Читать книгу Meine Seele gehört dir - Lisa Lamp - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3
Die Glocke, die den Beginn der ersten Stunde ankündigte, bewahrte mich davor, mein Gesicht zu verlieren und noch etwas sagen zu müssen. Schnell begab ich mich mit Emilia im Schlepptau auf direktem Weg ins Klassenzimmer, wobei ich den Blicken meiner Mitschüler gekonnt auswich. Wir hatten gleich zum Start eine Doppelstunde Englisch, in der wir heute die Arbeiten für unsere Präsentationen begannen, die über sechzig Prozent der Jahresnote ausmachen würden.
»Guten Morgen. Ich hoffe, Sie hatten ein angenehmes Wochenende«, startete Mrs. Bigelow die Stunde.
Sie war eine gute Lehrerin, auch wenn sie teilweise seltsam war. Nicht auf die Weise wie die anderen Lehrer. Sie war besonders seltsam. Als wären ihre langen, spitzen Fingernägel und die bunten Outfits noch nicht Grund genug, sie anzustarren, hatte sie dazu eine Tätowierung auf der Wange, die an einen Halbmond erinnerte. Neben Englisch unterrichtete sie noch Kunst und erklärte immer, dass ihr Körper eine Leinwand wäre, weshalb mich ihr schräges Auftreten nicht mehr wundern sollte. Sie schaffte es allerdings täglich, mich zu überraschen. So auch heute. Sie trug gelbe Schuhe, rosa Strümpfe, eine Jeanshose mit grünen Farbflecken und eine rote Bluse mit blauen Knöpfen. Ihr Outfit war ein modisches Desaster und hätte bei einem Epileptiker wahrscheinlich einen Anfall ausgelöst. Doch für sie schienen das Starren und die geflüsterten Beleidigungen vollkommen in Ordnung zu sein. Mit einem strahlenden Lächeln stand sie vor der Klasse und zog ihren Unterricht durch, ohne auf die Kommentare meiner Mitschüler einzugehen.
»Um optimal mit Ihrer Abschlussarbeit beginnen zu können, möchte ich Sie nun ...«, begann Mrs. Bigelow mit ihrer klaren Stimme.
Ein Klopfen unterbrach sie jedoch und Alejandro kam hinter der Tür zum Vorschein. Er trug wieder ein sauberes Shirt und hatte sich das Gesicht gewaschen, weshalb die restlichen Blutspuren verschwunden waren. Trotzdem war seine linke Wange leicht geschwollen und er humpelte ein bisschen, wodurch sich der Kampf vor wenigen Minuten erahnen ließ.
»Gonzalez, Sie sind zu spät«, polterte Bigelow los.
In vielen Unterrichtseinheiten war es in Ordnung, sich zu verspäten, wenn man eine gute Ausrede hatte. Bigelows Stunden waren keine davon. So schräg sie auch war, genauso hart setzte sie ihre Regeln durch. Es waren nicht viele, aber ihre Strafen waren geradezu drakonisch.
»Ich dulde dieses Benehmen nicht in meinem Unterricht. Nachsitzen!«, wütete die Lehrerin und schickte ihn auf seinen Platz.
Lässig ging Alejo in die letzte Reihe und warf sein Bandana auf den Tisch, als würde ihn die Situation nichts angehen. Gekonnt ignorierte er die verschränkten Arme, die bebenden Nasenflügel und die zusammengekniffenen Augen von Mrs. Bigelow. Er zwinkerte dem Mädchen, das den Platz neben ihm besetzte, zu und setzte sich auf seinen Stuhl.
Arroganter Scheißkerl!
»Wie bereits vor der unangebrachten Unterbrechung erwähnt, werde ich Sie nun in Paare einteilen. Sie müssen Ihren Partner nicht mögen, aber Sie müssen mit ihm zusammenarbeiten, um die Prüfung zu bestehen. Sie werden gemeinsam eine Note erhalten und nicht jeder für sich, damit das klar ist. Also gut, ich werde jetzt nach der Reihe je zwei Namen vorlesen und würde Sie bitten, zu zweit nach vorne zu kommen, um sich Ihr Thema bei mir abzuholen«, erklärte Bigelow, bevor sie sich hinter das Lehrerpult stellte und sich über die Namensliste beugte.
