Читать книгу Meine Seele gehört dir - Lisa Lamp - Страница 12
ОглавлениеKapitel 7
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich miserabel. Fast, als hätte ein Lastwagen mich überfahren. Die Nachwehen meines seltsamen Traumes fluteten meine Sinne und ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde jede Minute explodieren. Ich versuchte, mich aufzurichten, aber meine schmerzenden Rippen machten mir einen Strich durch die Rechnung. Jeder Atemzug fiel mir schwer, mein Rücken knackte besorgniserregend, meine Schläfen pochten unangenehm und ich musste mich überwinden, die Augen zu öffnen. Das Licht, das mir entgegenstrahlte, war ungewohnt hell, weshalb ich die Hand vor mein Gesicht hielt, um die Schmerzen im Kopf nicht zu verstärken.
Das Erste, das mir auffiel, nachdem keine blinden Flecken mehr meine Sicht beeinträchtigten, war, sodass ich alles klar und deutlich sehen konnte, obwohl ich keine Brille trug. Ich sah das Poster der Band Runaways, das gegenüber meines Bettes hing, gestochen scharf und die Farben leuchteten. Auch das Schild an der Tür mit der Aufschrift Hast du schon einmal einen Liter Blut durch die Nase verloren? konnte ich problemlos lesen, ohne die Augen zusammenkneifen zu müssen.
Danach realisierte ich, dass ich mit Sicherheit nicht in meinem Zimmer war. Weder die schwarze Bettwäsche, in die ich eingewickelt war, noch die Schmutzwäsche, die überall auf dem Boden verteilt war, gehörte mir.
Hatte mich jemand mit K.o.-Tropfen betäubt und mir etwas angetan? Was war das letzte, an das ich mich erinnern konnte? Nach einem stundenlangen Aufenthalt in der Badewanne war ich gestern Abend früh zu Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Damit war ausgeschlossen, dass mich jemand nach einer Party außer Gefecht gesetzt und abgeschleppt hatte.
Verwirrt stand ich auf und verlor prompt das Gleichgewicht. Im letzten Moment, bevor meine Nase Bekanntschaft mit dem Fußboden machte, konnte ich mich mit den Armen abfangen, wodurch ein lautes Poltern entstand.
»Alejo, qué haces?«, murmelte eine verschlafene Stimme, woraufhin ich erstarrte.
Ich traute mich nicht, zu atmen, aus Angst, jemand würde mich entdecken. Als nach einigen Minuten im Haus nichts mehr zu hören war, stand ich vom Boden auf und ging auf Zehenspitzen zu einer Tür, hinter der ich den Ausgang vermutete. Stattdessen fand ich mich in einem angrenzenden Bad wieder. Auch hier lagen Berge an Wäsche in der Gegend herum und der hochgeklappte Toilettensitz ließ mich angeekelt den Mund verziehen. Egal, wer hier wohnte, er musste dringend an seiner Reinlichkeit arbeiten.
Mit den Fingerspitzen, um bloß nicht zu viel in dem fremden Haus berühren zu müssen, drehte ich das warme Wasser auf. Zuerst sah ich dem durchsichtigen Strahl nur beim Fließen zu, bis mir einfiel, dass ich zu spät zum Unterricht kommen würde, wenn ich weiter trödelte. Flink wusch ich meine Hände und spritzte mir anschließend Wasser ins Gesicht. Nachdem ich die Augen wieder öffnete, um mir die Wassertropfen mit dem Handtuch von den Wangen zu wischen, gefror ich in der Bewegung. Mein Herz hörte für eine Sekunde auf zu schlagen, dann raste es plötzlich mit doppelter Geschwindigkeit.
Geschockt machte ich einen Schritt rückwärts und bemühte mich, meine verwirrten Gedanken zu ordnen. Gänsehaut überzog meinen Körper, in meinem Hals spürte ich einen dicken Kloß und ich war unfähig, um Hilfe zu rufen. Ich zwickte mich in den Arm, aber ich wachte nicht aus dem Albtraum auf, in dem ich gefangen war.
Das Zittern meiner Hände wurde stärker, als ich mich durch meine geweiteten Pupillen im Spiegel anstarrte. Es waren nicht meine Augen, die mir entgegenblickten. Es waren auch nicht meine Hände, die ich fassungslos vor den Mund schlug.
Ich betrachtete jeden einzelnen Finger, die Handinnenfläche, die Handgelenke. Das waren die Hände eines neunzehnjährigen Latinos mit kohlrabenschwarzem Haar und einem Piercing in der rechten Augenbraue, das ihn verwegen aussehen ließ.
Langsam fuhr ich mir über den Oberkörper. Die Haut war straff. Die Muskeln unnachgiebig und steinhart. Ich spannte einen Muskel nach dem anderen an, spürte eine Narbe, die sich vom Bauchnabel bis zu den Rippen zog, und glitt weiter nach unten. Als ich beim Hosenbund angelangt war, zog ich meine Hand weg. Es war, als hätte ich mich verbrannt. Das Beben, das meinen Körper, der eigentlich nicht meiner war, erfasst hatte, wurde stärker und Tränen schossen mir in die Augen. Ich hatte Alejandro Gonzalez niemals weinen sehen, weshalb das Bild, das sich mir bot, ungewohnt und beängstigend wirkte.
