Читать книгу Osaka Love. Morden auf Japanisch - Linda Hellinger - Страница 8

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K a p i t e l 2

N a c h r i c h t f ür d e n P i a n i s t e n

Spätnachmittag. Annas Handbremsen quietschten so martialisch, dass sich die Fußgänger nach ihr umsahen. Erschrocken sprang sie vom Rad. Gerade noch geschafft, dachte sie. Die Radfahrerin vor ihr hatte urplötzlich und ohne ein Warnsignal ihr Rad gestoppt und beinahe einen Auffahrunfall ausgelöst. Der ganz alltägliche Wahnsinn.

Anna seufzte und blickte schon von Weitem zu Karens Balkon hinauf. Die grünen Blätter der Topfpflanzen ragten über das Geländer. Seit sie sich über Annas Arbeitskollegin Heather kennengelernt hatten, war Karen zu ihrer wichtigsten ausländischen Freundin geworden.

Anna schob ihr Rad auf dem Bürgersteig bis zu dem zehnstöckigen Appartementhaus. Durch eine Glastür betrat sie den Eingangsflur, tippte die 710 – die Nummer von Karens Wohnung – in die Anlage ein und drückte den Klingelknopf.

„Ja, bitte?“

„Anna.“

„Komm rein.“

Die zweite Glastür öffnete sich. Mit dem Aufzug fuhr sie in den sechsten Stock hinauf. Die Wohnungstür stand offen. Im Eingangsbereich zog Anna nach japanischer Sitte die Schuhe aus.

Karen saß in der Wohnküche am Tisch und studierte eine Visitenkarte: Fuji Hisao3 – Abteilungschef in einem Elektronikkonzern, ein aufstrebendes Licht. Laras Stammkunde aus dem alten Klub, der nun ganz offensichtlich Interesse an Karen zeigte. Er wird sich sicher bald bei mir melden, dachte Karen und speicherte Fujis Kontaktdaten auf ihrem Handy. Sie musste auf Nummer sicher gehen.

Als Anna barfuß in die Küche lief, griff Karen gerade zum Kansai Market, einem englischsprachigen Anzeigenblättchen, um die Stellenangebote durchzusehen. Für die ausländischen Arbeitssuchenden gab es hauptsächlich Jobs im Bereich des Sprachunterrichts. English For Kids war absolut in. Hier taten sich jede Menge Arbeitsmöglichkeiten auf. Karen hatte in Japan zunächst als Englischlehrerin gearbeitet, aber bald angefangen, ihr Einkommen aufzubessern, indem sie als Hostess jobbte. Inzwischen hatte sie den Nebenjob zum Hauptberuf gemacht. Die Arbeit als Lehrerin langweilte sie – als Hostess fühlte sie sich wohl. Da konnte sie ihren ganzen Charme spielen lassen und die Männer um den Finger wickeln.

„Ich habe gerade eine telefonische Absage bekommen von dem Klub, bei dem ich gestern vorgesprochen habe. Ich muss unbedingt einen neuen Klub finden, der auf Ausländerinnen spezialisiert ist“, erklärte Karen nörgelig.

Anna nahm sich ein Glas Wasser aus der Leitung, die mit einem Filteraufsatz versehen war und das verchlorte Osakaer Wasser in köstliches Trinkwasser verwandelte.

„Im Kühlschrank steht auch Cola“, brummelte Karen und strich eine Telefonnummer mit dem Rotstift an. „Sehr schön: Ein Klub in Umeda – das ist die Ecke für High-Class-Klubs. Betuchte Klientel, verstehst du?“

Geld war wichtig für Karen. Sehr wichtig. Mit der ihr eigenen Raffinesse war sie bisher sehr erfolgreich gewesen. Dabei verstand sie es geschickt, von den Kunden regelmäßig Geschenke abzustauben.

Anna setzte sich auf das Sofa neben der Balkontür.

„Hast du sie gut gekannt?“, fragte Anna.

