Читать книгу Osaka Love. Morden auf Japanisch - Linda Hellinger - Страница 9

Оглавление

K a p i t e l 3

D e r Z w i s c h e n f a l l

Drei Tage später bahnte sich Karen ihren Weg durch Shinsaibashi. Sie schritt zu Fuß durch die dunklen belebten Gassen, Fußgänger mit Regenschirmen sowie im Schneckentempo fahrende Taxis ließen das Vorwärtskommen zur Qual werden. Mehrstöckige, graue Betongebäude fassten die engen Straßen ein, die Autoverkehr nur in jeweils eine Richtung erlaubten. Leuchtreklame rechts und links, Restaurants und Klubs dicht auf dicht. Trotz des Nieselregens standen vor vielen Lokalen Angestellte, um Kunden zu locken: Japanische Damen im traditionellen Kimono und japanische und ausländische Männer in dunklen Anzügen.

„Suchst du einen Job?“, sprach sie plötzlich ein Afrikaner auf Pidginenglisch an.

Er hatte eine furchtbar dunkle Stimme, aber irgendwie hörte sie sich lustig und gutmütig an. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, folglich arbeitete er im Vergnügungsmilieu. Vermutlich führte er Kunden auf Wunsch zu den verschiedensten Etablissements.

Sollte sie einfach weiterlaufen, was sie sonst tat, meistens jedenfalls?

„Tut mir leid, hab was vor“, sagte sie.

„Ich kann dir helfen.“

Karen blieb stehen.

„Mein Bruder ist Manager im Klub Queen. Kannst du tanzen? Ich rede mit ihm. Ich helfe dir.“

Er musterte Karen von Kopf bis Fuß und lächelte ihr wohlwollend zu.

Karen zögerte. Eigentlich konnte sie nicht tanzen, aber das spielte keine Rolle. Es war immer gut, noch einen Kontakt in Reserve zu haben.

„Mein Name ist Mike. Im Queen brauchen sie noch Hostessen. Es ist nicht weit von hier.“

Er deutete in östliche Richtung.

„Keine Sorge, ich will keine Vermittlungsgebühr. Ich stell dich dort vor. Wie heißt du?“

„Scarlett“, antwortete Karen spontan. „Gib mir deine Nummer. Ich muss weiter. Melde mich später bei dir, Mike.“

Er sagte seine Nummer an, und sie speicherte die Ziffern in ihrem Handy.

„Danke.“

Karen nickte ihm zu und hastete weiter.

„He, Scarlett, ruf mich an! Ich helfe dir!“

„Schöne Grüße an deinen Bruder!“, rief sie, bevor sie in der Menschenmenge untertauchte.

Sie lief an einem hell erleuchteten und mit aufreißerischen Plakaten übersäten Informationshäuschen vorbei, das über das gegenwärtige Angebot der Sexindustrie schlaumachte.

Endlich erreichte sie den Friseursalon.

Setto de yoroshii deshô ka?“

Der Friseur blickte sie fragend an. Da viele japanische Wörter der englischen Sprache entlehnt waren, fiel es Karen nicht so schwer, in Japan zu überleben. Setto leitete sich vom Englischen set one’s hai7 ab.

„Setto okay“, antwortete Karen in gebrochenem Japanisch.

Der Friseur führte sie zu einem Stuhl. Mit einem höflichen und ihr längst vertrauten Sho sho o-machi-kudasai – Bitte warten Sie einen Moment reichte er ihr routinemäßig eine Frauenzeitschrift. Dann zog er sich noch einmal kurz zurück.

Karen lächelte amüsiert. Schön, dass sie wie alle anderen auch behandelt wurde. Nur leider war sie nicht in der Lage, Kanji, die Schriftzeichen, zu lesen. Sie blätterte die Zeitschrift durch und betrachtete die Bilder. Auf einem Foto lächelte die Popsängerin Nakashima Mika in die Kamera, darunter war offensichtlich ein Interview abgedruckt. Mika war Karen bereits vertraut, da Nobu ein großer Fan von ihr war und ein riesiges Poster sein Appartement zierte. Sie sah nicht unbedingt gut aus, aber wenn sie sang, dann war sie eine Schönheit.