Die Schüler murrten unzufrieden, weil sie die Chancen schwinden sahen, in einem Team mit den eigenen Freunden zu landen. Auch ich verabschiedete mich von dem Gedanken, die Präsentation mit Em vorzubereiten, und betete, dass ich eine fleißige Partnerin abbekommen würde. Bigelow war nicht mit Absicht gehässig, aber irgendwie schaffte sie es immer, dass fast alle mit einem Partner ins Team kamen, mit dem sie kaum Zeit verbrachten.
»Olivia Stones und Patrick Pirez«, las Bigelow vor und das Paar erhob sich synchron.
Sie beschwerten sich nicht, also waren die beiden entweder befreundet oder hatten bis jetzt nicht viel miteinander zu tun gehabt. Noch drei weitere Paare wurden gezogen, ohne dass etwas Spannendes passierte, weshalb ich mich in meinem Stuhl zurücklehnte und mit meinem Stift spielte. Die Schüler, die noch keinen Partner hatten, verfolgten das Geschehen aufgeregt und jedes Mal konnte ich Seufzer von den Verbliebenen hören, wenn ein kompetenter Schüler vergeben wurde. Ich konnte sie verstehen. Einen schlechten Partner zu bekommen, konnte im schlimmsten Fall eine schlechte Note im Abschlussjahr bedeuten und das würde sich auf die Collegebewerbungen auswirken.
»Emilia Anderson und ...«, begann Bigelow und spannte uns auf die Folter.
Obwohl ich nicht an Gott glaubte, fing ich zu beten an. Einen Versuch war es wert. Em griff unter dem Tisch nach meiner Hand und zerquetschte sie fast. Mein Herz raste und Adrenalin schoss durch meine Adern. Emilias Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in meine Handfläche, bevor sie erleichtert ausatmete. Zu erleichtert, beinahe erfreut. Kurz wallte Wut in mir auf, doch ich schluckte sie hinunter und versuchte, mich für sie zu freuen.
»Louis Marchand«, erklang die Stimme von Mrs. Bigelow und all meine Hoffnungen wurden mit einem Namen zerstört.
Mein Traum von einem Elitecollege brach zusammen, während meine beste Freundin grinste wie ein Honigkuchenpferd. Erst Freitag hatte sie mir erzählt, wie gut Louis aussah, wie lässig er ging und wie intelligent er war. In ihren Augen war er ein Wunderknabe. Ein Mann zum Heiraten. Die nächsten Wochen mit ihm arbeiten zu dürfen, musste sie auf Wolke Sieben schweben lassen. Ich sollte Em nicht böse sein, weil sie nicht protestierte, sondern freudig nach vorne lief und sich ein Thema abholte. Deshalb grinste ich in ihre Richtung und hoffte, dass ich ebenfalls mit einer guten Partie belohnt werden würde.
Doch lange konnte ich das Lächeln auf meinem Gesicht nicht aufrechterhalten. Die Zahl der Schüler verringerte sich drastisch, bis mit mir nur noch vier übrig waren und die Uhr zwanzig Minuten vor Unterrichtsende anzeigte.
Verzweifelt blinzelte ich die Tränen weg, die meine Sicht verschwimmen ließen. Hinter mir saß noch Elizabeth Jones. Sie war eine Cheerleaderin, die nur Mode im Kopf hatte und mit jedem schlief. Gerüchten nach zu urteilen sogar mit anderen Mädchen aus ihrer Clique. Aber sie ließ sich leicht beeinflussen, weshalb sie als Partnerin nicht allzu schlecht wäre. Zumindest könnte ich das Projekt allein machen und ihr einreden, dass sie eine Bereicherung gewesen war.
