Читать книгу Ich liebe die Frau, die ich bin - Linda Jarosch - Страница 8
ОглавлениеDie Gekränkte
»Ich bin nicht wichtig«, kann die Gekränkte als frühere Erfahrung verinnerlicht haben. Sie hat Zurückweisung oder Verlassenheit erlebt oder ist nicht wahrgenommen worden. Später wird sie vermutlich wieder mit Menschen in Beziehung kommen, die ihr die alten Erfahrungen bestätigen. Sie erfährt vielleicht wieder Zurückweisung oder Übersehenwerden, und das verletzt erneut ihr Selbstwertgefühl. Es kann auch schon ein harmloses Wort, ein bestimmter Blick oder eine unterlassene Geste zur erneuten Kränkung führen. Als Reaktion darauf wählt die Gekränkte oft das Beleidigtsein. Sie spricht mit dem Betreffenden kaum noch ein Wort, wird vielleicht patzig oder zieht sich ganz zurück. Sie lässt den anderen deutlich spüren, was er ihr Schlimmes angetan hat. Nur – sie sagt nichts! Ihre stumme Vorwurfshaltung soll dem anderen zeigen: »Du bist schuld, dass ich leide.« Diese Haltung kann zur Machtform werden, denn der Kontaktabbruch soll für den anderen wie eine Strafe sein. Der andere ist dann leicht geneigt, die Schuld auf sich zu nehmen, nur um wieder in Kontakt zu kommen.
Auch in der Mutter-Tochter-Beziehung zeigt sich heute immer häufiger die Haltung des Gekränktseins, in der eine von beiden die Beziehung abbricht. Für beide bedeutet es Leiden, weil eine für Frauen wichtige Beziehung der Kränkung geopfert wird. Oft sind Erwartungen nicht erfüllt worden oder gegenseitige Vorwürfe haben einen schwelenden Konflikt verschärft. Wenn dann eine ganz aus der Beziehung aussteigt, kann keine reife Form der Lösung gefunden werden.
Die Gekränkte fühlt sich oft ohnmächtig, sich mit Worten gegen ein unachtsames Verhalten anderer zu wehren. Sie spürt meist nicht den Wert in sich, die Situation für sie selbst zu verbessern. Das Leiden an der Kränkung kann ihr vertrauter sein als das Einstehen für sich. In ihrem Ohnmachtsgefühl kann sie auch so in Rage geraten, dass sie mit Worten um sich schlägt und anderen damit ebenfalls tiefe Kränkungen zufügt.
Manche Menschen nehmen die Gekränkte in ihrem Verhalten nicht mehr ernst. Ihre Handlungsweise wirkt auf sie eher kindlich, deshalb erscheint ihnen die Konfliktlösung auf einer erwachsenen Ebene kaum möglich. Sie spüren das Unfreie in der Gekränkten und aus Schutz für sich selbst wollen sie sich oft nicht mehr auf sie einlassen. Das kann die Gekränkte schließlich einsam machen.
Von diesem Einsamkeitsgefühl erzählte mir eine Frau. Sie war im mittleren Alter und ich begegnete ihr bei einem Vortrag in einem Frauenkreis. Anschließend lud sie mich zum Teegespräch zu sich ein. Sie lebte allein, erzählte davon, dass sie wenig Freundschaften hätte, und beklagte sich darüber, dass andere den Kontakt zu ihr nicht suchen würden. Sie hätte sich lange darum bemüht, aber sich inzwischen damit abgefunden, dass sie für andere scheinbar nicht wichtig sei.
Einige Wochen später fuhren wir gemeinsam mit dem Auto zu einer Veranstaltung. Auf dem Nachhauseweg meinte sie, ich hätte mit einer anderen Frau mehr geredet als mit ihr. Ich war erstaunt über diese Feststellung, wusste aber, dass das nichts mit mir zu tun hatte. Denn das »Mehr« waren gefühlte zwei Minuten. Als ich genauer nachfragte, was das in ihr bewirkt habe, wurde klar, dass es eine alte Kränkung in ihr berührt hatte. Als Kind fühlte sie sich von der Mutter gegenüber ihrer Schwester zurückgesetzt. Dieses Kränkungsgefühl wurde auf mich übertragen. Als ich sie in Heiterkeit fragte, ob sie in Zukunft eine Stoppuhr mit sich tragen wolle, um mir aufzuzeigen, wie viel Zeit ich ihr oder einer anderen Frau widme, konnte sie lachen. Sie erkannte, wie absurd ihr Vorwurf in der Realität war und wie besetzt sie immer noch von ihrer alten Kränkung war. In ihrem Komplex konnte sie nicht sehen, dass sie während der Autofahrt viel mehr Aufmerksamkeit hatte als die andere Frau.
Es ist bezeichnend für einen Komplex des Gekränktseins, dass wir meist die Realität nicht mehr sehen, sondern stattdessen den alten Schmerz nähren: »Ich bin nicht wichtig.« Dann kann man jede Handlung, jedes Wort eines anderen so persönlich nehmen, dass man es sofort als gegen sich gerichtet empfindet. Es wird nicht nachgefragt, wie es gemeint war oder ob es richtig verstanden wurde, sondern der andere wird im eigenen Komplex mitgefangen. Beide erleben dadurch Enge, weil die Angst der Gekränkten im Raum steht: »Ich bin nicht wichtig und damit nicht geliebt und das mache ich dir zum Vorwurf.« Das führt zu Verwirrung, denn der andere wird allein für die Kränkung verantwortlich gemacht, statt dass man sich selbst fragt, was einen so verletzlich macht und wie ein befreiter Umgang damit möglich sein könnte.