Читать книгу Nebel - Ein Reich ohne Schatten - Lisa Merkens - Страница 12

Großmutter

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„Mama, muss das sein?“ Es ist der Nachmittag des Tages, an dem irgendwie alles ganz falsch gelaufen ist, und ich sitze mit meiner Mutter und unserem Fahrer im Auto. Wir sind auf dem Weg zu meiner Oma ... äh, Pardon, Großmutter.

„Ja, Schätzchen, das muss sein! Wir haben meine Mutter jetzt schon zwei Wochen nicht gesehen“, entgegnet Mama entschieden.

„Und weshalb können wir nicht einfach shoppen gehen oder so? Das ist viel interessanter ... und außerdem ...“

Meine Mutter unterbricht mich: „Aber du gehst praktisch jeden Tag shoppen, und dass wir meine Mutter besuchen, kommt wirklich deutlich seltener vor, und jetzt hat sich Fernando ja auch noch Zeit genommen.“ Fernando ist unser Fahrer, obwohl das eigentlich bloß sein „Künstlername“ ist.

„Aber wir können doch einfach in einen anderen Stadtteil von Berlin gehen, um da zu shoppen, und da kann uns Fernando ja hinbringen ...“

„Ich weiß nicht, warum ich mich vor meiner eigenen Tochter rechtfertigen muss!“ Die Stimme meiner Mutter ist schneidend und kalt. Hätte ich ein bisschen genauer auf ihren Tonfall geachtet, hätte ich Mama nicht einfach so widersprochen.

„Aber es war schon in der Schule so bescheuert und da muss der Tag doch nicht genauso bescheuert weitergehen!“

„Fernando, Sie müssen jetzt links abbiegen, Sie könnten doch einfach Ihr Navigationsgerät einschalten, dann muss ich nicht das Ihre spielen.“ Das ist die einzige Antwort, die mir Mama auf meinen Einwand hin gibt.

„Aber Frau von Schwarzberg ... Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass das alte Navigationsgerät kaputtgegangen ist und ich bis jetzt noch keine Zeit hatte, ein neues zu kaufen.“ So führen meine Mutter und Fernando ein mehr oder weniger hitziges Gespräch über das Navigationsgerät, das aus recht unerfindlichen Gründen nicht mehr funktioniert, während ich nur auf meinem Rücksitz vor mich hin gammele.

Meine Oma heißt Jasmin von Schwarzberg. Sie ist die Mutter meiner Mutter, und seltsamerweise hat meine Mama sich meinem Vater gegenüber durchgesetzt und er hat ihren Namen angenommen. Jasmin von Schwarzberg gilt als wunderliche Frau, die mit dreiunddreißig plötzlich auf unerklärliche Weise verschwunden ist, und als sie zurückkehrte, hat sie ihren Mann verlassen und sich bloß noch zwangsweise um ihre Tochter gekümmert. Angeblich soll sie vor diesem Verschwinden sehr auf ihr Äußeres bedacht gewesen sein, immer viel Geld in der Tasche gehabt und so wie wir mitten in Berlin gewohnt haben. Auch sonst soll sie mir und meiner Mutter sehr geähnelt haben. Das sagt sogar meine Mutter, aber nach diesem Verschwinden soll alles anders geworden sein. Plötzlich hat sich meine Oma für Naturschutzgebiete, Umweltschutz und soziale Probleme interessiert, was sie sehr zu meinem Leidwesen noch immer tut, und ihr Geld an gemeinnützige Organisationen gespendet, und zwar nicht, weil es angesagt ist, sondern weil sie helfen will. Alles soll anders gewesen sein und das Seltsamste ist, dass sie angeblich nicht sagen kann, wo sie gewesen und wie sie verschwunden ist, genauso wenig, wie sie sagen kann, wie sie wieder zurückgekehrt ist. All diese Dinge sind große, vollkommen im Schatten liegende Geheimnisse.

Ob ich das glaube?

Nun, Fakt ist, dass meine Oma – ’tschuldigung, Großmutter – vor ihrem Verschwinden tatsächlich so gedacht hat wie wir und dass niemand weiß, wo sie gewesen ist. Die Gerüchte, dass sie durch ein Double ersetzt worden oder gestorben und wieder auferstanden sei, bezweifele ich, aber leider ist meine Großmutter eine sehr wunderliche, alte Frau und ich bange um ihren Verstand.

