Читать книгу Abenteuer im Sibirien-Express - Lisa Honroth Löwe - Страница 8

Fünftes Kapitel

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An der Rezeption in der Halle des Königsberger Hotels stand Rodenhausen.

„Sehr wohl, Durchlaucht“, sagte der Geschäftsführer zuvorkommend, „die Koffer zum Berliner Zug. Der Träger mit dem Handgepäck erwartet Durchlaucht eine Viertelstunde vor Abfahrt mit den Platzkarten und den Billets an der Schranke.“

Rodenhausen nickte und verglich seine Armbanduhr mit der grossen Uhr im Vestibül. Dann sah er sich suchend um.

„Fräulein Sjörberg, ist sie noch nict zurück?“

„Das gnädige Fräulein lässt Durchlaucht sagen, dass sie im Schreibzimmer auf Durchlaucht wartet.“

Rodenhausen durchschritt rasch die Halle. Das Schreibzimmer lag gleich nebenan. Astrid sass am Schreibtisch. Rodenhausen umfasste für einen Moment ihre Gestalt und das zarte Gesicht, das jetzt, im Eifer des Schreibens, eine leichte Röte zeigte. Er musste lächeln. Sie schrieb wie ein Kind, die Zunge leicht zwischen den Lippen hin und herschiebend, als sollte sie den Zug der Feder unterstützen.

„Nun, Astrid, noch nicht fertig? In zwanzig Minuten geht der Zug.“

„Schon fertig.“

Astrid setzte rasch die Unterschrisft unter den langen Brief. Es war eine eigentümlich energische Handschrift, die zu dem sonst so zarten Mädchen eigentlich gar nicht passte.

„Es ist nur ein Brief an Ingenieur Redderson“, plauderte sie, während sie sich jetzt von Rodenhausen in den Mantel helfen liess. „Ich habe Angst, dass er schon in Sorge um mich ist.“

„Aber Sie haben ihm doch ein Telegramm geschickt, Kind.“

„Das allerdings, Durchlaucht.“

Rodenhausen drohte lächelnd mit dem Finger. „Schon wieder ,Durchlaucht‘, kleine Astrid? Haben Sie denn unsere Abrede ganz vergessen, nach der ich für Sie ,Onkel Rodenhausen‘ bin? Aber soviel haben Sie diesem Ingenieur Rederson mitzuteilen, stehen Sie denn so besonders nah mit ihm?“

„Ja, Onkel Rodenhausen, ich habe ihm doch unendlich viel zu danken. Er ist wie ein Bruder zu mir gewesen. Und der einzige Kamerad, der mit mir jung, und der mit mir heiter war, der ein wenig zu mir passte. Ich glaube, er wird mich sehr vermissen.“

„Und Sie ihn auch, kleine Astrid?“ fragte der Fürst mit einem leichten Ton. Aber der Ausdruck, mit dem er auf Astrid blickte, war forschend.

Astrid sah versonnen vor sich hin.

„Ich weiss es eigentlich nicht, Onkel Rodenhausen — aber — vielleicht doch.“

Sie hatte den Mund noch ein wenig offen, als wollte sie noch etwas hinzufügen. Aber plötzlich lief ein ganz helles Rot über Stirn und Wangen. Und sie schloss die Lippen so unvermittelt, als wäre beinahe aus ihr etwas herausgedrungen, was sie erschreckt hätte, und was sie nicht sagen wollte.

Rodenhausen schwieg. Da war offenbar irgend etwas, was besser unberührt blieb. Ueberdies war man inzwischen am Bahnhof angekommen. Die Halle war erfüllt von Menschen und Lärm. Dort, an der Schranke, stand auch schon der Hoteldiener mit abgezogener Mütze neben Rodenhausens neuen Koffern, die er für sich und Astrid an Stelle der verlorengegangenen angeschafft.

Mit kindlicher Freude musterte Astrid das Schlafwagenabteil erster Klasse, in das Rodenhausen sie führte.

„So bin ich noch nie gefahren, Onkel Rodenhausen“, meinte sie.

