamen ihr Gerhards Worte in den Sinn: „Weißt du, auf was du dich da einlässt? Japan ist eine Männergesellschaft, Emanzipation ein Un-Wort! Der Mann ist der Herr im Haus, Ladies-First völlig unbekannt! Frauen dürfen Tee servieren und die Zither spielen. Bist du dazu bereit?“

„Zither spielen?“

Anna hatte ihn nur verwundert angesehen.

Mehrere Wochen lang hatte Gerhard keine Gelegenheit ausgelassen, ihr einen kleinen privaten Vortrag über die japanische Kultur zu halten. Als ob er nicht wüsste, dass sie damit weit vertrauter war als er. Na, uns Frauen wird doch immer ein Wissensmanko unterstellt, ist es nicht so? Also hatte Anna geschwiegen. Er meinte es ja nur gut.

Gerd hatte seine schwarze Brille zurechtgerückt, sich geräuspert und war mit seiner Rede fortgefahren:

„Im heutigen Japan wird zu viel Alkohol getrunken. Neben dem traditionellen Reis- und Pflaumenwein kommen heute noch Bier und Whisky hinzu. Vergiss nicht, Alkohol ist eine Droge. In Japan ist es eng, doch der Alkoholwerbung sind keine Grenzen gesetzt: im Fernsehen, auf Plakaten und Hausfassaden, jedes freie Fleckchen wird genutzt, die Droge zu vermarkten. Auch Schauspieler zeigen sich privat und im Film mit dem Glas in der Hand.“

Schauspieler? Anna erinnerte sich an Bill Murrays Auftritt in Lost in Translation, wie er als Bob Harris während der Dreharbeiten eines Werbespots für eine Whiskymarke völlig verständnislos, den Whisky sinnierend in der Hand drehend, den ihn auf Japanisch anschreienden Regisseur ganz entgeistert anstarrte. In seinem Gesicht war das Gefühl der Fremdheit gegenüber diesem Land geradezu eingemeißelt. Als er nach Drehschluss des Werbespots im Film mit Scarlett Johansson als Charlotte ziellos durch Tokios Nachtbars zog und Charlotte ihn auf eine hauswandhohe Leuchtreklame des abgedrehten Whiskyspots aufmerksam machte, schaute er hoch, als ginge ihn dieser Mann in dieser Stadt nichts an.

Machte Tokio so fremd?

Ach was, das ist doch nur ein Film, dachte Anna. Ach ja, Bill Murray! Sie liebte ihn, sagte sie sich. Ein toller Mann.

„Schon die jungen Büroangestellten werden nach der Arbeit von ihren Chefs zum Trinken angehalten, zur Karaoke mitgenommen und in noch verruchtere Lokale, bis in die Morgenstunden. An Schlaf ist kaum zu denken.“

„Aber hör mal, Gerd“, Anna hatte doch gar nicht vor, als Büroangestellte zu arbeiten. „Ich werde doch …“

„Und bedenke, der junge Angestellte kann nicht nein sagen, das Ganze ist Teil seiner Arbeit und gehört zur japanischen Firmenkultur. Ihm wird nahegelegt, nicht allzu viel Zeit auf die Freunde oder die Freundin zu verschwenden. Die Ehefrauen sehen ihre Männer vielleicht eine Stunde am Tag, mehr ist nicht drin.“

Anna hatte geseufzt. Was hätte sie dazu sagen sollen? Er hätte sie sowieso nicht zu Wort kommen lassen.

„Damit du weißt, welche Gefahren in diesem verruchten und perversen Land auf dich lauern!“, mit diesen Worten hatte Gerhard ihr am Vorabend des Fluges mit dem tiefgehenden Blick eines Psychoanalytikers einen Zeitungsartikel aus dem Jahre 1998 übergeben, sodass sie schon ziemlich sicher war, ihn nicht lesen zu wollen. Er hatte sich geräuspert, seine Brille zurechtgerückt, Anna lange angesehen und sich schließlich zu einem Lächeln gezwungen.

„Hast du Angst, dass ich unter die Räder komme?“, hatte sie ihn gefragt.

„Unter die Räder oder unter die Yakuza.“

„Die japanische Mafia? Ach Quatsch!“

„Sieh dich vor! Dein Uni-Wissen könnte sich in der Praxis als absolut nutzlos erweisen. Ich gebe dir hier etwas Handfestes mit auf den Weg!“

Vielleicht war es sogar der größte Liebesbeweis ihres Kollegen, Geschichtslehrer Gerhard, gewesen, sie auf diese Weise vor den Alltagsgefahren im Fernen Osten warnen zu wollen. Aber hatte er diesmal nicht ein bisschen übertrieben?