„Wen?“

„Na, Lara natürlich. Das ist doch Gesprächsthema Nummer eins in Osaka.“

„Findest du? Ich habe eher den Eindruck, die meisten Leute wissen gar nichts davon. Wen interessiert schon der Mord an einer russischen Hostess? Die Beziehungen zu Russland sind ja seit jeher schon schwierig. Pah, ein Mordopfer aus dem schicken westlichen Ausland bekäme viel mehr Aufmerksamkeit!“

Karen blätterte mechanisch eine Seite um.

„Wir waren nicht befreundet, aber wir haben zusammengearbeitet, gute vier Monate. Sie war klasse als Hostess. Ein Naturtalent.“

„Dann hatte sie sicher auch viele Stammkunden, oder?“, fragte Anna und stützte sich auf der Sofalehne ab.

„Ja, einige. Ich schätze, die kommen jetzt alle als Täter infrage. Die Polizei war übrigens gestern bei mir. So ein Rambo-Glatzkopf mit so einem Typen, der scheinbar nichts anderes zu tun hatte, als zu schweigen. Jetzt wird jeder aus dem Klub befragt, von der Küchenhilfe über die Kolleginnen und Kunden bis zur Mama. Ein hartes Stück Arbeit für die Bullen.“

„Haben sie schon einen Hauptverdächtigen?“

Karen zuckte die Schultern.

„Hast du einen der Kunden in Verdacht?“, hakte Anna nach.

„Ach was“, winkte Karen ab. „Keiner von denen hat es nötig, eine Frau umzubringen. Die können sich von ihrem Geld doch kaufen, was sie wollen.“

„War Lara denn käuflich?“

„Soweit ich weiß, nicht. Aber das weiß natürlich keiner so genau. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass sie die Love Hotel-Viertel ganz gut kannte. Da stellt sich natürlich die Frage, mit wem sie dorthin ging, wenn sie ein eigenes Appartement hatte …“

„Vielleicht mit ihrem Freund? Vielleicht stand sie ja auf Abwechslung“, warf Anna ein. „Und Love Hotels sollen ziemlich aufregend sein …“

„Abwechslung …“, wiederholte Karen nachdenklich, jede Silbe betonend. „Nun, ich finde vielmehr, Love Hotels unterbinden jeden Funken an Kreativität.“

„Wie meinst du das?“

Anna stützte ihren Kopf auf der Handfläche ab und blickte Karen verständnislos an.

„Nun, in Australien lässt du deiner Fantasie freien Lauf – was Ort als auch Zeit betrifft.“

Karen grinste vielsagend.

Sie hatte tatsächlich eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Scarlett Johansson, dachte Anna.

„Ich habe sie einmal zufällig mit diesem Yakuza-Mitglied getroffen“, sagte Karen lang gezogen.

„Wie?! Lara hatte Verbindungen zur Yakuza?“, rief Anna.

„Es gab einen Kunden im Klub, der dem organisierten Verbrechen angehörte. Er war Laras Stammkunde.“

„Aber die Yakuza hat doch selbst ihre Finger im Frauenhandel – ich meine, sie bringen illegal doch jede Menge Ausländerinnen nach Japan.“

„Schon. Aber die Yakuza-Jungs sind auch Kunden in den Klubs. Und Lara sprach fließend Japanisch, sie hatte Charme und Witz. Wie gesagt, sie war ein Naturtalent. Ich habe Lara in der Ecke Tanikyu getroffen, nahe den Love Hotels. Du weißt ja, Osaka ist ein Dorf, ständig trifft man irgendwo ein bekanntes Gesicht.“

„Tanimachikyuchome?“, fragte Anna. „Von Namba aus zwei Stationen mit der U-Bahn, nicht? Da gibt’s Love Hotels?“

„Na klar, direkt neben dem Ikutama-Schrein. Das Viertel dort ist ganz bekannt.“

„Ja, ich weiß“, sagte Anna. „Love Hotels befinden sich oft direkt neben Tempeln oder Schreinen. Japan ist in vielen Dingen sehr widersprüchlich. – Hast du das der Polizei erzählt?“

„Wo die Love Hotels sind, wissen die selbst“, sagte Karen trocken.

