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Ich öffnete das Holzportal zum Bürohaus von R & B, und sofort stellte sich ein vertrautes Gefühl ein. Ich war daheim. Mark und ich hatten das Haus mit Geld von seiner Familie als leeres Klinkersteingerippe gekauft, es zu Kanzleibüros umgebaut und den Kredit zurückgezahlt. Ich schmirgelte und polierte die Hartholzböden; Mark zog die Trockenmauer hoch. Die Wände und Fußleisten strichen wir goldgelb, und ich richtete die Büros mit weichen Sesseln, Beistelltischchen aus Kiefernholz und freundlichen Aquarellen gemütlich ein.

»Hallo, Bennie«, grüßte mich Marshall hinter der halbhohen Scheibe am Empfang. Sie hatte ihre dunkelblonden Haare zu einem Zopf geflochten, und ihr Baumwollkleid verhüllte eine so zarte Figur, daß man ihr kaum zutraute, das kleinste bißchen Verantwortung zu tragen. In Wahrheit war Marshall bei R & B Empfangsdame, Verwaltungschefin und Buchhalterin in einer Person und führte das kleine Büro hinter dem Empfangsfenster wie Stalin.

»Warum sind Sie nicht in der Mittagspause, Lady?« fragte ich.

»Zuviel zu tun. Auch für Sie eine Unmenge Anrufe.« Sie reichte mir einen Stapel gelber Zettel. R & B stand in supermoderner Schrift oben auf unserem internen Papier. Für das Moderne war Mark zuständig, ich hielt es mehr mit dem Gemütlichen.

»Dann gehen Sie eher nach Hause, ja? Gehen Sie um vier, ich kümmere mich um alles.« Ich wollte nicht, daß Marshall auch noch zum Feind überlief. Abgesehen davon, daß sie das Büro bestens organisierte, fühlte ich mich in ihrer Gegenwart auf eine Art und Weise wohl, wie es bei den Mitarbeitern nicht der Fall war, zu denen ich professionelle Distanz hielt.

»Wirklich? Könnte gut sein, daß ich von diesem Angebot Gebrauch mache. Ich muß mich nämlich als Brautjungfer ausstaffieren lassen.« Sie verdrehte die blauen Augen.

»Rosa oder türkis?«

»Türkis.«

»So ein Glück.«

»Richtig.«

Das Telefon läutete, sie griff nach dem Hörer, und ich marschierte mit meinen Notizzetteln den Flur entlang und hielt nach Mitarbeitern Ausschau. Der Flur war leer, deshalb machte ich einen Abstecher in die Bibliothek, die gleichzeitig als Besprechungszimmer diente. Niemand da. Der runde, egalitäre Konferenztisch, umgeben von dicken juristischen Büchern, deren aneinandergereihte goldgeprägte Bandnummern schimmernd aufleuchteten, war leer. Vielleicht waren die Mitarbeiter beim Mittagessen. Oder bei Vorstellungsgesprächen.

Ich verließ die Bibliothek, ging den Flur zurück und stieg die Wendeltreppe hoch, um einen Blick in die Büros im oberen Geschoß zu werfen. Alle waren gleich groß, keines war kleiner als das von Mark oder mir, und jeder Mitarbeiter hatte zur Ausgestaltung seines Büros einen Zuschuß von tausend Dollar bekommen. Aufgrund unserer sexy Anzahl von Fällen und unserem liberalen Führungsstil zogen wir die besten und gescheitesten Absolventen der juristischen Fakultäten der Gegend – Penn, Temple, Widener und Villanova – an. Unsere Mitarbeiter waren bereits sämtlich in der Law Review erwähnt oder standen kurz davor, und wir bezahlten sie wie die Halbgötter, für die sie sich hielten. Worüber hatten sie sich zu beklagen? Und wo, zum Teufel, steckten sie?