Ganz offensichtlich hatte er sie abschrecken wollen, in der Hoffnung, sie würde es sich noch einmal überlegen, als Deutschlehrerin für ein Jahr an die Sprachschule Unica nach Osaka zu gehen. Als wenn sie sich das nicht gut überlegt hätte! Schließlich war sie als Japanologin und Studienrätin für Deutsch geradezu prädestiniert für diesen Job. Gerhard hatte ihr immer Respekt gezollt für das Doppelstudium, das sie absolviert hatte, doch Anna wusste nur zu gut, dass er die Japanologie insgeheim belächelte; für ihn war es nur eine Orchidee, ein seltenes Gewächs, das besser im Glashaus zu halten war. Dass sich dann doch schließlich die Chance bot, die Theorie in der Praxis zu vertiefen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse im realen kulturellen Umfeld aufarbeiten zu können, hatte ihn zutiefst geschockt. Hatte er doch zu früh gelächelt.

Anna schaute mechanisch aus dem Fenster. An der Sicht hatte sich nichts geändert. Ihr Sitznachbar stierte auf seinen im Sitz eingelassenen Videoschirm, auf dem irgendeine grelle japanische TV-Show lief. Sie seufzte und hob den Reiseführer wieder auf Lesehöhe. Wo war sie eigentlich stehen geblieben?

Richtig, das Schloss Osaka. Mehrmals zerstört im Laufe der Geschichte, stark beschädigt durch die Bomben im Zweiten Weltkrieg, wieder aufgebaut 1997 nach dreijähriger Bauzeit. Ob es auch ein Schlossgespenst beherbergte? Anna liebte gruselige Geschichten. Sie war nie in Japan gewesen, wusste aber, dass es dort viele Gespenstergeschichten gab. Anna blätterte die nächste Seite um, sie wollte sich vertraut machen mit ihrem neuen Lebensumfeld.

„Japan ist voll von Bordellen und Stundenhotels, wusstest du das?“ Wieder Gerhards Stimme, die ihre Lektüre unterbrach.

„Das wird nicht an der Universität gelehrt, also hör gut zu: Japaner zeigen sich gerne anders, als sie wirklich sind, sie verkleiden sich gern, da ihre tägliche Arbeits- und Lebenswelt jegliche Phantasie unterbindet. Und Männer lieben Kostüme, besonders Schulmädchen-, Stewardessen oder Krankenschwesteruniformen!“

Jedes Kostüm hatte er mit besonderem Nachdruck genannt, sich von Uniform zu Uniform um eine Nuance gesteigert, um die Verwerflichkeit des Gesagten zu unterstreichen. War das nicht ein rhetorisches Stilmittel?, hatte Anna sich gefragt.

„Diese Kostüme werden auch in Stundenhotels angeboten. Hüte dich davor! Diese Hotels, im Volksmund Love Hotels, nehmen unterschiedlichste Gestalt an: Manche gleichen einer mittelalterlichen Burg, andere sind mit Weihnachtsmännern verziert. Die Zimmer sind unterschiedlich dekoriert und versetzen den Besucher in ferne Länder oder frühere Zeiten. Alle haben sie etwas Traumhaftes, Absurdes, Abartiges. Dort lebt der Japaner seine sexuellen Perversionen aus.“

Anna seufzte schwer.

Der Reiseführer fiel auf ihren Schoß, rutschte zur Seite und auf den Boden, zu Füßen ihres Sitznachbarn. Sie warf ihm einen schüchternen Blick zu. Er löste seinen Blick vom Videobildschirm, tauchte seitlich ab und fischte nach dem Buch. Er hielt es in beiden Händen wie eine heilige Reliquie und überreichte es ihr mit einem komödiantisch anmutenden Lächeln.

Dôzo!“, zischte er hauchend; das Lächeln war inzwischen zu einem maskenhaften Grinsen erstarrt.

Arigatô!“, bedankte sie sich. Ihr Lächeln verrutschte zu einer verlegenen Grimasse. Wenigstens ein steifes Kopfnicken gelang ihr, das er nickend erwiderte. Einen Sekundenbruchteil später heftete sich sein Blick erneut auf dem flimmernden Bildschirm.