Aufs Haarewaschen, bei dem der Friseur ihr jedes Mal ein Tuch übers Gesicht legte, was ihr eigentlich nicht so recht einleuchtete, verzichtete sie heute. Es erinnerte sie jedenfalls stark an die Untersuchung bei ihrer japanischen Frauenärztin, die stets zwischen ihnen einen Vorhang zuzog.

Karen ließ sich die Haare mit mehr als zwanzig Klämmerchen hochstecken und mit einer gewaltigen Menge Haarspray festigen. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, denn sie sah umwerfend aus.

Diesmal hatte Karen ein leichteres Kleid angezogen und auch das Make-up verändert.

Wäre doch gelacht, wenn ich keinen Job bekäme, dachte sie. Karen Wilson kennt keine Pechsträhnen.

Nach 20 Uhr betrat Anna ihr Lieblingsinternetcafé in Namba auf der Sennichimaedori, einer achtspurigen Straße im Herzen Osakas. An der Rezeption ließ sie sich eine Nichtraucherbude zuweisen. Durch das Café führten zwei Gänge gesäumt von langen Regalen mit Manga. Am Getränkeautomat drückte Anna kôri nashi – ohne Eis und zog sich ein grellgrünes Melonensoda, ihr Lieblingsgetränk. Der Geschmack war schwer zu definieren, absolut prickelnd vermittelte er sofort das Gefühl eines frischen, natürlich reinen Atems, dabei schmeckte es etwas säuerlich mit einem leichten Zitronengeschmack, dem im Hintergrund Pfefferminz beigemischt war. Gerhards Lieblingsgetränk war der Kaffee. Er hatte sie nach der Schule ins Café eingeladen. Wenn er in sie verliebt war, war er ein miserabler Flirter, denn er ließ sich zwar irgendwie anmerken, dass er in sie verliebt war, aber sprach die ganze Zeit von Kollegenkram und Schulalltag und dass die Bildung den Bach runterging, weil das Gefühl für geschichtliche Zusammenhänge verloren ging und damit ein fragmentiertes Geschichtsbild entstünde, das zwar der Postmoderne geschuldet sei, sich aber ansonsten durch absolute Desorientierung auszeichne. Da könnten auch die ganzen kleinkarierten Ausführungsbestimmungen, die jede Woche entweder ergänzt oder durch neue, den alten widersprechende ersetzt werden, nichts daran ändern, blablabla. Manchmal kam ihr Gerhard wie ein Möchtegernintellektueller vor, der die Ausfahrt zum Leben verpasst hatte. Und trotzdem wurde sie ihn nicht los. In Ermangelung eines Besseren? Tom war vielleicht so einer, ein Kunstmaler aus Düsseldorf. Wenn sie ihn sah, zitterten ihr jedes Mal die Knie. Aber leider zitterten nicht nur ihre Knie, sondern jede Menge andere weibliche Knie auch. Er war ein Liebhaber, der die Sinne raubte, den Verstand stahl und jede Menge aufwühlende Gefühle zurückließ, wenn er das Feld räumte. Er hinterließ ein einziges Chaos, so wie auch die Motive seiner Bilder ein einziges Chaos waren, die nach Erlösung schrien, weil sie vorher aus der tiefsten Sehnsucht geboren waren. Dabei übte Tom eine geheimnisvolle Macht aus, er tauchte genauso unvorhergesehen auf, wie er verschwand, er war ein Naturereignis, der das vollkommene Glück der Frau verhinderte, weil er … Sie stockte. Weil er was? Weil er frei war, gestand sie sich ein. Er war der größte Freigeist, der ihr je begegnet war. Einen größeren Gegensatz zu dem bürgerlichen Postmodernenschreck Gerhard ließ sich nicht denken. Mein Gott, Gerhard, der sie auf so unbeholfene Art und Weise vor Japan warnte. Er warnte nicht sie, weil er Angst um sie in Japan hatte, sondern warnte im Grunde sich, weil er Angst vor Japan hatte. Er wollte Anna nicht an Japan verlieren. Er wollte ihr nicht nachfahren müssen. Denn Lost in Japan würde der Film heißen, der ablief, wenn er hier landete. Er ginge unter in Japan, soviel war sicher.