„Nun also, kleine Astrid, dann machen Sie es sich bequem. Schlafen Sie gut und träumen Sie etwas recht, recht Schönes. Morgen früh find wir in Berlin und nachmittags dann zu Hause.“

Rodenhausen schüttelte Astrid herzlich die Hand und wartete, bis sie die Tür des Schfwagenabteils hinder sich geschlossen. Er selbst vermochte noch nicht zu schlafen. Vergangenheit und Zukunft begegneten sich in seinen Gedanken. Er ging in den Speisewagen und sass noch lange bei einem Glase Wein. Der Gedanke, wie ales sich zu Hause gestalten würde, wie sein Schützling aufgenommen werden, und wie er sich in das Leben Rodenhausens hineinfügen würde, erfüllte ihn mit einer gewissen Bangnis. Er dachte an Dorothee, der er nun nach so vielen Jahren der Trennung gleich wieder ein fremdes Element ins Haus brachte. Würde sie gütig genug sein, um seinen Wunsch zu erfüllen? Er hatte in all den Jahren viel an Entsagung von ihr verlangt. Sie hatte es immer geleistet.

Freilich, nie durfte sie erfahren, dass er ihr in Astrid die Tochter jener Frau ins Haus brachte, der seine erste leidenschaftliche Mannesliebe gehört hatte. Karen — er sah sie wieder vor sich in ihrer zarten, beseelten Fraulichkeit. Wie hatte er sie geliebt! Er hatte geglaubt, es nicht ertragen zu können, dass sie an einen anderen gebunden gewesen, als er sie fand. Er hatte es ertragen müssen, aber die Liebe zu Karen hatte immer zwischen ihm und Dorothee gestanden. Die Liebe zu Karen war stärker gewesen als sein Wille, zu Dorothee zu finden.

— — — — — — — — — —

Die Reise und der ganze Aufenthalt in Berlin waren an Astrid wie im Fluge vorbeigegangen. An die Einsamkeit der russischen Heimat gewöhnt, war Berlin wie ein verwirrender Fiebertraum, der sich über sie geworfen. Und sie war glücklich, als sie mit Rodenhausen im Zuge nach Thüringen sass. Astrid konnte sich nicht satt sehen an der Landschaft, die sich vor ihren Blicken veränderte. Die Ebene, in der sich die Grossstädte mit ihren Schloten und Fabriken gedehnt, war in bewegteres Hügelland übergegangen. Diese Landschaft in ihrer Lieblichkeit, hügelig, langsam zu Bergen ansteigend, von Bächen und Flüssen durchzogen, war ihr vertraut.

„Wie schön ist Ihre Heimat, Onkel Rodenhausen“, sagte sie ein über das andere Mal. „Hier ist alles so licht und heiter. Ich glaube, hier müssen auch die Menschen froh sein.“

„Ja, schön ist es hier.“ Rodenhausen sah mit Freude Astrids Entzücken.

„Mir ist, als ob auch ich heute die Lieblichkeit des Landes doppelt genösse. Das macht, weil ich es durch Ihre Augen mitsehe, kleine Astrid. Man wird wieder jung neben einem so jungen Menschenkind.“

Astrid lächelte, und dies schelmische Lächeln veränderte das ernste Gesichtchen in rührender Weise:

„Aber Sie sind doch noch jung, Onkel Rodenhausen. Sie sind so jung wie — wie — manchmal kommen Sie mir so jung vor wie Redderson.

„O, das ist ja ein grosses Kompliment.“

Rodenhausen machte eine kleine, lächelnde Verbeugung.

Aber Astrid fuhr schon harmlos fort, ohne zu wissen, wie sie sich selbst mit diesen Worten verraten hatte:

„Und es ist ja kein Wunder, dass Sie jung sind, denn Sie haben ja Viky, von der Sie mir so sehr viel erzählt haben. Aber von Ihrer Frau haben Sie mir noch so wenig erzählt, Onkel Rodenhausen, und sie ist doch neben Ihnen die Hauptperson im Hause. Wie ist sie eigentlich? Wird sie mich gern haben können?“

Astrids klare, graue Augen sahen vertrauensvoll und erwartend auf Rodenhausen. Der fühlte eine leichte Beschämung.