Oh je, dachte Anna. Welche Dämonen hatten sie nur geritten, die beschauliche Ruhe einer verbeamteten Deutschlehrerin im wohlstands- und pensionsgesicherten heimischen Land zu verlassen, um dieses Eiland entfesselter Perversionen aufzusuchen? Oder war es genau diese lähmende Sicherheit, das Gefühl, mit der Verbeamtung schon mit dem ganzen Leben abgeschlossen zu haben, die sie zu dem Wagnis geführt hatte, nach neuen Ufern aufzubrechen?

Ach Quatsch, dachte Anna. Zur Japanologie gehört auch das Studium der japanischen Kultur. Ich kann eine Sprache nicht ohne ihren Humus, auf dem sie gewachsen ist, studieren, aber vor allem nicht, ohne Land und Leute kennenzulernen. Und jetzt endlich ist die Gelegenheit dazu da! Anna hatte sich im vergangenen Schuljahr als Klassenlehrerin versucht, zum ersten Mal, und die Klasse ihrer Kollegin Susanne während deren Mutterzeit übernommen. Der Kontakt mit den Schülern war persönlicher, sie fühlte sich weit mehr verantwortlich für ihre Kids, anstatt immer nur kurz in eine Klasse reinzuschnuppern und 50 Minuten später auch schon wieder weg zu sein und sich andeutende Probleme mit dem Verweis auf den Klassenlehrer zu lösen.

Inzwischen war Susanne zurück und hatte ihre Klasse wieder übernommen. Da sie aber in einem Jahr nach Mannheim ziehen würde – berufliche Gründe ihres Mannes trieben die Familie dazu – entschloss sich Anna, in einem Jahr erneut die nette Klasse zu übernehmen und im Übergangsjahr ihren lang gehegten Plan wahr zu machen, Japan endlich vor Ort kennenzulernen. Und mein Gott, sie war erst neunundzwanzig, sie hatte ihr Studium zügig abgeschlossen. Da stand ihr die ganze Welt offen! Bei Gerhard war ja alles Geschichte. Abgelegtes Leben, abgelegte Lust.

Sexuelle Perversionen! Mein Gott, ich kann mir vorstellen, wie er sich daran hochgezogen hat, in der heimlichen Hoffnung, dass mich das abschreckte und ich meine Pläne fallen ließ. Pah! Die verbotenen Orte machen mich erst recht neugierig, dachte Anna und nahm den Reiseführer wieder auf.

Amerikamura, ein Shopping- und Ausgehviertel für junge Leute im Herzen Osakas. Kleine, kunterbunte Geschäfte wechselten sich mit Takoyaki-Buden ab und boten den kreativen Teens und Junggebliebenen der Millionenstadt trendgerechte und ausgeflippte Kleidung.

Richtig! Takoyaki, diese kleinen Teigbällchen mit Oktopusstücken gefüllt, gehörten zu Osakas kulinarischen Versuchungen. Anna war schon ganz gespannt, sie endlich einmal zu probieren.

Sie blätterte ein paar Seiten weiter.

Das Viertel Tobita – alte einstöckige Häuser, zur Vorderseite offen. Im Eingang eine junge Dame sitzend, neben ihr eine ältere, sozusagen die Geschäftsführerin. Tobita – das traditionsgeladene Rotlichtviertel im Süden Osakas.

Ups – das traditionsgeladene was?!!

„Haben Sie noch einen Wunsch?“

Anna schlug prompt das Buch zu.

Die Stewardess blickte sie fragend an.

„Äh …“ Anna schluckte.

„Ja … sehr gern.“ Sie lächelte.

Die Stewardess hatte schwarze Haare, einen nostalgischen Bubischnitt – sie erinnerte Anna an Nena –, eine dunkle, rauchige Stimme. Sicher auch ein Ruhrgebietsgewächs; vielleicht kam sie auch aus Hagen; mein Gott, was für eine furchtbare Stadt, dachte Anna.

„Eine Cola oder einen Orangensaft?“

Ach ja, Nenas männliche, dunkle und rauchige Stimme. Mein Gott, hatte sie schöne schwarze Wimpern, und dazu diese schwarzen Augen. Waren sie wirklich schwarz? Und der Teint – kaum zu sehen, dass sie geschminkt war. Und welches Parfum trug sie? So unaufdringlich, und doch …

„Ein Melonensoda, bitte“, sagte Anna.

„Gern.“

Nena lächelte. „Gut, dass unser Caterer das auf die Liste gesetzt hat, nicht? Ich muss sagen, ich trinke das auch gern. Wunderbar erfrischend, nicht? Das erste Mal habe ich es in meinem Tennisklub getrunken. Ich kann mich noch genau erinnern. Weil unser Platz die gleiche grellgrüne Farbe hatte. Komisch, was man behält, nicht?“

„Ja“, sagte Anna.