Ich setze, wie immer wenn wir bei meiner Großmutter sind, mein undurchsichtiges, gekonntes Lächeln auf, allerdings verrutscht es mir ein wenig. Ich bin mir sicher, dass meine Großmutter dies überhaupt nicht wahrnehmen wird, schließlich ist sie eine verrückte, alte Frau. Allerdings scheint zumindest für einige Augenblicke doch alles zu sein wie sonst. Natürlich habe ich nicht vergessen, was in der Schule passiert ist, aber es ist in den Hintergrund meines Denkens gerutscht und ich will mich auf das konzentrieren, was vor mir liegt: ein aufregender und vielleicht auch ein wenig verrückter Nachmittag bei meiner Großmutter, bei der ich mir hundertprozentig sicher bin, dass sie eine Schraube locker hat.

Fernando öffnet meine Tür, lächelt mir freundlich zu und sagt ein wenig scherzhaft: „Wenn die Dame nun aussteigen wolle!“

„Kommst du, Resa?“, ruft meine Mutter. Sie steht bereits auf der kleinen Treppenstufe des Landhäuschens meiner Großmutter und beugt sich vor, um diese – sehr förmlich – auf beide Wangen zu küssen. „Der Kaffee wird kalt!“ Ich hasse es, wenn meine Mutter so tut, als wäre ich schwer von Begriff, und ich ärgere mich auch über mich selbst, dass ich so lange in Gedanken war und nicht ausgestiegen bin.

Ich schiebe mit einem Ruck die Beine aus dem Auto, und als ich vor der Treppenstufe stehe, höre ich Fernando mit dem Auto wegfahren. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, mich umzudrehen. Stattdessen trete ich auf meine Großmutter zu und umarme diese. Ich finde, ich könnte sie wirklich Oma nennen, aber das darf ich ja nicht und meine Mutter nimmt alles sehr ernst, wenn es darum geht, die Wünsche meiner Großmutter zu erfüllen. Anscheinend denkt sie, meine Großmutter wird so vielleicht wieder ihren Verstand zurückerlangen.

Als sich meine Oma – sorry, Großmutter – aus meiner Umarmung befreit, die sehr steif gewesen ist, beugt sie sich vor und sieht mir prüfend in die Augen. Dann murmelt sie so leise, dass außer ihr selbst nur ich es hören kann: „Kind, Hass ist nicht gut, er lässt uns eigennützig und unüberlegt handeln.“

Was habe ich über den Geisteszustand meiner Großmutter gesagt?

„Möchtest du noch Kaffee, Malena?“ Die Frage meiner Großmutter ist an Mama gerichtet, die daraufhin den Kopf schüttelt und freundlich erwidert: „Nein, danke.“

„Wirklich nicht?“, hakt sie nach.

„Nein wirklich nicht. Weißt du, ich mache gerade zwar keine Diät, dennoch ich muss auf meine Figur achten und da kann ich nicht Milchkaffee en masse in mich hineinschütten. Das sieht man in drei Tagen sofort.“

„Aber er muss weg“, entgegnet meine Großmutter sehr freundlich, die Augenbraue fragend nach oben gezogen. Doch danach fährt sie ebenso freundlich wie zuvor fort: „Wenn du nichts möchtest, nehme ich den Rest, oder möchtest du, Resa?“

„Nein, danke. Erstens nicht, weil ich keinen Kaffee mag, und zweitens, weil er meiner Figur ebenso schadet wie Mamas.“

Meine Großmutter zieht bei dieser Antwort überrascht die zweite Augenbraue nach oben. „Du machst dir Sorgen um deine Figur? Ich würde sagen, du bist zu dünn und nicht zu dick.“

„Ich habe auch nicht gesagt, dass ich zu dick bin, ich meinte nur, dass ich nicht zunehmen darf.“ Meine Stimme ist scharf und eiskalt.