Ich ging den Flur entlang und schaute in ein verlassenes Büro nach dem anderen. Sie hatten allen möglichen Mist an die Wände gehängt, und ich hatte keinen Piep dazu gesagt. Bob Wingates Büro war eine Gedenkstätte für Jerry Garcia; Eve Eberleins Büro war neu in femininem Chintz hergerichtet worden. Das einzige sachlich-nüchterne Büro gehörte Grady Wells, einem Fan des Sezessionskrieges. Es war schlicht möbliert, und an den Wänden hingen in Holzrahmen alte Karten von Schlachtfeldern. In der Ecke stand ein Kartenschrank mit schmalen Schubfächern, aber Grady war nicht in seinem Büro.

Niemand war da, nirgends. Ich erwog, herumzuschnüffeln, um festzustellen, ob irgendwo irgendwelche Lebensläufe herumlagen, aber ich verwarf den Gedanken. Ich war der Freiheit des einzelnen verpflichtet. Außerdem hätte man mich ertappen können.

Ich marschierte in mein eigenes unordentliches Büro, schleuderte meine Pumps auf den Dhurrie-Teppich und schob einige Papiere beiseite, damit ich mich in den gemütlichen kastanienbraunen Ohrensessel hinter meinem Schreibtisch kuscheln konnte. Ein Mandant sagte einmal zu mir, meine Schlampigkeit sei das Kennzeichen des echten Gesetzlosen, aber er täuschte sich. Ich war einfach nur schlampig, da steckte nichts Politisches dahinter.

Ich schloß eine rachitische Schreibtischschublade auf und holte die Computerausdrucke mit den Arbeitsstunden der Mitarbeiter heraus. Wer am härtesten arbeitete, war möglicherweise am unglücklichsten. Ich ging die Liste durch, ignorierte die Verwaltungsstunden und sah mir nur die in Rechnung gestellten Stunden an. Fletcher, Jacobs, Wingate. Die meisten stellten Rechnungen über zweihundert Stunden im Monat aus. Harte Zeiten, allen konnte elend zumute sein. Sogar Eve Eberlein hatte bereits hundertneunzig Stunden. Ich versuchte, nicht daran zu denken, welche Art von Aktivitäten ihr alle anrechenbar erschienen.

Ich blätterte zu den Vormonaten zurück. Die Zeiten waren ähnlich, nur Renee Butler, die im April eine anstrengende Verhandlung vor dem Familiengericht hinter sich gebracht hatte, fiel aus dem Rahmen. Renee war Eves Mitbewohnerin, seit die beiden im selben Jahr wie Wingate von der Penn abgegangen waren, aber die beiden Frauen hätten nicht unterschiedlicher sein können. Renee war schwarz, etwas übergewichtig und widmete sich hingebungsvoll ihrer Arbeit, Fällen von Mißbrauch in der Familie. Sie war der Inhalt von Eves Form. Zählte Renee zu den Mitarbeitern, die uns verlassen wollten? Gab es eine Möglichkeit, das herauszufinden?

Natürlich.

Ich warf die Liste mit den Arbeitsstunden auf den Schreibtisch und ging durch das Zimmer zu den auf ihre Art unvergleichlichen Bücherregalen an der Wand. Darauf lagen Fachzeitschriften und wissenschaftliche Abhandlungen in wildem Durcheinander mit Zeitungsausschnitten und Nachdrucken. Ich hatte keine Ahnung, wo ich das Anwaltshandbuch hingelegt hatte. Mein Blick überflog die vollgestopften Regalfächer.

Hurra! Ich zerrte das Buch aus dem Regal, fand die entsprechende Seite und griff zum Telefon. »Meyers Stellenvermittlung?« fragte ich mit schwacher Stimme, als sich eine Frau meldete. »Ah ... ich brauche wahrscheinlich bald einen neuen Job und würde gern einmal mit jemandem darüber reden.«

»Bleiben Sie bitte dran«, sagte sie, es klickte im Telefon, und eine andere Frau mit professionell säuselnder Stimme war am Apparat. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, ich rufe von R & B, Rosato & Biscardi an. Ich glaube, ich muß mich nach einer neuen Stellung umsehen.«