Wie fein und richtig fülte dieses junge Ding! Wenn sie sagte, dass die Frau die Hauptperson im Hause sein sollte neben dem Mann, zeigte sie ihm unbemusst, auf welchen Platz er Dorothee hätte stellen müssen. Im Hause hatte er das wohl getan. Aber in seinem Herzen hatte er ihr niemals den Platz gegeben, der ihr gebührte. Heute, nach vielen Jahren, schien es ihm, als wäre es doch falsch gewesen, hierhin und dorthin zu streben, solange das seelische Fundament der Ehegemeinschaft nicht unverrückbar begründet war. Wie sollte er Dorothee diesem kleinen Mädchen schildern? Vielleicht würde sie mit ihrer Hellhörigkeit und dem vollkommen Unverbogenen ihres Charakters das heraushören, was er sich selbst bis jetzt nicht voll eingestanden hatte.

„Nun“, sagte er in das Schweigen hinein, „Sie werden ja selbst sehen, kleine Astrid. Sie haben ein so unmittelbares Empfinden, dass ich Ihnen gar nichts sagen möchte. Sie sollen selbst sehen, selbst fühlen. Dann werden Sie auch wissen, dass zwischen Ihnen und meiner Frau der Kontakt sich leicht finden wird.“

Astrid schwieg. Dann sagte sie sehr leise und wie demütig:

„Das ist ein grosses Vertrauen, Onkel Rodenhausen, das Sie in mich setzen. Wenn ich es nur erfüllen kann.“

Rodenhausen wollte etwas erwidern, als er sich plötzlich angerufen fühlte. Eine Dame stand hinter ihm.

„Ah, Fürst, welch freudige Ueberraschung. Bin ich die erste, die das Glück hat, Ihnen in der Heimat zu begegnen?“

Ein rascher Blick züngelte zu Astrid hin.

„Ah, wie ich sehe, sind Sie in Gesellschaft, Fürst. Da störe ich wohl?“

Aber es war etwas in dem Ton, was den Fürsten peinlich berührte. Das war immer noch die alte Melitta von Stenglin. Eigentlich hätte er sagen wollen, dass sie wirklich störte. Denn es passte ihm durchaus nicht, dass sich für Astrid die Heimat zuerst in der Person Melittas präsentierte. Er sah sehr wohl, dass Astrid wie ein Pferdchen, das scheut, bei Melittas Ton etwas zurückzuckte. Aber es half nichts. Und so sagte er denn mit weltmännischer höflichkeit:

„Durchaus nicht, Baronin. Wie geht es Ihnen?“

Er küsste ihr die Hand. „Darf ich Ihnen meinen kleinen Schützling vorstellen, Fräulein Sjörberg, Frau Baronin von Stenglin.“

Astrid legte zögernd ihre schmale Hand in die ringblitzende, rosige, betont gepflegte der rassigen, überlegenen Frau, deren Sicherheit sie einschüchterte. Auf dem ein wenig zu stark gepuderten Gesicht mit den lebensgierigen, irrlichternden Augen lag eine unverblümte Neugier.

Unwillkürlich strich Astrid an ihren Sachen herunter und schlug den Reisemantel enger zusammen. Sie hatte ein unangenehmes Gefühl dieser Frau gegenüber, so, als ob diese glänzenden, zudringlichen Vlicke sie gleichsam entkleideten.

„Ah, vermutlich eine Reisebakanntschaft. Was führt Sie hierher in unseren verlorenen Winkel, Fräulein Sjörberg? Dem Namen nach sind Sie doch Nordländerin?“

Rodenhausen mischte sich schnell ein.

„Wir kennen uns schon lange, Baronin. Ausserdem werden wir ja das Vergnügen haben, Sie recht bald bei uns zu sehen. Denn Fräulein Sjörberg wird für längere Zeit unser Gast sein.“

Er lehnte sich aus dem Fenster.