„Also, ehrlich gesagt, Malena, ich finde, du solltest dir wirklich Sorgen um das Wohlbefinden deiner Tochter machen. Sie ist einfach zu dünn.“

Insgeheim denke ich: „Gut, dann muss ich mich nicht drum kümmern, darf Mama sich damit rumärgern.“

„Lass sie doch einfach, Jasmin. Es ist ihre eigene Sache, wir mischen uns schließlich auch nicht in deine Sachen ein.“ Meine Mutter klingt wie immer freundlich und höflich, aber auch energisch und distanziert. Ihrer Meinung nach ist das einer der besten Wege, etwas zu erreichen. Stets schön freundlich bleiben und hinter dieser Fassade schon mal schön Druck aufbauen, sodass dem Gegenüber gar nichts anderes übrig bleibt, als zuzustimmen.

„Natürlich ist es ihre Sache.“ Meine Großmutter scheint noch nicht mal am Rande das Gefühl zu haben, dass sie unter Druck steht. „Allerdings würde ich mir an deiner Stelle ernsthaft Sorgen um sie machen, und ich sage dir, wenn sie so weitermacht, wird sich das denkbar schlecht auf ihre Gesundheit auswirken, ich spreche aus Erfahrung.“

„Ja, das mag sein, und dennoch mache ich mir keine Sorgen um sie, weil ich ihr vertraue.“ Meine Mutter beißt sich ein wenig auf die Unterlippe, wie immer wenn sie wütend ist, aber sonst ist ihr nichts anzusehen. Man muss sie schon sehr gut kennen, um das zu sehen.

„Großmutter, weißt du, wie es deinen Geschwistern geht?“ Ich habe keinen Bock auf einen Streit zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter, und so einfach funktioniert die Ablenkung. Es klappt jedes Mal.

„Schätzchen?“

„Ja, Mama?“ Ich sehe meine Mutter fragend an.

Diese erhebt sich von ihrem Stuhl und sagt: „Weißt du, ich muss noch mal los, einige Dinge einkaufen, und ich kann dich dahin nicht mitnehmen, deshalb könntest du vielleicht hierbleiben. Natürlich nur, wenn das geht, Jasmin?“

Meine Mutter klingt schon so, als rechne sie fest mit Protest. Und den bekommt sie auch.

„Aber Mama, ich mag nicht hierbleiben!“, jammere ich mit dem Ton einer Sechsjährigen, die im Laden vor einer Barbiepuppe steht, die ihr keiner kaufen will.

„Aber ich kann dich nicht mitnehmen, Schätzchen!“ Meine Mutter fährt mir durch die blonden Haare – ich hasse das!

„Lass deine Finger aus meinen Haaren!“, schnauze ich schon fast automatisch.

„Also, von mir aus kann Resa gern dableiben“, mischt sich nun auch meine Großmutter mit ein. „Wir werden uns gut amüsieren, nicht wahr?“ Sie zwinkert mir lächelnd zu.

Jetzt will ich überhaupt nicht mehr dableiben, nicht, wenn sich meine Großmutter schon überlegt, was wir machen können. Jetzt bekomme ich richtig Angst. Vorhin ist es reine Bockigkeit gewesen, wegen der ich nicht habe herkommen wollen. Ich habe einfach keine Lust gehabt. Ich habe mich allerdings innerlich schon damit abgefunden dazubleiben, auf dem Sofa zu liegen, mit den Stöpseln meines nagelneuen iPods in den Ohren, doch nun habe ich richtige Angst!

„Mama, ich will aber nicht hierbleiben!“ Ich klinge geradezu weinerlich.

„Ach, Schätzchen!“ Meine Mutter fährt mir wieder durchs Haar, woraufhin ich mit meiner Gabel nach ihren Fingern schlage. „Ach, Schätzchen!“, seufzt meine Mutter noch ein zweites Mal. „Ich kann dich nicht mitnehmen, hier geht es um Geschäfte, die nur abgewickelt werden dürfen, wenn man zu zweit ist, sie gehen dich nichts an und du darfst nicht mitkommen.“

Es ist nicht zu überhören, dass ich ihr keinen Kompromiss abringen kann, trotzdem versuche ich es.

„Mama, kann mich nicht Fernando abholen?“, bettele ich.

Meine Mutter hat schon einen Widerspruch auf der Zunge liegen und hebt bereits an, mich streng zu ermahnen, wahrscheinlich gefolgt von einer Drohung, die sie wohl auch wahr machen wird, wenn ich jetzt nicht anständig bin.

