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Innen sieht Philadelphias neues Criminal Justice Center keineswegs aus wie ein Gerichtsgebäude. Verspielte Bronzesterne, Schnörkel und Ornamente sind in den Boden der Eingangshalle eingelassen, und durch die Flure vor den Gerichtssälen ziehen sich auf einem fortlaufenden Band Bezeichnungen wie SANDSTRAND – MÖWEN – SALZLUFT – KÜHLE BRISE – LÖWENZAHN – MOOSIGE UFER. BRANDSTIFTUNG – PROSTITUTION – KALTBLÜTIGER MORD wären in einem Strafgericht weit eher am Platz, aber die Realität ist manchmal eben nicht lustig.

In dem protzigen Gerichtssaal, in dem die Anklageerhebung stattfindet, sitzen auf den schwarzen, von Designern gestalteten Bankreihen die Rauschgifthändler neben den Junkies, die Zuhälter neben den Huren und die Rechtsanwälte neben den Mandanten. Niemand außer mir sieht hier irgendwelche Parallelen, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich saß am Anwaltstisch neben einem nervösen Bill Kleeb und sah zu, wie Richter John Muranno die paar Stufen zu dem glänzenden Nußbaumpodium hinaufstieg und sich auf seinem Ledersessel zwischen den Flaggen der Vereinigten Staaten und des Commonwealth von Pennsylvania niederließ. Muranno, ein kleiner, stämmiger Richter mit Knollennase, präsentierte wie immer seinen märtyrerhaften Gesichtsausdruck, dem er den Spitznamen Papst Johannes verdankte.

»Mr. William Seifert Kleeb, sind Sie in diesem Gerichtssaal anwesend?« intonierte Papst Johannes, obwohl Bill ganz offensichtlich vor ihm saß. Es war das Frage-und-Antwort-Spiel der Verhandlungseröffnung, eine Messe, geschrieben von Anwälten und Richtern zum Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des Angeklagten, so daß wir ihn entweder rauspauken oder aber verurteilen können, wenn er arm oder schwarz war, insbesondere, wenn er beides war.

»Hier«, antwortete Bill und erhob sich halb. Ich schubste ihn den restlichen Weg bis zu voller Größe hinauf.

»Mr. Kleeb, ist das Ihre Unterschrift?« Papst Johannes wedelte mit der schriftlichen Aussage.

»Mhm. Ja.«

»Sind Sie diese Aussage mit Ihrer Anwältin durchgegangen?«

»Ja.«

»Stehen Sie gegenwärtig unter Drogen- oder Alkoholeinfluß?«

»Ne-ein.«

»Stehen Sie gegenwärtig unter dem Einfluß von Medikamenten?«

»Äh, nein.«

»Haben Sie diese Aussagen unter Drohungen oder nach Versprechungen unterschrieben?«

»Nein.«

Anschließend verlas Papst Johannes die Anklagepunkte gegen Bill, und ich beobachtete die Reaktion der zunehmend unruhiger werdenden Eileen Jenkins. Sie war einssiebenundfünfzig groß, hatte lange verfilzte schwarze Haare und wirkte sogar mit einem Arm in der Schlinge wie ein Killer. Sie zappelte auf ihrem Stuhl am anderen Anwaltstisch herum. Der Blick ihrer dunklen, runden Augen ruhte nie lange auf etwas, sondern schweifte unstet umher. Als Bill die abschließenden Fragen von Papst Johannes beantwortete, wurden ihre Augen schmal. Sie besaß genügend Gerichtserfahrung, um zu wissen, was als nächstes kam.

»Verstehe ich Sie recht, Mr. Kleeb, daß Sie sich im Sinne der gegen Sie erhobenen Anklage schuldig bekennen?«

»Ja, Sir«, antwortete Bill.

»Nein, das ist er nicht!« kreischte Eileen schrill und sprang von ihrem Stuhl auf. Ihr Pflichtverteidiger, ein verlebt aussehender junger Mann mit Dreitagebart, zog sie ruckartig an ihrem gesunden Arm zurück auf den Stuhl und versuchte, sie zu beruhigen. Ich berührte Bill am Ellenbogen, um ihm Unterstützung zu vermitteln, und er blickte stur geradeaus, wie ich es ihm eingetrichtert hatte. Die Zuschauer begannen miteinander zu reden, irgendwo ertönte Gelächter.

Papst Johannes fuhr fort, als hätte sich nichts Ungebührliches ereignet, denn so etwas stand nicht im Meßbuch. »Mr. Kleeb, legen Sie dieses Schuldbekenntnis ohne Zwang, freiwillig und aus freiem Entschluß ab?«

»Äh ja«, erklärte Bill, ruhiger als vorher, und wieder sprang Eileen auf. Sie wand sich im Griff ihres Anwalts, die Adern an ihrem Hals schwollen an.