„Aha, da ist ja schon die Blockstation. Wir werden gleich da sein.“

Astrid lief schnell an Melitta vorbei in ihr Abteil. Er nahm die Koffer herunter.

„Ach, dann muss ich ja auch wohl . . . “, sagte Melitta. „Wir sehen uns ja nachher.“

Sie neigte den Kopf und verschwand in ihrem Abteil.

Rodenhausen sah ihr mit einem halb ärgerlichen, halb amüsierten Lächeln nach:

„Na, da haben wir ja gleich den richtigen Willkommen gehabt, Kind“, sagte er. „Ich hätte es mir für Sie zwar anders gewünscht. Aber unseres Herrgotts Menagerie ist gross.“

— — — — — — — — — —

Auf dem Bahnhof stand der Diener und begrüsste mit einem respektvollen und erfreuten Gesicht Rodenhausen.

„Na, Josef“, Rodenhausen gab dem Diener die Hand, „alles gut zu Hause?“

„Alles gut, Durchlaucht“, meldete Josef mit einem strahlenden Gesicht.

„Na schön, also dann kommen Sir, Astrid!“

Er nahm Astrid leicht unter den Arm und geleitete sie an dem respektvoll grüssenden Bahnhofsvorsteher vorbei die Sperre hindruch.

„Einen Augenblick, Fürst.“

Melitta von Stenglin, die inzwischen auch aus ihrem Abteil gestiegen war, kam eilig Rodenhausen nach.

„Sie haben Ihren Wagen hier, dürfte ich mich bei Ihnen einladen? Ich habe meine Ankunft nicht rechtzeitig angekündigt Lokalzuge sitzen.“

Rodenhausen überlegte einen Augenblick, als ihm der Diener respektvoll etwas zuflüsterte. Ein beinahe erleichterter Ausdruck ging über das Gesicht des Fürsten.

„Ich bedauere tausendmal, Baronin. Soeben meldet mir der Diener, dass meine Frau und Viky in Gernrode auf uns warten. Sie haben dort die Einweihung des neuen Kinderheimes mitmachen müssen.“

„Ach so, dann ist Ihr Wagen natürlich voll besetzt.“

„Ja, leider. Also nochmals Verzeihung, Baronin.“

Melitta von Stenglin verbarg ihren Aerger unter einem liebenswürdigen Lächeln. Sie hätte zu gern die Autofahrt mitgemacht, denn sie musste wissen, wer dieses junge Mädchen war, das Rodenhausen da so plötzlich mitbrachte. Sollte er wieder einmal — aber das war doch unmöglich. Er war doch inzwischen schliesslich auch älter geworden, und dies junge Mädchen hätte seine Tochter sein können. Und was sollte er schliesslich auch an solch einem jungen Ding finden? Aber die Zusammenhänge hätte sie doch zu gern gewusst und zugleich den Triumph gehabt, Rodenhausen wiederzusehen, ehe er seine Frau begrüsste.

Rodenhausen und Astrid fuhren beide ziemlich schweigsam nebeneinander durch die schöne Landschaft. Jeder von ihnen war mit seinen Gedanken beschäftigt.

Rodeausen war doch etwas unruhig: Wie würde das Wiedersehen mit Dorothee und Viky sein? Wie würden sie Astrid entgegenkommen?

Und auch Astrids kleines Herz zitterte etwas vor dem, was ihr bevorstand.

Endlich unterbrach der Fürst das bedrückende Schweigen:

„Ich freue mich, dass Sie meine schöne Heimat im Frühling kennenlernen, liebe Astrid. Sehen Sie, wie herrlich der Kontrast! Auf den Berggipfeln liegt Schnee. Und wir hier unten im Tal fahren durch die warme Sonne.“

Er machte sie auf besondere Schönheiten der Natur aufmerksam, nannte ihr Namen der Berge, der kleinen Dörfer, die man hier und da verstreut liegen sah, und wies plötzlich nach rechts auf eine kleine Lichtung:

„Jetzt noch durch dieses kleine Wäldchen hindurch, das vor uns liegt, Astrid, und dann, sehen Sie dort auf der Lichtung, das ist schon Gernrode.“

Der Kutscher fuhr, wie die Fürstin es angeordnet hatte, vor dem Hause des Pfarrers vor. Dort wollten die Fürstin und Viky nach dem kleinen Einweihungsfest den Fürsten und Astrid erwarten.