„Du weißt schon.“

Anna verdrehte die Augen.

„Ja, ja. Ich habe alles gesagt, was ich weiß. Schließlich will ich, dass der Schuft gefasst wird.“

„Das wünsche ich mir auch. Hast du keine Angst, Karen? Ich meine, vielleicht kennst du den Täter ja – und ohne dass du es willst, wirst du ihm womöglich gefährlich.“

„Ach was, Unkraut vergeht nicht. Mir passiert schon nichts.“

„Es könnte aber auch ein Serientäter sein“, überlegte Anna. „Sei besser vorsichtig.“

Karen strich eine neue Nummer rot an. Nachdenklich nagte sie an der Kappe ihres Filzstiftes. Während sie weiterblätterte, fragte sie:

„Wohnt nicht deine Freundin Ayano im gleichen Appartementhaus wie Lara? Dort, wo die Leiche gefunden wurde? Sie müsste doch mehr mitbekommen haben als wir alle.“

„Das denke ich auch.“

„Warum besuchst du sie nicht mal und siehst dir den Tatort an? Da kannst du eventuell etwas über den Täter erfahren.“

„Genau!“, sagte Anna und sandte spontan eine SMS an Ayano ab. „Willst du nicht mitkommen?“

„Wenn ihr euch außerhalb meiner Arbeitszeit verabredet, gern. Vielleicht gibt es wirklich interessante Neuigkeiten. Schließlich soll der Kerl geschnappt werden, bevor er die nächste abmurkst!“

„Vielleicht war es ja auch eine Frau“, überlegte Anna. „Bei japanischen TV-Krimis ist der Mörder fast immer eine Frau.“

„Keine Ahnung“, sagte Karen tonlos, „ich seh kein japanisches Fernsehen. Die Frau als Mörder? Aha. Im japanischen Alltag sind doch eigentlich Kinder, die ihre Eltern umbringen, total in.“

„Hatte denn Lara Kinder?“, fragte Anna.

„Nein. Richtig. Fallen die also auch schon mal als Täter weg.“

„Sind wir nicht super?“, lachte Anna. „Wenn wir so weitermachen, kommen wir dem Bösewicht eher auf die Schliche als die Polizei.“

Sie trat zu Karen an den Tisch.

„Ich habe mich übrigens nach einem Laptop umgesehen. Ich finde, ich sollte mir endlich das Internet nach Hause holen!“

Karen nickte zustimmend.

„Das ist eine der besten Errungenschaften überhaupt! Im Netz findest du einfach alles. Und wenn du Kontakte suchst, solltest du auf jeden Fall darauf zurückgreifen. Auf diese Weise habe ich hier schon einige Leute kennengelernt.“

„Ja“, seufzte Anna und ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Du hast einen beneidenswert großen Bekanntenkreis.“

„Anzeigen in Zeitschriften funktionieren auch. Hier!“

Karen schob ihr das Anzeigenblättchen hin.

Kansai Market! Du gibst eine Anzeige in einem englischsprachigen Blättchen auf und schreibst, was du suchst – so einfach ist das.“

„Meinst du?“

Anna seufzte.

„Vielleicht sollte ich es wirklich versuchen.“

„Ich gebe dir eine Webadresse von einer Dating-Seite, auf der sich Japaner tummeln, die sich für Ausländerinnen interessieren, und Ausländer, die aus ihrem Gaijin Ghetto4 raus möchten – ideal, sage ich dir!“

„Von Dating war gar nicht die Rede“, protestierte Anna. „Ich möchte einfach nur neue Leute kennenlernen.“

„Sicher?“

Karen warf ihr einen prüfenden Seitenblick zu. Anna errötete leicht.