Was zum Teufel war hier los? War ich im falschen Film? Lag ich im Koma und hatte irgendeinen verstörenden Traum? Hatte das mit dem Kneifen deswegen nicht funktioniert? Das hier konnte unmöglich tatsächlich passieren! Während unzählige Fragen durch meinen Kopf rasten, hörte ich eine weibliche Stimme aus einem anderen Zimmer rufen: »Alejo, steh endlich auf! Du musst zur Schule.«
Verzweifelt versuchte ich, einen klaren Gedanken zu fassen, um zu entscheiden, was ich als Nächstes tun sollte, doch in meinem Kopf war nichts als Leere. Typisch! Ich wusste schon immer, dass Alejo aufgrund seines Verhaltens kein Gehirn besitzen konnte. Um mich von der aussichtslosen Situation abzulenken, ging ich zurück ins Nebenzimmer und begann, mich anzuziehen, wobei ich die Unterhose, die der Latino zum Schlafen getragen hatte, anbehielt. Ja, das war wahnsinnig unhygienisch, aber was blieb mir anderes übrig? Bevor ich Alejandro splitterfasernackt auszog, fror die Hölle zu.
Angewidert rümpfte ich die Nase. Ich streifte mir den erstbesten Sweater über und schlüpfte in ausgewaschene Jeans und schwarze Boots. Was sollte es! Es war ja nicht für lange.
Oder? Was war, wenn ich für immer so bleiben würde? Und wie war es eigentlich dazu gekommen? Was hatte Alejandro getan?
›Warte nur, Alejo. Wenn ich dich in die Finger bekomme, wirst du Dein blaues Wunder erleben.‹
Sobald ich den Lateinamerikaner erwischte, würde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um mein altes Ich wieder zurückzuerlangen. Und wenn ich ihn dafür umbringen musste.
Bei der Überlegung, dass Alejo gerade meinen Körper an- und ausziehen konnte, wie er wollte, wurde mir schlecht und ich kniff gepeinigt die Augen zusammen. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich nicht bemerkte, wie jemand die Zimmertür aufschlug und sich mitten im Türrahmen positionierte. Entsetzt zuckte ich zusammen und griff mir instinktiv ans Herz, das viel zu schnell gegen meine Rippen hämmerte.
Ein Mann mittleren Alters starrte mich unverwandt an. In der Hand hielt er eine Bierflasche und schwankte leicht hin und her, während er mich musterte. Obwohl es erst sechs Uhr morgens war, roch der Schwarzhaarige nach Alkohol und Zigaretten. Der Gestank war bestialisch, aber ich versuchte, mir den Schock nicht anmerken zu lassen. Wenn dieser Mann im Haus der Familie Gonzalez war, musste Alejo ihn kennen und würde mit Sicherheit nicht überrascht auf den Alkoholkonsum reagieren. Also durfte ich das ebenfalls nicht, sonst war ich schneller in der Psychiatrie, als ich Alejo dafür verfluchen konnte.
Oder gehörte ich wirklich in die geschlossene Abteilung? Verlor ich den Verstand? Je länger ich darüber nachdachte, desto logischer fand ich den Gedanken, dass ich auf irgendeine Art und Weise in einem Albtraum gefangen war.
»Warum antwortest du deiner Mom nicht?«, lallte mein Gegenüber und kam auf mich zu.
Da ich schlecht erklären konnte, dass ich nichts sagte, weil ich Angst hatte, dass ich nicht wie Alejandro klingen würde, blieb mein Mund geschlossen.
»Ich rede mit dir!«, schrie der Trunkenbold laut.
Mit zögernden Schritten ging ich rückwärts, bis ich die kühle Wand an meinem Rücken spüren konnte. Ich wusste nicht, ob Alejo ebenso die Flucht ergriffen hätte, aber die Wahrheit war, dass mir der dickliche Riese mit den blutunterlaufenen Augen Angst einjagte. Er kam noch einen Schritt näher, drückte mich mit seinem Bierbauch an die Wand. Es gab keinen Ausweg mehr. Er hatte mich in der Mangel. Meine zittrigen Hände hob ich beschwichtigend. Na ja, vielleicht wollte ich auch nur mein Gesicht, nein, Alejos Gesicht, schützen.
»Antworte!«, befahl er streng und ich bemühte mich, zu lächeln, um die Situation zu deeskalieren.
Es gelang mir nicht.
Wenn meine Schwester aggressiv wurde, weil etwas nicht nach ihren Wünschen verlief, half es, sie freundlich anzublicken und zu lächeln. Das beruhigte sie und sie verzog ebenfalls ihre Mundwinkel. Bei meinem Gegenüber bewirkte es das genaue Gegenteil und noch bevor ich etwas tun konnte, befand sich seine Faust in meiner Magengrube. Der Schmerz, der in meinem Inneren explodierte, raubte mir den Atem. Unbarmherzig schlug der Mann auf mich ein. Er zielte nicht, weshalb die Schläge nie die gleiche Stelle zweimal trafen. Der Schmerz blieb größtenteils aus, weil Unmengen an Adrenalin durch meinen Körper schossen. Trotzdem wusste ich, dass ich in wenigen Stunden kaum laufen können würde.
Harte Fingerknöchel rammten sich in mein Gesicht und meine Sicht verschwamm. Anfangs wehrte ich die Fäuste mit den Händen ab, aber schon nach kurzer Zeit verließen mich die Kräfte. Ich hatte mich noch nie geprügelt. Alejo aus Reflex eine Ohrfeige zu verpassen war alles, was an Gewaltbereitschaft in mir vorhanden war. Ansonsten war ich fromm wie ein Lamm.
»Stopp«, bettelte ich und rollte mich zu einer Kugel zusammen, um ihm weniger Angriffsfläche zu bieten. Er wollte nicht aufhören. »Hilfe, Hilfe!«, brüllte ich aus Leibeskräften.