Читать книгу Ich liebe die Frau, die ich bin - Linda Jarosch - Страница 5
ОглавлениеWas uns geprägt hat
Jede Generation trägt das Erbe der vorhergehenden in sich. Aus vielen Stärken dieser Generation können wir gut leben, andere »Erbstücke« haben sich für ein gutes Leben nicht ausreichend entwickelt. Sie bleiben uns als Aufgabe, sie selbst zu entfalten. Diese Entfaltung gelingt der neuen Generation manchmal in spärlichen und manchmal in gewaltigen Schritten.
Wir Frauen tragen bis heute das Erbe von Jahrtausenden in uns, dass weibliche Lebenskräfte den männlichen untergeordnet wurden. Aus diesem Erbe herauszuwachsen, braucht Generationen. Besonders in den letzten Jahrzehnten wurden kraftvolle Schritte unternommen, dieses Unrecht gegenüber Frauen immer mehr auszugleichen. Aber wir haben noch viel zu tun.
Und es beginnt in uns! Das Bewusstwerden, in welchen Bereichen wir noch in patriarchalischen Denkweisen verhaftet sind, ist eine wesentliche Aufgabe. Denn die lang andauernde Prägung dieser Gesellschaftsform haben wir so verinnerlicht, dass wir es oft gar nicht merken, wenn wir ihr immer noch folgen.
Wir können uns beobachten und uns fragen: »Handle ich hier, weil ich es als Frau für mich stimmig empfinde, oder handle ich, weil jemand das von mir erwartet? Erfülle ich die Erwartung, weil ich es aus freien Stücken will oder weil ich dafür vom anderen auch etwas bekommen möchte?«
Oft ist das bedürftige Kind in uns noch so stark, dass wir dringend nach Anerkennung und Gemochtwerden streben. Wir meinen, dies unbedingt von anderen zu brauchen, weil wir es in uns noch nicht finden. Diese Hoffnung, dass andere uns sehen und wertschätzen, bringt uns leicht dazu, Dinge zu tun, die wir als innerlich freie Frau nie tun würden.
Welche Frau würde sich etwa freiwillig in Schuhe mit hohen Absätzen zwängen, wenn nicht der heimliche Wunsch damit verbunden wäre, dadurch im Blick des Mannes als erotisch anziehende Frau zu gelten? Natürlich kann jede Frau das aus reiner Freude an sich selbst tun, dann kann sie bereit sein, Einengungen in Kauf zu nehmen. Es geht darum zu erkennen, dass wir Frauen bis heute vor allem im modischen Bereich dazu neigen, uns manche Freude vorzugaukeln. In Generationen vor uns wurde den Frauen beispielsweise die Freude an einer Wespentaille vermittelt, die mit der Qual verbunden war, sich in ein enges Korsett zu zwängen. Chinesischen Frauen wurde die Freude an kleinen, verstümmelten Füßen als Schönheitsideal der Männer angepriesen. In der Zeit der bauchfreien Mode sagte mir ein junges Mädchen, dass sie sich damit nicht wirklich gut fühlen würde, aber ohne ihre Anpassung würde sie in der Klasse gehänselt. Es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen Frauen sich dem jeweils geltenden Bild für Schönheit und Weiblichkeit angepasst haben, ohne dabei auf ihr eigenes Wohlgefühl zu achten. Wir schauen sehr oft mit dem Blick der Männer auf uns und richten uns danach, wenn der Blick auf uns selbst nicht liebevoll genug ist.