Karen nippte an ihrer Cola und fuhr unbeirrt fort:

„Du musst dir ein Profil erstellen, alles super einfach, du brauchst nicht einmal ein Foto. Blind Dating.“

Anna war über jeden Tipp froh, den Karen ihr geben konnte. Neue Freunde zu finden, lag ihr besonders am Herzen. Sie brannte darauf, in die fremde Kultur einzutauchen. Es war die Faszination zwischen Widerstand und Anziehung. Schon bei den Mini-Vorträgen, die Gerhard ihr vor der Abreise gehalten hatte, hatte sie diesen prickelnden Widerstreit gespürt.

Karen reichte ihr einen Zettel.

www.aimashô.com“, las Anna laut vor. „Hm, klingt so ziemlich nach allem.“

„Du kannst auch so ziemlich alles haben, wenn du dich dort herumtreibst!“

Karen machte ein vielsagendes Gesicht.

„Aber nimm dich in Acht vor den Stalkern!“

„Stalker? Das habe ich schon öfters gehört. Was ist das genau?“

Karen lachte.

„Das weißt du nicht?! Für mich gehören Stalker schon fast zum Alltag. Wirst du auch noch kennenlernen, wart’s ab.“

Sie musterte Anna mit einem seltsamen Blick.

„Oder auch nicht.“

„Also, was sind Stalker?“

„Stalker sind Männer, die einfach kein Nein akzeptieren können, ständig hinter dir her telefonieren oder sogar vor dem Büro auf dich warten. Sie lassen dir keine Ruhe, verstehst du? Die können dich über Jahre verfolgen. Das macht dich psychisch fertig.“

„Und was tut die Polizei dagegen?“

„Nichts. Oder jedenfalls nicht viel. Meine Stalker konnte ich bisher Gott sei Dank allein abschütteln“, sagte Karen und strich sich stolz das Haar zurück. „Lass mich eben mal einen Anruf erledigen.“

Karen griff nach ihrem Handy – sie besaß keinen Festnetzanschluss – und gab die Kontaktnummer eines Klubs in Umeda ein. Der Mann am anderen Ende der Leitung sprach einigermaßen gut Englisch und bestellte sie für den folgenden Tag um 19 Uhr zur U-Bahnstation Nishi-Umeda. Sie sollte vor dem Cafe Starbucks auf ihn warten.

Freitagnachmittag. Richard trat einen Rundgang durchs Hotel an, um sicher zu gehen, dass alles seine Ordnung hatte. Er liebte das Naniwa Hotel wie sein Kind. Sein Interieur wurde durch Gemälde europäischer Meister bestimmt: Renoir, Rubens und Co. Natürlich durfte Das Frühstück der Ruderer nicht fehlen, das er von der Phillips Collection in Washington gegen eine hohe Leihgebühr für sein Hotel gewinnen konnte; er glaubte sogar, in dem Mädchen, das seitlich vor einem rechts im Bildvordergrund zu sehenden, rittlings auf seinem Stuhl sitzenden Mann mit Strohhut aufmerksam einem jungen Verehrer mit Strickjacke und kastanienbraunen Haaren zuhörte, Ähnlichkeiten mit einer Hostess zu entdecken, die er zwar nur flüchtig gekannt hatte, die aber bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen hatte. Auch das Medusa-Gemälde faszinierte ihn so sehr – er glaubte, darin seine Mutter zu erkennen –, dass er Kontakt mit dem Kunsthistorischen Museum in Wien aufnahm und viel Geld dafür bot, es sich im Frühjahr und Herbst für jeweils einen Monat ausleihen zu können. Das Teuerste an den beiden Gemälden waren freilich die Investitionen für die Sicherheitsvorkehrungen einschließlich eines Wachdienstes rund um die Uhr. Merkwürdig, zwei Frauengestalten eines fiktionalen Mediums, Kunst war immer fiktionales Medium, die analog mit zwei Frauen aus seiner Wirklichkeit korrespondierten: einer Hostess und seiner Mutter, die schon über sechsundneunzig war und nicht sterben konnte. Richards Mutter hatte sich in Wien total zurückgezogen und obwohl er sie immer wieder besuchte, hatte er das Gefühl, als nähme sie ihn gar nicht wahr. Sie sprach ständig von seiner Halbschwester und ihren drei Kindern, als drehte sich alles im Leben nur um sie, bis er schließlich entnervt und verbittert einen Schlussstrich zog und in Japan ein neues Leben anfing. Heute verdämmerte sie in ihrem Fünfzehnzimmerhaus in einem abgedunkelten Raum.