Nena wandte sich Annas Sitznachbarn zu, der die Ohrhörer ausgestöpselt hatte. Er sah Nena mit so steil in den Nacken zurückgeworfenem Kopf an, dass Anna dachte, er könnte jeden Augenblick abbrechen.

„Would you like a drink? Scotch?“

Den hatte er vorher schon pausenlos getrunken.

„On the rocks?“

Onegai shimasu!

Es klang wie Ich massakrier dich gleich, ich bin ein Samurai!

Welchen Beruf mochte er wohl ausüben? Gynäkologe!, schoss es Anna durch den Kopf. Mein Gott!

Kashikomarimashita!“, sagte Nena, zwinkerte zu ihr rüber und versorgte das Gynäkologenphantom mit seinem eisgekühlten Stoff aus ihrem Getränkewagen.

Hoffentlich gibt sie ihm nicht zu viele Eiswürfel, sonst gefriert er mir noch auf seinem Sitz, dachte Anna. Unwillkürlich sah sie sich auf einem gynäkologischen Stuhl sitzen, die Beine spreizend und entsetzt seine vor Kälte starren Spinnenfinger sich ihr nähern. Schlagartig zog sich ihr Hals zu und die Luftröhre verschloss sich mit einem hässlichen Kloß.

Sie hustete.

Jetzt hatte sich der Kloß in einen Frosch verwandelt. Wenn sie jetzt sprechen müsste, würde sie quäken. Hoffentlich musste sie jetzt nicht sprechen.

„Ihr Melonensoda hole ich aus der Vorratskabine. Das wird zu selten von den Passagieren geordert, wissen Sie?“

Anna nickte, dankbar, nicht sprechen zu müssen.

Genau in dem Augenblick traf sie Nenas Blick.

„Spielen Sie auch Tennis?“, fragte sie und schob den Getränkewagen weiter.

„Ja“, krächzte Anna und riss hektisch den Reiseführer hoch, um lesend darin zu verschwinden und mit einem Seitenblick befriedigt festzustellen, dass Nena sich inzwischen lächelnd abgewandt hatte, um den nächsten Fluggast zu bedienen – ja, sie spielte Tennis. Ausgerechnet Gerhard hatte sie zum Tennis gebracht. Sie spielte es leidlich und auch nur leidlich gern. Wahrscheinlich, weil Gerhard seine pädagogischen Fähigkeiten auch auf dem Tennisplatz und an ihr beweisen wollte.

„Und hüte dich vor dem Glücksspiel!“, hatte Gerhard sie gewarnt. Anna würde nie den durchdringenden Blick vergessen, mit dem er sie angesehen hatte.

„Allen voran Pachinko! So nennt sich die spezifisch japanische Art des Flipper-Spiels. In Pachinko-Häusern sitzen fast regungslose Japaner stundenlang in bläulichen Zigarettendunst gehüllt nebeneinander und starren gebannt auf die Stahlkugeln der Flippermaschinen, die fortwährend scheppern und rattern. Sie starren gebannt auf die Kugeln, die herunterfallen, als ob sie ihnen das Glück der Erde bescheren würden! Papperlapapp! So ein Unsinn! Süchtig sind sie, nichts weiter!“

Gerhard hatte sich etwas in Rage geredet und plötzlich innegehalten. Nachdem er zweimal durchgeatmet hatte, war er mit ruhiger Stimme fortgefahren:

„Anna, auch hier erkennst du deutlich das Abartige in der japanischen Kultur. Das Land ist voller Versuchungen. Sei stets auf der Hut, dann wirst du ihnen nicht erliegen. Ich warte hier in Frankfurt auf deine Rückkehr. Wir bleiben in Kontakt.“

Nena reichte ihr das Melonensoda. Anna verstaute den Reiseführer in dem Netz unter dem ausziehbaren Klapptisch. Sie trank einen Schluck von der grünen Flüssigkeit. Süß, prickelnd, erfrischend. Fast ein bisschen zu süß.

Gerhard, Frankfurt, Rückkehr – mein Gott, sie war ja noch nicht einmal angekommen!, dachte Anna bestürzt. Wird sie je in diesem mysteriösen, fremden Land ankommen? Und wie wird sie sich fühlen, wenn die Fremde mit ihren unerwarteten Ereignissen und Gefahren auf sie niederprasselt? Wird sie, ein kleines Kügelchen, in eine riesige Pachinko-Maschine geraten und untergehen?

Osaka Love. Morden auf Japanisch

Подняться наверх