In den vorhergehenden Generationen haben viele Frauen und Mütter an den entwertenden Haltungen gegenüber weiblichen Lebenskräften zutiefst gelitten. Sie konnten in solch diskriminierenden Verhältnissen oft nur überleben, indem sie sich untergeordnet haben. Viele Frauen hatten keine Möglichkeit aufzubegehren, weil die Konsequenzen zu schwer zu ertragen waren. Die Folge war, dass sie entweder ihre Töchter ermutigt haben, nicht in gleicher Weise zu leiden, oder ihr Leid in vielfacher Weise an sie weitergegeben haben. Dabei wussten sie oft nicht, dass sie sich dadurch mit dem entwertenden System verbunden haben. Die Töchter wurden dann beispielsweise nicht vor dem Missbrauch in der Familie geschützt und nicht gehört. Mütter haben zugelassen, dass die zerstörerischen Kräfte in einem patriarchalischen System ihre Töchter beschädigt haben. Das geschieht auch noch heute. Es beginnt bereits dann, wenn Väter ihre Töchter in ihrer Weiblichkeit durch Worte herabsetzen und die Mütter ihnen nichts entgegensetzen. Viele Frauen lassen die angeblich starken Männer so sein, weil sie wenig Zugang zu ihrer eigenen Stärke haben. Aus diesem System sind viele Mütter bis heute nicht ausgestiegen. Sie können es nicht erkennen oder es fehlen ihnen noch die Kraft und der Mut, sich daraus zu befreien.
Zahlreiche Frauen stehen auch heute in ihren Lebenswünschen immer wieder hinter dem Mann, den Eltern oder den Kindern zurück. Sie trauen sich nicht, sich ihnen als eigener Mensch mit eigenen Bedürfnissen zu zeigen. Meist befürchten sie Bewertungen oder Ablehnung, wenn sie einem bestimmten Frauenbild nicht entsprechen. Sie fügen sich dann in dieses Bild, sind innerlich aber traurig oder im Groll oder werden krank.
In den letzten Jahren haben Frauen auch häufig auf die Defizite weiblicher Sprache hingewiesen. Wir sind so mit der männlich geprägten Sprache verwachsen, dass wir das Fehlen weiblicher Ausdrücke kaum noch spüren. Manche Frauen empfinden diese Achtsamkeit als übertrieben, andere erkennen darin die Notwendigkeit, uns einer weiblich geprägten Sprache bewusster zu werden. Einer in diesem Sinn aufmerksamen Frau fiel in ihrer kirchlichen Gemeinde zunehmend auf, wie stark sich der männliche Einfluss in den Gebeten widerspiegelt. Ihr fehlten die Worte, die auch ein weibliches Bild von Gott zeichneten. Sie meinte, wenn einmal ausschließlich weiblich geprägte Ausdrücke in einem Gottesdienst zur Sprache kämen, würde den Männern die Einseitigkeit bewusster werden. Das mag für viele Frauen nicht wichtig sein, aber das Hinterfragen bestehender Verhältnisse ist immer wichtig, wenn es uns zu mehr Bewusstsein darüber führt, ob sie für uns Frauen noch stimmig sind.
Die Auswirkungen einer patriarchalischen Gesellschaft sind noch in vielen Bereichen zu spüren. Das kann im Miteinander weder die Frau noch den Mann zufriedenstellen, denn beide begegnen sich dabei nicht auf gleicher Ebene. Wenn einer sich überlegen fühlt und der andere unterlegen, kann keine wirkliche Nähe entstehen. Die Frau versucht diese häufig auf der emotionalen Ebene zu finden, kann den Mann dabei aber oft nicht erreichen. Der Mann erhofft sie vielfach auf der körperlichen Ebene zu erfahren und ist enttäuscht, wenn er damit bei seiner Frau nicht ankommt.
Es gibt aber genügend Frauen, die bewusst nach einem überlegenen Mann suchen, weil sie die unterlegene Rolle einnehmen wollen, auch in der Sexualität. Wenn die Dominanz eines anderen und ihre weibliche Unterwerfung zu ihrem Glück führt, dann ist es ihre Freiheit, sich dafür zu entscheiden. Begegnung auf Augenhöhe ist dann nicht ihr Ziel. Die Überlegenheit des Mannes, die sie sucht, kann auch ihre Unsicherheit als Frau überdecken oder ihre eigene Stärke unterdrücken. Prägungen, die unbewusst in uns liegen, bringen uns oft dazu, dass wir die Muster wiederholen, die uns aus unserer Geschichte vertraut sind, bis wir sie erkennen.