»Bill, was, zum Teufel, tust du?« schrie sie. Zwei Deputies eilten zu ihr, und nur mit vereinten Kräften gelang es den drei Männern, sie auf ihren Stuhl zurückzudrängen. Sie fluchte, als einer gegen ihren gebrochenen Arm stieß. Die Zuschauer wurden lauter, und derselbe Mann wie vorhin lachte irre hinten im Raum.

Papst Johannes räusperte sich. »Sollte es erneut eine Unterbrechung dieser Verhandlung geben, sieht sich das Gericht gezwungen, die Angeklagte in Gewahrsam zu nehmen.«

»Das wird nicht nötig sein, Euer Ehren«, beschwichtigte der Pflichtverteidiger. Eileen begann trotz der sie flankierenden Deputies im Bühnenflüsterton hektisch auf ihren Anwalt einzureden.

»Mr. Kleeb«, fuhr der Richter, den Lärm übertönend, fort, »das Gericht nimmt Ihre Schuldanerkenntnis an. Aufgrund dieser Anerkenntnis sind Sie entlassen. Aus Ihrer Akte ersehe ich, daß Sie vorher noch nicht hier waren, und ich erwarte, daß das Gericht Sie nie wiedersieht. Vielen Dank, Mr. Kleeb.«

»Ja. Sir.« Bill sank auf seinen Stuhl, ohne Eileen oder mich eines Blickes zu würdigen. Seine Stirn war feucht, und er krallte die Hände ineinander, als hätte er immer noch Handschellen an.

»Miss Eileen Jennings, sind Sie in diesem Gerichtssaal anwesend?« fragte Richter Muranno.

»Ich bekenne mich nicht schuldig!« brüllte Eileen. Erneut stand sie auf, und dieses Mal ließ ihr Anwalt sie gewähren. Sie hatten offensichtlich nicht den besten Draht, deshalb ging ich davon aus, daß sie ihm nichts von ihrem Plan, den Manager betreffend, erzählt hatte. »Der Protest gegen die Quälerei dieser Tiere war mein gutes Recht, und diese Dreckschweine haben mich geschlagen, Euer Ehren! Sie haben mir meinen Scheißarm gebrochen und mich zusammengeschlagen! Sie haben sich einen Spaß daraus gemacht!«

Die Gesichter der an der Festnahme beteiligten Uniformen, die mit ihren blauen Hemden und Chromabzeichen neben Chromabzeichen in der Reihe hinter uns saßen, blieben gleichmütig. Ich kannte die meisten, nur zwei von ihnen hätten Eileen rein zum Spaß brutal in die Mangel genommen. Der Polizist, dem sie mit einem Stromstoß zu einem Krankenhausaufenthalt verholfen hatte, fehlte. Ich wußte, daß er am nächsten Tag entlassen werden würde und Widerklage erwog.

»Miss Jennings«, fragte Richter Muranno, »werden Sie von einem Anwalt vertreten?«

»Nein, ich habe einen Pflichtverteidiger«, antwortete sie, und ihr Anwalt zuckte zusammen. Er sah aus wie dreiundzwanzig, das Büro der Pflichtverteidiger holte die Leute direkt von der Universität und verschliß sie schnell. Jeder Pflichtverteidiger verhandelte an die fünfunddreißig Fälle pro Tag und bekam nicht selten die jeweilige Akte erst zur Verhandlung.

»Sie werden von einem Anwalt vertreten«, sagte Papst Johannes und verlas die Punkte der Anklage. Er unterzog Eileen dem Prozedere des Meßbuchs und hielt bei jeder unverschämten Antwort die andere Wange hin. Er nahm Eileens »Nicht schuldig« an, setzte einen Verhandlungstermin fest, der, wie alle wußten, illusorisch war, schlug mit dem Hammer auf das Pult, Amen, und veranlaßte die Deputies, Eileen in die State Road zu bringen.

Eileen blickte nicht zurück, aber Bill beobachtete ihren Abgang, und kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, schoß er hoch wie der Blitz. »Ich muß gehen.« Seine Stimme zitterte. Als er mir die Hand schüttelte, hielt er das Gesicht abgewandt.