Das kleine Pfarrerstöchterchen kam an den Wagenschlag gesprungen:

„Die Frau Fürstin und Prinzessin Viky sind im Garten.“ sagte sie, ein über das andere Mal knixend.

Die Pfarrersleute hatten sich taktvoll zurückgezogen, um das Wiedersehen nicht zu stören.

„Kommen Sie, Astrid.“

Rodenhausen legte väterlich einen Moment die Hand auf die Schulter des jungen Mädchens, als wollte er ihm Mut machen, und führte sie die Stufen zum Pfarrhaus hinauf und nach hinten in den herrlich gepflegten, echten Pfarrersgarten.

„Ah, da sind sie“ , hörte man die frische Stimme Vikys. Und schon war sie, sehr wenig prinzessinnenhaft, wie ein junges Füllen auf Rodenhausen und Astrid zugesprungen.

„Tag, Papa, wie gut du aussiehft, gut und jung!“ Sie fiel dem Vater stürmisch um den Hals.

Mit einem schnellen, musternden Blick umfasste sie dann auch Astrid und schüttelte ihr kräftig die Hand. Rodenhausen aber eilte auf die Fürstin zu, die ihm und Astrid herzlich entgegengeschritten kam. Ihr sonst so verschlossenes Gesicht zeigte jetzt eine weiche, freudige Erwartung.

„Meine liebe Dorothee“ — er hielt warm ihre Hand, während er sie auf die Stirn küsste —:

„Wie reizend, dass du uns mit Viky entgegengefahren bist. An allem spürt man die Heimat. Ach, es ist schön, wieder einmal zu Hause zu sein“, sagte er aus vollem Herzen.

„Und hier“, dabei zog er die kleine Astrid, die sich etwas scheu hinter ihm gehalten hatte, zu sich heran, „meine liebe Dorothee, bringe ich dir Fräulein Sjörberg und empfehle sie all deiner mütterlichen Güte.“

„Seien Sie herzlich willkommen, Fräulein Sjörberg.“

Die Fürstin streckte Astrid die Hand entgegen:

„Mein Mann hat mir soviel Liebes von Ihnen geschrieben, mein Kind. Ich möchte Ihnen helfen.“

Astrid beugte sich bewegt über die Hand der gütigen Frau.

„Wir hatten uns von Pfarrers schon verabschiedet, Theodor“, wandte sich Frau Dorothee jetzt an ihren Gatten, „man wollte auch unser Wiedersehen nicht stören. Ich denke, wenn es euch recht ist, fahren wir jetzt gleich nach Hause, damit Fräulein Astrid auch noch bei Tage ihre neue Heimat sieht.“

„Gern, wie du es wünschst, Dorothee.“

Der Fürst reichte seiner Frau ritterlich den Arm.

— — — — — — — — — —

Die Fahrt nach Schloss Rodenhausen verging unter leichtem Geplauder.

Viky belegte Astrid gleich ganz mit Beschlag und war so lebhaft, dass Astrid gar nicht viel zum Reden kam.