Von seinem Büro im fünfstöckigen Hauptgebäude ging er hinüber in den dreizehnstöckigen Turm, in dem sich die Gästezimmer befanden, und wartete vor den Aufzügen. Ein Zimmermädchen lief an ihm vorbei, das ein Silbertablett mit einem Kaffeegedeck trug und sich vor einem Gast verbeugte, der ihr entgegenkam.

Er fuhr hinauf in den obersten Stock zum Restaurant, das einen wundervollen Blick auf Osaka bot. Vor allem in den Abendstunden war die Aussicht auf die funkelnde Stadt atemberaubend. Er überprüfte die Küche, in der französische Speisen zubereitet wurden. Direkt neben dem Restaurant bot auch die Skylounge, die nur am Abend geöffnet war, einen romantischen Blick auf die Metropole.

Als er den Raum durchquerte, hielt er plötzlich überrascht inne. Auf dem schwarzen Flügel in der Ecke der Lounge lag ein brauner Umschlag. Richard nahm den Umschlag zur Hand. Er war verschlossen und an die Hotelanschrift zu Händen seines slowakischen Barpianisten Jan Straško adressiert. Merkwürdig. Prüfend drehte und wendete er den Umschlag. Er schien eine CD zu beinhalten. Vielleicht die Aufnahme eines seiner Auftritte, überlegte Richard und ließ ihn liegen. Jan würde sowieso bald hier auftauchen.

Der Hotelchef fuhr zurück ins Erdgeschoss. Er lief durch die elegante Lobby und betrat das gut besuchte Café mit Blick auf die Straße und den Bahnhof. Als die Bedienung ihn erkannte, zuckte sie zusammen und grüßte untertänig. Der Respekt, der in Japan einem Chef entgegengebracht wird, kam ihm selbst nach vielen Jahren noch übertrieben vor.

Er kehrte zu den Aufzügen zurück. Der nächste Lift gab die Sicht auf ein sich streitendes junges Paar frei, das nur kurz verstummte, als er hinzutrat, um dann sofort weiterzudiskutieren. Offensichtlich glaubten sie, er verstünde ohnehin nicht ihre Sprache. Doch er hatte in den zehn Jahren, die er schon in Japan lebte, recht gut Japanisch gelernt. Auch die Schriftzeichen zu entziffern, fiel ihm zunehmend leichter. Die Sprache faszinierte ihn, weil sie so höflich war. Sein in Tokio lebender Freund Moritz, der zweisprachig aufgewachsen war, konnte sich extrem höflich ausdrücken, wenn er Japanisch sprach. Auf Deutsch brachte er das nicht annähernd zustande.

Besonders höflich ging es zwischen den beiden jungen Leuten allerdings nicht zu. Sie waren mit der Planung ihrer Hochzeitsfeierlichkeiten beschäftigt. Wie er dem Gespräch entnehmen konnte, waren sie sich in keiner Weise einig. Am meisten ärgerte sich die Braut, dass die Schwiegermutter das Brautkleid nach eigenem Gutdünken auszusuchen gedachte.

Bei der Banketthalle im dritten Stock stiegen sie aus.

Richard kehrte ins Büro zurück und bereitete sich auf den letzten Termin vor, der noch auf der Tagesordnung stand.