„Resa, du hast es gehört, deine Mutter hat wichtige Geschäfte zu erledigen, bei denen du nicht dabei sein solltest. Bleib doch einfach hier. Das ist das Beste für alle Beteiligten.“

Mir steht der Mund offen! So ruhig und dennoch so entschieden habe ich meine Oma – Pardon, Großmutter – noch nie reden gehört. Das ist dermaßen entschlossen gewesen, dass ich es nicht wage, ihr auch nur ansatzweise zu widersprechen.

Meine Mutter nickt, steht nun endgültig auf, schultert ihre Umhängetasche und verabschiedet sich mit zwei Küsschen auf die faltigen Wangen bei meiner Großmutter und einer kurzen Umarmung bei mir.

Ich zucke zusammen, als die Tür mit einem Rums ins Schloss fällt. Ich habe Angst vor der alten Frau, die mich freundlich anlächelt. Mir kommt es vor, als wäre es das Lächeln einer Hexe, das heimtückische Grinsen einer Kannibalin, bevor sie ihr Opfer brutal verschlingt. Ich fürchte mich vor der Frau, die jetzt den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse schlürft, diese dann abstellt und sich mit einem kurzen Ächzen von ihrem Stuhl erhebt. Ich erzittere vor der Frau, die nun auf mich zukommt, die Hände ausgestreckt, als wolle sie mich gleich damit schnappen, festhalten, zerdrücken, zerfleischen, kurz gesagt, qualvoll töten. In diesem Moment habe ich die schlimmsten Gedanken. Ich befürchte, meine Großmutter könnte für mich nun lebensbedrohlich werden, und in diesem Moment überlege ich wirklich, ob ich entweder mit dem Teller, der vor mir auf dem Tisch steht, das Fenster einschlagen oder mir einen Weg in den Flur und damit zu meinem Handy freikämpfen sollte, um die Polizei zu rufen.

„Bei dem, über das ich mit der reden will, handelt es sich um eine überaus ernste Sache.“ Das eröffnet mir meine Großmutter, als sie auf ihrem schäbigen, alten, wie ich finde, äußerst ekligen und dreckigen Sofa sitzt, die Beine übereinander geschlagen, den Blick direkt in meine Augen gerichtet, während ich noch mit mir selbst kämpfe. Ich will unbedingt hier raus, kann aber keinen Ausweg finden. „Es handelt sich hierbei um dein Talent und um deine Bestimmung, um das, was du dir zu deinem Lebensziel machen solltest, um das, was deinen Lebensweg leiten und bestimmen soll, immer wenn du an einer Weggabelung stehst.“ Ich sehe meine Großmutter an wie ein Auto. Was hat sie das denn zu interessieren? Schließlich hat sie schon immer eine ausgeprägte Abneigung Klamotten, dem Beliebtsein und dem Großstadtleben allgemein entgegengebracht, und das halte ich ja für meine Bestimmung und mein Talent.

Der Blick, mit dem sie mich mustert, wird intensiver. Er nimmt mich gefangen, zwingt mich, ihr zuzuhören, sie anzusehen, mich auf das zu konzentrieren, was sie mir sagt, obwohl ich noch fürchte, sie könnte tatsächlich zu der verrückten, Kinder fressenden Hexe werden, für die ich sie schon immer gehalten habe.

„Es geht hier um das, weswegen ich vor so vielen Jahren verschwunden bin“, fährt sie fort. Den Blick hat sie dabei zwar auf meine Stirn gerichtet, aber sie scheint nicht meine makellos faltenfreie Haut betrachten, sondern etwas, von dem ich keine Ahnung habe. „Ich kann dir nicht erklären, wo ich war ...“ Meine Großmutter klingt wehmütig, traurig, gepresst, so als würde es ihr Schmerzen bereiten, über diese überaus mysteriöse Sache zu sprechen. „Das darf ich niemandem erzählen ... Du brauchst dich nicht davor zu fürchten, wirklich nicht.“

Mir ist, als hätte sie meine Gedanken und Gefühle gelesen, meine Angst auf meine Stirn geschrieben gesehen.