Die Fürstin erkundigte sich bei Rodenhausen nach dem Verlauf der Reise:

„Du wirst und diesmal viel erzählen müssen, Theodor“, sagte sie. „Du kannst dir denken, dass dieser Krieg in der Mandschurei uns sehr interessiert. Wir haben hier gar keine rechte Vorstellung davon.“

„Das kann ich mir denken. Oh ja, ihr werdet viel Interessantes von mir zu hören bekommen. Aber jetzt lass mich zuerst einmal den Frieden der Heimat geniessen und erzähle mir vor allem, wie es bei uns aussieht. Wollte Alexander nicht auch bald seinen Urlaub nehmen und ihn bei uns verbringen?“

„Ja er freut sich schon auf dich und seinen kleinen Jungen. Ich glaube, Theodor, du wirst auch viel Spass an dem kleinen Robby haben.“

Ein glückliches Lächeln glitt über ihre vornehmen Züge:

„Er ist ein richtiger kleiner Sonnenschein“ , fügte sie hinzu.

„Ach, wir sind ja würdige Grosseltern.“

— Rodenhausens Geufzer war halb ernst,halb scherzhaft gemeint —:

„Wenn man so allein in der Welt draussen ist, vergisst man das leicht und kommt sich jünger vor, als man in Wirklichkeit ist. Du hast mir ja öfter geschrieben, dass sich der kleine Robby so nett entwickelt. Ich habe ihm einen sehr drolligen chinesischen Hampelmann mitgebracht. Das wird mich hoffentlich zu seinem Herzchen finden lassen.“

Er unterbrach sich und sah glücklich und wie gebannt auf das Schloss, das jetzt vor seinen Blicken auftauchte:

„Astrid, drehen Sie sich einmal um, dort können Sie unser Schloss schon liegen sehen.“

Astrids Augen wurden weit und leuchtend. Sie vermochte gar nicht zu sprechen. Aber dann umklammerte sie Rodenhausens Hände fest, als brauchte sie einen Halt. Das kleine, scheue Mädchen war ganz Gefühl und Begeisterung:

„Ach, Onkel Rodenhausen, ist das schön. So etwas habe ich noch gar nicht gesehen. Ich glaube, wenn ich da immer wohnen könnte, würde ich nie fortreisen wollen.“

Viky platzte jäh in die Stimmung hinein:

„Für ein paar Wochen geht es schon hier. Aber wissen Sie, Fräulein Astrid, so für die Dauer, da möchte ich doch die Grossstadt nicht mehr entbehren. Hier gibt’s keine Museen, keine Theater und keine Konzerte —“

„Ja, und kein freies Stundentenleben“, fügte die Fürstin kopfschüttelnd hinzu.

„Dafür aber einen Papa, der sehr lange auf Reisen war und jetzt wieder einmal ausfürlich seine Tochter geniessen möchte“, lachte der Fürst, „und der jetzt noch dazu seiner Tochter eine kleine Gefährtin migebracht hat, die ihr hoffentlich Kameradin sein wird.“

„Na, ja, Papa“, meinte Viky vergnügt, „jetzt wird’s wohl auch erst mal ganz nett bei uns werden, und was später wird, findet sich von selbst.“

Der Wagen fuhr durch das Schlosstor über die herrliche Terrasse und hielt vor der grossen Freitreppe.

Die Dienerschaft empfing den Fürsten respektvoll und freudig. Es war doch schön, dass der Herr wieder einmal in Hause war.

„So, Viky“, meinte die Fürstin, „ich denke, du zeigst jetzt Fräulein Astrid ihre Zimmer, und wenn sie und Papa sich etwas erfrischt haben, darf ich zum Tee in die Halle bitten.“

Astrid durchschritt mit Viky die weiten Gänge des alten, schönen Schlosses.

So hatte sie sich ihre neue Heimat nicht vorgestellt. Ob Rodenhausen sie überraschen wollte? Er hatte so schlicht und einfach von zu Hause erzählt. Obgleich Astrid selbst Reichtum und Weite gewöhnt war, hier kam sie sich wie im Märchen vor. Alles war hell und licht. So hatte sie in den Büchern von deutschen Schlössern gelesen.

