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b) Die Gründe des Chefarzt-Urteils

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Das auf das Revisionsurteil hin angerufene BVerfG stellte fest, dass die Arbeitsgerichte erneut die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Kirche verkannt und verletzt hätten. Das Gericht bestätigte in einer deutlich umfangreicheren Begründung die Wertungen des Stern-Urteils und präzisierte die zweistufige Prüfung:

Auf der ersten Stufe habe das Arbeitsgericht eine „Plausibilitätskontrolle“ vorzunehmen und zu prüfen, „[…] ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrages [teilhabe], ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes [sei] und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis […]“ zukomme.363 Sodann folge auf der zweiten Stufe eine Gesamtabwägung im Sinne der Schranke der „für alle geltenden Gesetze“, bei der „im Lichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ die sich widersprechenden Rechtspositionen in einen Ausgleich zu bringen seien.364 Auf Seiten der Arbeitgeberin seien dies ihre kirchlichen Belange und die korporative Religionsfreiheit, auf Seiten des Arbeitnehmers dessen Grundrechte (Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG365) sowie dessen sonstige, einfachgesetzlich normierten Schutzrechte.366

Soweit nach der Stern-Entscheidung noch offen und streitig gewesen war, ob die Gerichte bei ihrer Abwägung entgegenstehende Arbeitnehmergrundrechte zu berücksichtigen hätten367, beantwortete das BVerfG die Frage durch die Nennung einzelner Arbeitnehmergrundrechte, die mit der kirchlichen Position in einen schonenden Ausgleich zu bringen seien.368 Arbeitsgerichtliche Regelungen müssten, soweit sich die Kirche ihrer bediene, „[…] im Lichte der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung zugunsten der kirchlichen Selbstbestimmung […]“ ausgelegt werden, selbst wenn es sich um zwingende Regelungen handle. Dem Selbstverständnis der Kirche sei insoweit ein „besonderes Gewicht“ beizumessen.369

Bei der Überprüfung von arbeitsrechtlich relevanten Loyalitätsobliegenheiten hätten die Arbeitsgerichte den „organischen Zusammenhang“ der Statusrechte aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV und dem Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu beachten und umzusetzen.370 Dem kirchlichen Arbeitgeber obliege es, plausibel dazulegen, inwieweit eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit aufgrund der gemeinsamen Glaubensüberzeugung oder Dogmatik verlangt werden müsse, wobei das Gericht ggf. ein kirchenrechtliches Sachverständigengutachten einzuholen habe.371 Die so gewonnene Wertung habe das Gericht im Rahmen der Grenzen der Rechtsordnung seiner Entscheidung zugrunde zu legen, ohne eine eigene Einschätzung hinsichtlich der Gefährdung der Glaubwürdigkeit durch einen Verstoß oder hinsichtlich der Nähe der Arbeitnehmerfunktion zum kirchlichen Sendungsauftrag vorzunehmen.372 Der eigenständigen Überprüfung des Tätigkeitsbezugs einer nach Konfession der Mitarbeiter differenzierenden Loyalitätsanforderung durch die Arbeitsgerichte erteilte das BVerfG eine klare Absage:

„Den staatlichen Gerichten ist es insoweit verwehrt, die eigene Einschätzung über die Nähe der von einem Arbeitnehmer bekleideten Stelle zum Heilsauftrag und die Notwendigkeit der auferlegten Loyalitätsobliegenheit im Hinblick auf Glaubwürdigkeit oder Vorbildfunktion innerhalb der Dienstgemeinschaft an die Stelle der durch die verfasste Kirche getroffenen Einschätzung zu stellen […].“373

In der Abwägungsentscheidung auf der zweiten Stufe wirke sich u.a. aus, ob dem Arbeitnehmer die Loyalitätsanforderung bei dem Verstoß bekannt gewesen war, da mit der bewussten Unterwerfung unter die kirchlichen Anforderungen auch ein freiwilliger Verzicht auf gewisse Freiheitsrechte einhergehe.374 Das BVerfG stellte ferner klar, dass das Arbeitsrecht keine absoluten Kündigungsgründe kenne und daher stets eine den Wechselwirkungen der widerstreitenden Rechtspositionen Rechnung tragende Abwägung zu erfolgen habe.375 Obgleich dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche kein prinzipieller Vorrang vor den Arbeitnehmergrundrechten gebühre, sei ihm dabei ein „besonderes Gewicht“ beizumessen.376 Diese modifizierte Abwägung harmoniere auch mit den Wertungen des Art. 11 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 9 Abs. 1 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR.377

Die Integrationsfestigkeit des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG

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