Wie schwer das Leben war: Mit dem einen Mann, Tom, hatte sie keine Zukunft und mit dem anderen nur Zukunft als permanenten Veränderungsstillstand. Wo war der Typ, der wie sie dem Leben aufgeschlossen entgegenging, sie an die Hand nahm und ganz einfach fragte: „Hey, lass doch mal sehn, was uns passiert, wenn wir gemeinsam losgehen!“

Sie seufzte. Na ja, sie war ja erst zwei Monate in Japan, sie hatte ja noch zehn Monate vor sich. Wer weiß, ob sie nicht im Land des Lächelns noch das Lächeln der befreiten Geliebten fand.

Sie suchte sich ihren Weg zu Bude 21 und schaltete den PC an.

www.aimashô.com war sowohl auf Japanisch als auch auf Englisch verfügbar. Anna wählte Englisch und erstellte sich ein Profil: Alter, Haarfarbe, Hobbys und das Anliegen, das ihre Existenz auf dieser Internetseite rechtfertigte. Seeking bf – Suche boyfriend, tippte Anna entschlossen ein. Sie verwendete die gängigen Abkürzungen, bf oder WF (Western Female), die ihr bereits geläufig waren, da sie schon diverse Zeitschriften auf Anzeigen hin durchstöbert hatte. So, und nun warten wir ab, dachte Anna. Sie war zu konservativ, um einen eigenen Vorstoß zu unternehmen. Männer machten den ersten Schritt, das war schon immer so. Basta. Sie gab ihre Handy-Adresse8 ein. Eventuelle Interessenten würden Anna direkt auf ihr Handy gemeldet werden, wobei die Adresse für andere Teilnehmer unsichtbar bliebe. Alles lief über den Webmaster.

Erleichtert verließ Anna die Bude und zahlte an der Rezeption. Vor dem Internetcafé stand ihr Rad – wie immer im Halteverbot. Besonders in der Innenstadt gab es so gut wie keinen Flecken, der nicht mit einem Schild Fahrräder parken verboten ausgezeichnet war. Mit dem Gefühl, wieder einen Schritt weitergekommen zu sein, schwang sich Anna auf ihr Rad und fuhr in südliche Richtung, vorbei am Kaufhaus Takashimaya und an Namba Parks, einer exklusiven Einkaufsanlage. Sie bog um drei Ecken und stieg vom Rad. Es war längst dunkel, doch Anna war sich sicher, vor dem richtigen Haus zu stehen: Der Ort, an dem Laras Leiche gefunden worden war.

Noch hatte Ayano ihre SMS nicht beantwortet. Meist benötigte sie dazu mehrere Tage. Aber Karen hatte recht. Es konnte nicht schaden, sich den Tatort anzusehen.

Anna klingelte an der Haustür. Nichts. Sie zückte ihr Handy und wählte Ayanos Nummer. Die glockenhelle Stimme der Mailbox forderte sie auf, eine Nachricht zu hinterlassen.

Schade, dachte Anna und schloss ihr Rad ab, um sich die nähere Umgebung anzusehen. Sie war schon einmal hier gewesen – vor dem Mord.