„Ich war früher genauso wie du, stets darauf bedacht, total angesagt zu sein, immer auf der Suche nach dem bestaussehenden Jungen, ständig musste ich im Mittelpunkt stehen.“ Ihre Augen sind erneut abgeschweift. Ihr Blick klärt sich jedoch auch rasch wieder. „Doch das änderte sich, wie du ja siehst ...“ Sie weist mit einer Kopfbewegung zunächst auf sich selbst und dann auf den ganzen Raum, an dem man deutlich erkennen kann, dass sie sich nicht wirklich etwas aus den Dingen macht, die angesagt sind.

„Es änderte sich, als ich damals verschwand ...“ Sie klingt wehmütig, so als ob der Ort, an dem sie damals gewesen ist, ein schöner war. Dabei kann sie sich doch angeblich gar nicht daran erinnern. Doch ich wage es nicht, sie zu unterbrechen, in der Hoffnung, ihr Monolog halte sie davon ab, wieder verrückt zu werden.

Nun bohrt sich ihr trauriger Blick fest in meine Augen. „Resa, du bist eine würdige Erbin für das, was dieser Ort dir zeigen wird. Deine Mutter war es nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich spüre, dass sie nicht dasselbe Talent hat wie du. Sie ist ... anders ...“

Jetzt hat sie wirklich den Verstand verloren! Wovon schwafelt sie da? Und was soll ich erben?

Ich habe schon den Mund geöffnet, um sie das zu fragen, als sie sich zu mir vorbeugt, meine Hand nimmt, sie öffnet – ich habe sie aus lauter Angst zu einer festen Faust geballt –, etwas hineinlegt und sie wieder schließt. Dann sieht sie mir in die Augen und ich bemerke zum ersten Mal, wie traurig diese sind. Aber ich mache mir nichts daraus, mir ist egal, ob sie traurig ist oder nicht, und ich will ihr das, was sie mir in die Hand gelegt hat, am liebsten gleich wieder zurückgeben, wenn nicht sogar ins Gesicht schleudern. Doch der Blick meiner Großmutter zwingt mich dazu, zu schweigen und mich nicht zu rühren. Ich weiß nicht, woran es liegt.

„Resa, ich kann dir nicht viel darüber sagen, worum es hier geht. Du musst es selbst herausfinden, so wie ich damals, nur dass es bei mir aus reinem Zufall geschah. Du sollst ein bisschen besser darauf vorbereitet sein, denn“, sie macht eine kurze Pause, „es handelt sich hierbei um etwas, das noch wichtiger ist als dein Leben ... oder zumindest wichtiger als dein Tod ...“

Also damit kann ich rein gar nichts anfangen. Wieso denn mein Tod? In meinem Herzen verstärkt sich wieder der Drang, meiner Großmutter die Augen auszukratzen. Ich will einfach nichts hören, das wichtiger ist als ich selbst. Und dennoch gehorche ich. Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht ist es die Entschlossenheit, mit der sie spricht, vielleicht die Traurigkeit in ihren Augen, vielleicht die Leidenschaft in ihrer Stimme, als sie sagt: „Sieh dir an, was ich dir gegeben habe, und denk darüber nach.“

Ich öffne meine Faust und sehe eine kleine Spiegelscherbe.

***

Sie sieht aus dem Fenster in ihren Garten, so wie immer, wenn sie etwas bedrückt.

Es ist geschehen! Es ist passiert! Sie hat es tatsächlich getan! Ja, sie hat Resa wirklich die Spiegelscherbe gegeben!

Sie ist sich nicht sicher, ob sie darüber den Kopf schütteln oder das vollkommen in Ordnung finden soll. Doch es ist geschehen, es lässt sich nun nicht mehr ändern. Beinahe kann sie Lunas Stimme hören, wie sie dieselben Worte sagt. Aber hat sie recht? Kann sie es nun wirklich nicht mehr ändern? Und was ist mit ihr selbst? Hat sie das Richtige getan, indem sie ihrer Enkeltochter die Spiegelscherbe gegeben hat?

Die Antwort weiß einzig und allein die Zukunft.

Auch das hat sie Luna schon mehrfach sagen hören. „Du musst den Dingen vertrauen, und außerdem findet sogar ihr Menschen manchmal den richtigen Weg, manchmal entscheidet sogar euer Instinkt richtig!“

Aber ist es wirklich ihr Instinkt gewesen, der sie geleitet hat? Und wenn ja, ist es wirklich die richtige Entscheidung gewesen?

Nebel - Ein Reich ohne Schatten

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