Fünf Sitzplätze entfernt saß Jonathan Rue. Ebenfalls ein Spitzensportler an unserer Schule, obwohl er ein Ass in Mathematik und Chemie war. Von allen Übriggebliebenen wäre er noch die beste Wahl, weil er freundlich und zuvorkommend war und mir zur Hand gehen würde. Nicht so gut wie Em es könnte, aber doch genug, um eine gute Gemeinschaftsnote zu bekommen.
Als letztes blieb noch Alejandro, der am anderen Ende des Raumes saß. Seine Lederjacke lag locker über seinem Stuhl, während er gelangweilt mit einer Zigarette spielte. Es wirkte, als wäre ihm egal, was hier passierte, und ich war mir sicher, dass er der schlechteste Helfer dieser Welt sein würde. Ob er überhaupt eine Ahnung von Literatur hatte? Wahrscheinlich nicht. Und von logischem Zusammenfassen oder offenen Präsentationen verstand er wohl ebenfalls nicht viel. Ich würde sowohl Elizabeth als auch Jonathan bemitleiden, wenn sie ihn als Partner bekommen würden.
»Isabella Sawyer«, fing Mrs. Bigelow an und mein Puls beschleunigte sich.
Meine Hände wurden feucht und ich begann zu zittern. Ängstlich versuchte ich, meinen Blutdruck zu beruhigen, und setzte ein gespieltes Lächeln auf, damit niemand sah, wie wichtig mir diese Sache war. Diese Arbeit würde über den Rest meines Lebens entscheiden.
»Alejandro Gonzalez«, hallte Bigelows Stimme durch den Raum und mein Herz stolperte.
›Nein! Alles, nur das nicht. Kann ich diesen Tag bitte nochmal starten und in meinem Bett liegen bleiben? Scheiß auf meine hundertprozentige Anwesenheit.‹
Das durfte nicht passieren. Jede Lehrkraft an dieser Schule wusste, dass Alejo und ich uns nicht ausstehen konnten und eine Zusammenarbeit unmöglich war. Genauso gut hätte man neben einem Pulverfass rauchen können. Glaubte Bigelow wirklich, es wäre klug, den kriminellen Primaten und die Schulsprecherin miteinander in ein Team zu stecken?
Alejo schien ganz meiner Meinung zu sein, denn auch er blieb auf seinem Hintern sitzen und machte keine Anstalten, sich unser Thema abzuholen. Die Schüler hielten erschrocken den Atem an und Emilias Augen waren schreckgeweitet. Mitleidig verzogen sich ihre Lippen, während ich ihr gequält entgegensah. Stille legte sich über den Raum und ich sah abwechselnd zwischen Bigelow und Alejandro hin und her. Niemand rührte sich.
»Ähm, muss das sein?«, feixte Alejo lachend, als hätte er den Ernst der Lage noch nicht begriffen.
»Stimmt etwas nicht, Gonzalez?«, wollte die Lehrerin lauernd wissen und betrachtete den Schüler durch ihre gigantische Brille, die ihre Augen wie eine Lupe vergrößerte.
»Ja. Ich will nicht mit der Prinzessin arbeiten. Sie ist immer so unentspannt«, erläuterte er wenig charmant und ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht, als ich sein angeekeltes Gesicht sah.
Die Art, wie er das Wort unentspannt betonte, ließ mich rasend werden vor Wut. Es hinterließ einen faden Nachgeschmack in meinem Mund und erinnerte mich daran, dass Mord bei manchen Menschen durchaus eine Option darstellen sollte.
»Das tut mir leid, dann sollten Sie sich darauf einstellen, den Kurs nicht zu bestehen«, meinte die Lehrkraft zuckersüß und mir rutschte das Herz in die Hose.
Ich durfte nicht durchfallen. Eine schlechte Note war eine Sache, aber den Kurs nicht bestehen? Meine Mom würde mich nicht nur enterben. Sie würde mich aus der Stadt jagen.