Sie lief hinter das Haus und blickte hinauf zu den Balkonen. Links daneben entdeckte sie das offene Treppenhaus. Den Nachrichtenberichten zufolge war der Mörder vom Treppenhaus auf den Balkon geklettert. Neugierig spähte Anna hinauf. In der Dunkelheit ließ sich allerdings nicht viel ausmachen.

Auf der Straße war niemand zu sehen. Auch am Schrein gegenüber war es ruhig. Der Rund-um-die-Uhr-Laden am Ende der Straße war nicht allzu gut besucht. Sie ging hinein, holte sich einen Joghurt und bog in eine Seitenstraße, die sie zu einer der wenigen Grünflächen der Stadt führte, die einen kleinen Spielplatz mit wenigen Bäumen und viel Sand barg. Es war so ruhig, dass Anna ein Schauer über den Rücken lief. Sie ging rasch weiter, bis sie eine belebte dreispurige Straße mit Restaurants erreichte. Dort klappte sie ihr Handy auf, um die Zeit zu überprüfen: kurz vor 22 Uhr.

Mit knurrendem Magen zog sie sich wieder in eine Seitenstraße zurück, um ihren Joghurt auszulöffeln, da sie wusste, dass ein solches Verhalten nicht gern gesehen wurde. In Japan galt es als unschicklich, auf der Straße und zudem noch stehend zu essen. Aber sie hatte nun einmal Hunger.

Die Passanten trippelten wie Aufziehvögel an ihr vorbei, ohne sie zu beachten, deshalb zuckte sie zusammen, als jemand sie plötzlich ansprach. Schuldbewusst ließ Anna ihren Joghurt sinken.

„Wie bitte?“

Der Japaner, ein Mann mit uniformem Gesichtsausdruck, dessen Alter schwer zu schätzen war – sie tippte auf Mitte vierzig – trat noch näher an sie heran. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.

„Wollen wir etwas trinken gehen? Bier? Oder Shochu9?“

Anna war verwirrt.

„Was meinen Sie? Ich verstehe nicht ganz.“

„Lass uns zusammen etwas machen. Wir gehen etwas essen oder trinken und dann …“

Er berührte Annas Brust.

„Lass uns Liebe machen.“

Anna fuhr zurück. Sie hätte ihn gerne geohrfeigt – stattdessen blieb sie sprachlos und wie angewurzelt stehen.

Tsumetai na – du bist ja eiskalt!“, beklagte sich der Fremde, obwohl er jetzt sogar freundlich lächelte. Nun ja, aufdringliche Herren pflegte Anna nicht gerade mit offenen Armen zu empfangen, das hatte er schon gut erkannt.

„Aber du bist mein Typ“, fuhr er in seinem Singsang fort und zwinkerte ihr zu.

„Verdammt noch mal! Ich bin keine Frau für eine Nacht!“, ging ihn Anna an. „Gehen Sie doch zur Hikkakebashi, zur Aufreißerbrücke, da finden Sie genug Freiwillige! Shinsaibashi ist doch gerade um die Ecke!“

„Ach was.“

Der Fremde winkte ab.

„Die Mädchen dort sind doch langweilig. So eine wie du wäre viel spannender.“

„Ich habe aber an so was kein Interesse!“

„Woran hättest du denn Interesse?“, forschte er weiter.

Jetzt hatte Anna wirklich genug. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte, so schnell sie konnte, die Straße, die sie eben gekommen war, wieder zurück. Sie hatte Angst, er könnte ihr folgen.

Als sie hastig um eine Ecke bog, stieß sie mit jemandem zusammen. Anna schrie auf, taumelte, verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden.

Gomen nasai!”, rief eine nasale Stimme über ihr.

Anna stöhnte und griff sich an die Stirn.

Die Stimme beugte sich zu ihr runter und fragte besorgt:

„Haben Sie sich wehgetan?“

Anna blickte in ein freundlich lächelndes, von langen schwarzen Haaren umrahmtes Frauenantlitz mit sehr harten Zügen.

Anna rieb sich den Kopf und atmete tief durch. „Kein Problem, es geht schon“, sagte sie.