Eine Dreiviertelstunde später überquerte er mit seinem Mercedes den südlich von Umeda gelegenen Fluss Dojima und fuhr auf die Halbinsel Nakanoshima, auf der zahlreiche große Firmen, Hotels und Museen anzutreffen waren. Er parkte in der Tiefgarage des Ôsaka Royal Hotels und fuhr mit dem Aufzug in den siebten Stock zur Banketthalle.

Die Aktionärsversammlung schien diesmal weniger gut besucht zu sein. Vorne am Pult thronte Fujiwara, der Präsident des Baukonzerns Nippongumi. Neben ihm saß Toyoda, der Division-Manager der Firma. Er nickte ihm von Weitem zu. In einer Ecke stehend ins Gespräch vertieft entdeckte Richard auch Higashiguchi, den Chef vom Ôsaka Royal.

Es war noch ein wenig Zeit bis zum Beginn der Versammlung.

Richard nahm sich einen Kaffee und trat ans Fenster. Sein Blick wanderte hinunter zum Fluss und hinüber zur viel befahrenen Brücke Oe, unweit derer das Viertel Kitashinchi begann.

Er nippte an seiner Tasse, als Higashiguchi neben ihn trat.

Konnichi wa.“

Richard erwiderte den Gruß.

„Mir ist da zu Ohren gekommen, dass es kürzlich einen Selbstmordvorfall gab“, sagte Higashiguchi.

Richard blickte ihn fragend an.

„Der alte Kônoike hat sich vor die Bahn gelegt.“

Higashiguchi rührte bedächtig seinen grünen Tee um.

„Kônoike?“

Richard versuchte, zu dem Namen eine Verbindung herzustellen.

„Haben Sie nie einen Kaffee bei Kôhi Shop5 Kônoike in Umeda getrunken? Das kann ich mir kaum vorstellen.“

Richard sah zum Fenster hinaus. Natürlich erinnerte er sich an das kleine Kaffeestübchen und den quirligen Endsechziger.

„Einer der wenigen, die den eigenen kleinen Laden noch halten konnten, trotz der wachsenden Konkurrenz der großen Caféketten in Umeda. Wird ja immer alles moderner jetzt. Besonders die Gegend um den JR-Bahnhof hat sich ganz schön gemausert in letzter Zeit.“

Richard sah Higashiguchi nachdenklich an.

„Selbstmord ist nichts Besonderes in Osaka“, sagte Richard, „man kann ja heute nicht die Zeitung aufschlagen, ohne in den Lokalnachrichten nicht wenigstens auf einen Selbstmord zu stoßen.“

„So ist es“, nickte Higashiguchi. „Und es ist bestimmt nur ein Zufall, dass sein Geschäft direkt auf dem Fleckchen Land stand, auf dem jetzt das Konferenzzentrum des Naniwa Hotels entsteht. Sicherlich nur ein ganz gewöhnlicher Zufall.“

Higashiguchi hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.

Richard schwieg. Die versteckten Anspielungen waren einfach zu absurd, um sie durch eine Antwort zu adeln.

Kurz darauf läutete Fujiwara mit einem Glöckchen den Beginn der Versammlung ein.

Nur wenige Stunden später stand Karen eingezwängt in der U-Bahn und las die neue Nachricht auf ihrem Mobiltelefon:

Was macht die Jobsuche? Hast du Zeit für einen Kaffee? Fuji.

Na, sieh mal an, dachte Karen. Laras alter Stammkunde, das aufstrebende Licht. Genauso habe ich mir das vorgestellt. Am besten erst einmal ignorieren und zappeln lassen. Leichte Nervosität ergriff sie, da sie nicht wusste, wie gefährlich er ihr werden konnte. Doch gleichzeitig war da dieses Gefühl von Überlegenheit, das sie Männern gegenüber oft verspürte. Sie würde ihn schon in den Griff kriegen – er war auch nur ein Mensch mit Fehlern und Schwächen.