»Mrs. Bigelow, ich bin mir fast sicher, dass mein Dad es nicht gutheißen wird, wenn ich mit einem Kerl aus einer Gang, der offensichtlich Drogen konsumiert, mich vergewaltigen könnte und besser in der Jugendstrafanstalt aufgehoben wäre, zusammenarbeite. Daher bitte ich Sie, uns neu einzuteilen, auch wenn dadurch die Teams neu gemischt werden müssen«, versuchte ich, die Wahnsinnige zu überreden, aber sie schüttelte nur den Kopf, während sie die Augen verdrehte.
Um meine Worte zu bekräftigen, erhob ich mich und ging ein Stück vor, sodass ich vor dem Lehrerpult stand, um nicht durch den Raum schreien zu müssen. Alejo hatte sich ebenfalls zu uns bequemt, nachdem er seine Lederjacke übergezogen hatte. Vielleicht würde sie sich breitschlagen lassen, wenn wir ihr die Situation zivilisiert erklären würden.
»Genau Mujer, zieh die Mein-Daddy-ist-Anwalt-Karte, dann bekommst du sicher wie immer, was du willst. Aber selbst wenn nicht würde ich dich kratzbürstige Nonne nicht einmal anfassen, wenn du mir Geld dafür zahlen würdest. Wer möchte schon ein steifes Brett in seinem Bett?«
Autsch! Das hatte gesessen. Wie war das noch gleich mit dem zivilisiert gewesen?
Erst als ich den Knall hörte, den meine Hand, die auf seiner Wange aufschlug, verursachte, wurde mir klar, dass ich Alejo geohrfeigt hatte. Mitten im Klassenzimmer. Vor allen anderen Schülern und einer Lehrperson. Schockiert starrte er mich an, als ihm bewusst wurde, dass er den Bogen dieses Mal überspannt hatte und zu weit gegangen war. Aber auch ich riss erschrocken meine Augen auf. So ein Verhalten war ich von mir nicht gewohnt. Wut kochte in meinem Blut und meine Handfläche pochte unangenehm. Tränen schossen erneut in meine Augen und diesmal konnte ich einen einzelnen Tropfen nicht zurückhalten.
Alejo legte eine Hand auf seine gerötete Wange und ging entsetzt einen Schritt rückwärts, als hätte er Angst, dass es nicht die einzige Ohrfeige bleiben würde. Einige Schüler lachten verlegen und andere atmeten zischend ein. Die Spannung im Raum war fast greifbar und ich wollte am liebsten weglaufen. Wo war das Loch im Boden, wenn man es brauchte?
Peinlich berührt starrte ich in die Gesichter meiner Mitschüler. Von Belustigung bis zu tiefer Betroffenheit war jedes Gefühl in ihren Mienen vertreten. Sofort schämte ich mich in Grund und Boden. Ich konnte spüren, wie die Trauer in mir aufstieg und ich musste mich zusammenreißen, um nicht doch noch loszuheulen. Das Klingeln, das die Pause einleitete, brachte wieder Bewegung in die Situation und rettete mich zum zweiten Mal an diesem Tag vor einer noch größeren Demütigung.
Alejo rieb sich übers Kinn und bewegte leicht den Kiefer, um zu testen, ob ich einen Schaden angerichtet hatte. Obwohl das völlig absurd war – ich war nicht annähernd kräftig genug, um seine Knochen zu brechen oder ihm einen Zahn auszuschlagen – blickte ich besorgt in seine Richtung. Mrs. Bigelow murmelte in ihren nicht vorhandenen Bart, dass sie die Teams nicht mehr verändern würde, und schickte uns in den nächsten Unterricht. Noch einmal hätte ich mich auch nicht getraut nachzufragen.
So schnell mich meine Beine trugen, rannte ich in den Kunstsaal. Ich war froh, vor den neugierigen Augen der Schüler flüchten zu können, die hinter meinem Rücken aufgeregt tuschelten. In wenigen Minuten würde ich Alejandro nicht mehr geschlagen haben, weil er ein beleidigender Schuft war. Stattdessen würde behauptet werden, dass er mit meinem nicht vorhandenen Freund geschlafen hat, ich gleichzeitig von ihm ein Kind erwarte und jetzt mit seiner neuen Flamme eine Beziehung starte. Und das war nur die Spitze des Eisbergs.