Eine Hand mit rot lackierten Nägeln tätschelte besorgt Annas Kopf. „Sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind? Können Sie aufstehen?“

Anna erhob sich langsam.

Die Frauengestalt trug ein blaues Kleid und lächelte ihr ermutigend zu.

„Wissen Sie was? Wir gehen etwas trinken. Da drüben ist ein Café. Kommen Sie. Das bin ich Ihnen schuldig.“

Anna wehrte ab.

„Ich will Sie nicht aufhalten.“

„Aber nein, aber nein“, beteuerte die nasale Stimme, „ich habe es gewiss nicht eilig.“

„Aber es ist schon spät.“

„Nun seien Sie nicht unhöflich, die Einladung auf eine Tasse grünen Tee können Sie mir nicht abschlagen!“

Das sah Anna ein. Gemeinsam betraten sie das kleine Café auf der anderen Straßenseite. Es musste ungefähr hinter Ayanos Appartementhaus liegen, dachte Anna.

„Ich bin Yurina“, stellte sich die Frauengestalt vor, nachdem sie sich gesetzt hatten.

Die geschminkten Augen blickten Anna warm an und der rote Lippenstift verzog sich zu einem breiten Lächeln. Obwohl die Beleuchtung im Café diffus und schummrig war, sah Anna jetzt, dass die Lady ihr gegenüber keine Frau war.

„Anna“, stellte sie sich zögernd vor, „nett, dich kennen zu lernen.“

„Oh, das ist aber ein schöner Name“, freute sich Yurina und strahlte.

Die Bedienung nahm ihre Bestellung auf. In einer hinteren Ecke des Cafés saß eine ältere Dame und wedelte sich mit einem Fächer kühle Luft zu, obgleich die Klimaanlage den ganzen Raum gehörig kühlte. Neugierig spähte sie zu Annas Tisch. Anna war es gewohnt, als Ausländerin Aufmerksamkeit zu erregen, aber heute trug Yurina sicherlich einen nicht unwesentlichen Teil dazu bei.

Yurina stellte ein paar neugierige Fragen zu Annas Herkunft, die sie zögernd beantwortete. Schließlich nahm Anna all ihren Mut zusammen und sagte:

„Ich habe noch nie jemanden getroffen wie dich. Fällst du unter die Kategorie Transvestit?“

„So ist es, genau so ist es“, frohlockte Yurina. „Ich bin gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit meinen Freundinnen. Wir gehen in einen Host Klub heute Abend. Ich gehe wahnsinnig gerne mit ihnen aus.“

„Host Klub? Das ist das Gegenstück zu den Hostess Klubs und die Klientel besteht aus Frauen, nicht wahr?“

„Genau.“

Der Transvestit nickte.

„Du stehst also auf Männer?“

„Ich bin doch nicht schwul“, sagte Yurina und warf Anna einen tadelnden Blick zu.

„Nein, nein.“

Yurina fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

„Ich trage gerne Frauenkleider, das schon. Aber ich stehe auf Frauen. Zurzeit habe ich keine Freundin. Meine letzte Freundin hatte leider einen kleinen Unfall.“

Yurina machte eine bedauernde Handbewegung.

„Und nun bin ich wieder allein. Na ja, was soll’s. So ist das Leben. Hast du denn einen Freund?“

Anna war inzwischen daran gewöhnt, dass ihr diese Frage oft schon nach drei Minuten gestellt wurde.

„Nein. Eine Freundin hat mir den Rat gegeben, es mit Internetdating zu versuchen.“

„Oh, wie aufregend.“

Yurina strahlte.

„Über’s Netz habe ich auch ein paar Freundinnen kennengelernt“, sagte Yurina. „Die meisten sind Lesben. Wir machen gerne verrückte Dinge zusammen.“

Anna lächelte.