„Sehen Sie, Astrid,“ Viky öffnete beim Eintreten in Astrids Zimmer gleich das Fenster, „das Schönste hier ist der Blick über die Berge. Und hier, unter Ihren Zimmern, die Schlossterrasse, die ist meine ganze Liebe. Von ihr aus hat man den weitesten Ausblick über die Berge und ins Tal. Und von jeder Ecke der Terrasse zeigt sich die Landschaft wieder anders.“

Dann wies sie mit der Hand weiter hinaus auf den Lauf eines kleinen Flüsschens:

„Sehen Sie, dort hinten im Tale, an beiden Seiten des kleinen Wassers, das sind die letzten Häuser unseres kleinen Stadt. Sie streckt sich sehr weit hinaus, da sie sich durch die Berge in der Breite nicht ausdehnen kann. Und von der Schlossterrasse aus werden Sie erst richtig all die bunten Häuser sehen, die sich an den Schlossberg anlehnen.“

„Ich habe noch nie soviel Farben in einer Landschaft gesehen“, meinte Astrid begeistet. Und all diese roten und blauen und gelben Häuser! Jetzt verstehe ich es, dass Sie immer froh sein können, Prinzessin Viky, und immer vergnügt. Glauben Sie, dass ich es hier auch werde? Onkel Rodenausen hat gesagt,er hofft es. Ach so“ — sie geriet in leichte Verlegenheit —„Ihr Papa hat mir nämlich erlaubt, ihn ,Onkel Rodenhausenʻ zu nennen, weil wir doch soviel Schweres miteinander erlebt haben“, setzte sie kindlich erklärend hinzu.

„Gott, ich finde, so onkelhaft hat sich Papa Ihnen gegenüber eigentlich gar nicht benommen, vielmehr wie ein jugendlicher Ritter“, erwiderte Viky. „Ach, so ein Abenteuer möchte ich auch einmal erleben. Fanden Sie Papa eigentlich icht schrecklich forsch, als er Sie da so rettete, Astrid?“

„Es war wenig Zeit, darüber nachdenken, Prinzessin Viky. Es war nämlich nicht gerade ein Salon-Abenteuer.“

Jetzt war Astrid die Ueberlegene.

„Ich dachte“, meine Viky lachend, „Sie wären da im Ural an Räuber und all so etwas gewöhnt.“

„Nun, zum täglichen Leben gehören solche Ueberfälle gerade auch nicht“, meinte Astrid, „menn das Leben bei uns allerdings auch gefahrvoller ist als hier.“

„Ich denke mir die jungen Mädchen im Ural immer so mit dem Revolver in der Hand auf dem Pferde sitzend“, meinte Viky übermütig, „das heisst, Astrid, Sie reiten doch wirklich? Da tue ich nämlich auch leidenschaftlich gern.“

„Ja, geritten bin ich viel“, antwortete Astrid, „mit Papa“ — die Erinnerung durchzuckte sie schmerzlich — „und mit Herrn Redderson, der bei Papa als Ingenieur angestellt war.“

„Herr Redderson, ist der jung oder alt?“ fragte Viky in ihrer unvermittelten Art.

Und ehe Astrid antworten konnte:

„Das ist nämlich, was mir hier so fehlt: Junge Menschen. Aber um so mehr habe ich die in München. Es ist schrecklich interessant mit all den Kollegen und so international. Amerikaner, Russen, Schweden, Belgier.“ Sie verwirrte sich leicht und sagte unvermittelt:

„Aber ich glaube, Fräulein Astrid, wir haben uns schon verplaudert, Mama wird uns bald zum Tee erwarten. Sie wollen sich sicher noch etwas frisch machen. Darf ich Sie in zehn Minuten abholen?“

Astrid war froh, ein paar Minuten mit sich allein zu sein. Zuviel Neues und Grosses war auf sie eingestürmt. So rasch konnte sie das gar nicht in sich verarbeiten. Würde sie sich die Liebe der Fürstin erwerben können? Würde sie mit Viky in ein freundschaftliches Verhältnis kommen? Viky war so ganz anders als sie selbst. Aber Onkel Rodenhausen war ja da. Der würde ihr in allem helfen.

„Fertig?“

Viky klopfte an die Tür.

„Ja, ich komme schon“, gab Astrid fast fröhlich zurück.

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Abenteuer im Sibirien-Express

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