Sie kicherte.

Karens Stehplatz direkt unter einem Ventilator verschaffte ihr Kühlung – mehr, als ihr lieb war. Bei jeder Drehung traf sie der Luftstrahl unangenehm im Nacken.

Kaum hatte sie die Bahn verlassen, spürte sie schon, wie sich der Schweiß unangenehm auf ihrem Körper ausbreitete. Auf dem Bahnsteig blieb sie kurz stehen und zog ihren Lippenstift nach.

Als sie das Starbucks Punkt sieben erreichte, überlegte sie, ob sie in die klimatisierten Räume flüchten sollte. Sie warf einen Blick auf ihr Handy.

Ich drücke dir die Daumen! Nobu.

Karen lächelte.

„Karen?“

Ein Japaner mittleren Alters stand vor ihr.

„Ja, das bin ich.“

„Bitte kommen Sie.“

Sie folgte dem Mann, der sich als Nakano vorstellte, in ein Café auf der anderen Straßenseite, ein ruhigerer Ort, wo sie sich ungestört unterhalten konnten.

Er hatte etwas Yakuzamäßiges an sich, Kurzhaarschnitt, kalt berechnender Gesichtsausdruck – nicht gerade vertrauenerweckend.

Nachdem er ihr ein paar der für Vorstellungsgespräche üblichen Fragen gestellt hatte, musterte er sie kaltschnäuzig von oben bis unten.

„Sie sind ja fast nicht geschminkt.“

Karen zuckte zusammen. Sie hatte die übliche Menge Make-up aufgetragen und fand es okay.

„Und mit der Frisur können Sie auch nicht bei uns arbeiten.“

Vor Karens innerem Auge tauchten überstylte Japanerinnen auf, die sich allabendlich in die Gassen von Shinsaibashi ergossen. Es gab Friseursalons, die sich aufs Aufstylen spezialisiert hatten und ihre Kundschaft fast vollständig aus dem Milieu von Mizushôbai6 bezogen. Kurz vor Öffnung der Klubs zwischen 20 und 21 Uhr liefen diese Friseurläden auf Hochtouren.

Nakano warf einen abfälligen Blick auf Karens Kleid. Es war wohl zu gediegen.

„Nein, nein, so geht das nicht. Sie müssen viel mädchenhafter wirken. Wir brauchen Frauen, bei denen sich die Gäste entspannen können, Sie sind ja viel zu erwachsen. Wie alt sind Sie eigentlich?“

„Vierundzwanzig“, log Karen.

Gott sei Dank widersprach er nicht.

Nakano schüttelte den Kopf.

„Nein. Mit Ihnen hat das keinen Zweck.“

Karen schluckte.

„Ich muss jetzt weiter. Ich habe nicht so viel Zeit. Sollten Sie es noch in einem anderen Klub versuchen wollen, dann denken Sie daran: Richtiges Styling ist das A und O beim Vorstellungsgespräch.“

Damit beendete er das Interview. Es hatte kaum zehn Minuten gedauert.

Nakano zahlte an der Kasse, dann verließen sie das Café.

Karen bemühte sich, höflich zu bleiben.

„Vielen Dank für das Gespräch“, haspelte sie.

Nakano nickte unwillig, wandte sich ab und überquerte die Straße, ohne ihr einen letzten Blick zuzuwerfen.

„Idiot!“, zischte Karen und blickte ihm nach.

Wütend trat sie nach der Straßenlaterne.

„Scheiße, scheiße, scheiße!“

3 In Japan wird der Nachname dem Vornamen vorangestellt.

4 Gemeint ist ein Freundeskreis, der ausschließlich aus Ausländern besteht. Gaijin = Ausländer.

5 Kôhi bedeutet Kaffee. Ein Kôhi Shop ist ein Café.

6 Wörtlich übersetzt: Wassergewerbe. Bezeichnet das Hostessenmilieu.

Osaka Love. Morden auf Japanisch

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