„Wohnst du hier in der Nähe?“

„Nein, nein, außerhalb. Aber hier in Namba habe ich ein zweites Zimmer. Meine Umkleide. Gleich um die Ecke. Ich kam gerade von dort, als ich mit dir zusammenstieß. Ich ziehe mich dort um, weißt du?, dusche mich und schminke mich ein bisschen.“

Angesichts Yurinas dicker Schminke konnte Anna nur mühsam ein Grinsen unterdrücken.

Also wenn sie das richtig mitbekommen hatte, dann war Yurina ein Mann in Frauenkleidern, der sich mit Frauen einließ. Mit Frauen, die keine Männerkleidung trugen, nahm sie an, obwohl sie das eigentlich als typisch japanische Variante eingeschätzt hatte, denn dieses Land schätzte die Masken und Verkleidungen in ganz besonderem Maße, als gelte es zu verhindern, die originäre Persönlichkeit zu zeigen. Der Japaner schien nicht das Verlangen zu haben, sich zu zeigen, wie er war. Die Wahrheit hatte an Bedeutung verloren, schloss Anna für sich, stattdessen stand die gespielte Wahrheit im Rampenlicht, Fiktion statt Faktion, Rollenspiel statt authentisches Ich. Selbst im klassischen No-Theater wurden ursprünglich die Frauenrollen von Männern gespielt.

„Ich zeige dir gerne das Zimmer, wenn du möchtest.“

Das Zimmer? Ach ja. Anna blickte erneut in das üppig geschminkte Gesicht ihres Gegenübers.

Auf der Visitenkarte, die Yurina ihr reichte, stand nur ihr Vorname, ihre Telefonnummer und ihre E-Mail-Adresse. Sicher war Yurina ihr Künstlername für das zweite Gesicht. Aber was war ihr erstes, ihr wahres Gesicht? War es das Gesicht eines Mannes, der wie eine Frau empfand und sich zu den Frauen hingezogen fühlte, der aber keine Frau sein durfte, weil sein Körper als Mann geboren war? War es das Gesicht eines Mannes, der sich den gesellschaftlichen Zwängen unterwarf und nur in den Abendstunden aufblühte und lebte?

„Vielleicht ein andermal“, wehrte Anna ab. „Es ist schon spät. Ich muss los.“

„Okay, gern, dann ein anderes Mal.“

Yurina lächelte. Von innen, maskenfrei. Anna mochte sie.

„Ich habe mich sehr gern mit dir unterhalten“, sagte Yurina.

Anna steckte die Visitenkarte in ihre Tasche. Sie freute sich. Sie war überzeugt, dass es keine routinemäßige Höflichkeitsgeste von Yurina war. Sie würde sie sicher anrufen, denn sie spürte, dass Yurina noch einmal sehr wertvoll für sie sein konnte.

Anna revanchierte sich mit ihrer Visitenkarte und verließ mit Yurina das Café. Sie verabschiedeten sich und Yurina lief die Straße hinunter. Sie drehte sich noch mehrmals um und winkte Anna überschwänglich zu.

Wie angewurzelt war Anna vor dem Café stehen geblieben. Sie blickte Yurina noch nach, als diese schon längst in der Dunkelheit verschwunden war. Ihr war, als hätte die Liebenswürdigkeit dieses zwiespältigen Menschenwesens sie in ihrer anrührenden Art gelähmt – es war das faszinierendste zweite Gesicht, das Anna je gesehen hatte. Das zweite Gesicht, das das erste verbarg und doch eine Liebenswürdigkeit offenlegte, die ihresgleichen suchte. Anna lächelte – und sie begann, Japan zu lieben …

7 = sich frisieren.

8 Selbst gewählte Adresse zum Verschicken von Nachrichten. Mittels Telefonnummer können Nachrichten nur im Netz desselben Mobiltelefonvertreibers versandt werden.

9 Shochu = Schnaps.

Osaka Love. Morden auf Japanisch

Подняться наверх