»Sie haben das Richtige gemacht«, versicherte ich ihm, aber er reagierte nicht darauf, sondern drehte sich um und eilte hinter die Schranke des Gerichts. »Bill?« rief ich ihm nach, aber er stürmte noch vor Eileens Anwalt, der unter seinem nadelgestreiften Arm einen Stapel roter Aktenschnellhefter schleppte, aus dem Gerichtssaal. Rasch griff ich nach meinem Aktenkoffer und hetzte hinter dem Pflichtverteidiger her. Ich erwischte ihn auf dem Flur, in dem sich Menschen drängten, denen das Bürgerrecht entzogen worden war und die nun auf ihre Vernehmung zur Anklage warteten. SANDSTRAND, du lieber Gott.

»Sind Sie wirklich Bennie Rosato?« fragte der Pflichtverteidiger, während ich neben ihm in Gleichschritt fiel.

»Nein, die ist noch größer. Sie hatten da drin ganz schön was auszustehen.«

»Kann man wohl sagen.« Mit seitwärts gedrehten Schultern schlängelte er sich durch die Menge. »Übrigens, Glückwunsch zu dem Urteil, ich habe die Sache in den Zeitungen verfolgt. Mann, zehn Bullen gegen einen, oben im Nordosten. Die Polizeiberatungsstelle ist ein Witz, nicht wahr?«

»Hören Sie, wegen Jennings ...«

»Ich wollte Sie immer schon mal kennenlernen. Ich weiß noch, wie Sie bei uns an der Fakultät einen Vortrag gehalten haben. Letztes Jahr, in Seton Hall.«

Ich hastete an einer wohlriechenden Versammlung von Huren vorbei. »Haben Sie überhaupt mit Jennings gesprochen?«

»Jennings?«

»Eileen Jennings, Ihre Mandantin.«

»Sie ist nicht mein Fall, ich bin nur eingesprungen.«

»Wessen Fall ist sie?«

»Abrams, er hat gerade eine Verhandlung.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Mist. Ich hätte vor zehn Minuten oben sein sollen.«

»Ich möchte, daß Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich Eileen Jennings für gefährlich halte.«

»Machen Sie Witze?« Geschickt wich er einer Horde Polizisten aus. »Sie redet nur, da steckt nichts Handfestes dahinter.«

»Und was ist mit diesem Elektroschockgerät?«

»Ha! Mein Chef will, daß ich das Ding für die Weihnachtsparty aus der Asservatenkammer klaue.«

Eine Familie mit Kleinkindern im Schlepptau zwängte sich zwischen uns durch, und ich wartete, bis ich meine nächste Frage stellte: »Wissen Sie, ob sie im Besitz einer Schußwaffe oder von Sprengstoff irgendwelcher Art ist?«

»Das ist nicht mein Fall.«

Ich ergriff seinen Arm. »Sie haben die Akte übernommen, also übernehmen Sie ein bißchen Verantwortung. Sie müssen feststellen, ob Sie tatsächlich gefährlich ist. Haben Sie verstanden?«

»Ich mache einen Vermerk, okay?« Er entzog mir seinen Arm, eilte desillusioniert davon und tauchte zwischen dem Gesindel vor den Aufzügen unter.

Ich blieb stehen und ließ die Menge an mir vorüberfluten. Der Pflichtverteidiger machte sicher keinen Vermerk. Und selbst wenn, würde dieser im Meer von Vermerken, im Meer von Akten untergehen. Aber die Akten waren Menschen. Schwarze und Weiße, Verrückte und Gesunde, Große und Kleine, auch die, die in eben diesem Moment an mir vorbeidrängten. Die meisten von ihnen standen auf du und du mit Feuerwaffen, Kindesmißbrauch, Messern, Drogenabhängigkeit und Einbruchswerkzeug. Sie strömten herein, verstopften Eingänge und Flure – zu Akten und schließlich zu Statistiken degradierte Menschen, aus denen das Leben und die Menschlichkeit gezapft worden war.

Einen Augenblick lang fühlte ich mich überwältigt und dachte, es gäbe nichts, was ich dagegen tun könnte, egal, wie sehr ich mich auch anstrengte. Nicht einmal, wenn ich in bezug auf Eileen recht behalten, nicht einmal, wenn ich mich täuschen sollte. Denn tausend andere warteten darauf, ihren Platz einzunehmen, brannten darauf, die Waffe anzulegen. Sie stehen Schlange wie die Vizepräsidenten. Und man würde ihnen ebenfalls mit Gewalt begegnen, mit einer Gewalt, die sowohl das Gesetz als auch Waffen einsetzte. Ein Krieg tobte, wahrhaftig, eine regelrechte Schlacht. So klar und deutlich ich das empfand, ich wußte trotzdem nicht, auf welcher Seite ich stand. Ich befand mich in der Mitte, auf hoher See.

Ruderte wie wild und sah kein Land.

Rudern ist kein Alibi

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