»Mit wem spreche ich?«

»Ich, äh, das kann ich nicht sagen. Ich würde sterben, wenn meine Chefin dahinterkäme. Mit ihr ist nicht gut Kirschen essen.«

Ein überraschtes Lachen. »Gut, Sie können uns vertrauliche Bewerbungsunterlagen schicken. Schicken Sie sie an ...«

»Bin ich die einzige von R & B, die bei Ihnen angerufen hat? Oder haben Sie auch einen Anruf von Renee Butler bekommen?«

»Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.«

»Aber ich bin nicht die einzige, nicht wahr? Ich möchte Ihnen meine Unterlagen nicht schicken, wenn ich die einzige bin.« Ich hoffte, sie sah ihr horrendes Honorar in weiter Ferne entschwinden.

»Nein, Sie sind nicht die einzige.«

»Ist es Jeff Jacobs oder Bob Wingate? Ich wette, einer von ihnen ist es.«

»Ich kann keinen dieser Namen bestätigen.«

»Ich weiß, daß auch Jenny Rowland nicht gerne hier ist. Sie sagt, es nervt.«

»Ich kann Ihnen wirklich keine Auskunft über unsere Klienten geben, meine Liebe. Mir liegen drei Bewerbungen von Leuten von R & B vor, aber das heißt nicht, daß wir nicht alle von euch unterbringen.«

Drei Bewerbungen? Drei unserer Mitarbeiter wollten weg? Das war fast die Hälfte der Mannschaft. Mir sank das Herz. Ich hörte nicht auf ihr anpreisendes Verkaufsgespräch, sondern wartete, bis sie aufhörte zu reden, dankte ihr und legte auf Drei? Was ging da vor?

Ich war schwer angeschlagen. Sobald Mark zurück war, mußte ich mit ihm sprechen. Eine Firma unserer Größe konnte einen solchen Schlag nicht wegstecken, nicht jetzt. Marks Wirtschaftsfälle hatten Hochkonjunktur; meine Fälle in Verbindung mit dem Ersten Zusatzartikel, die Vertretung von Mandanten aus dem Medienbereich in Verleumdungsklagen, waren endlich so lukrativ, daß sie die Fälle polizeilicher Amtsvergehen subventionierten. Mark und ich schrieben Rechnungen über eine Million Dollar und bezahlten jedem von uns hunderttausend Dollar aus, ganz zu schweigen davon, daß wir dreizehn Mäuler zu stopfen hatten. Leben und leben lassen, im echten Rock-'n'-Roll-Geist. Bis jetzt.

Mein Blick kehrte zu meinem Schreibtisch zurück, auf dem sich Nachrichtenzettel, Korrespondenz und Schriftsätze türmten. Ich mußte den Berg unbedingt abarbeiten, wenn wir auf eine Krise zusteuerten. Verdammt. Ich verbannte meine Sorgen in den Hinterkopf und machte mich an die Arbeit. Die Geräusche der zurückkehrenden Mitarbeiter ignorierte ich. Ich hörte sie lachen und scherzen, dann das Läuten von Telefonen und den Singsang der Modems, als sie sich wieder an die Arbeit begaben. Zwei, Bob Wingate und Grady Wells, diskutierten auf dem Flur über einen Aspekt der Rechtsprechung des Bundesgerichts, und ich hob den Kopf, um zu lauschen. Gerissene, raffinierte Anwälte, diese beiden. Ich mochte sie, und es tat mir leid, daß drei unserer Leute unglücklich waren. Vielleicht sollte ich versuchen, sie von einer Kündigung abzubringen. Aber zuerst würde ich sie übers Knie legen.

Gegen Feierabend legte ich meine emsige Betriebsamkeit ab und ging die Treppe hinunter. Ich hörte Marks Stimme, er war also wieder im Haus. Normalerweise versammelte sich das ganze Büro am Abend in der Bibliothek, und ich dachte, er würde dort Reden schwingen und die Mitarbeiter mit Kriegsberichten aus dem Wellroth-Prozeß ergötzen. Habt ihr schon von dem Wasserkrug gehört?

Aber unter der offenen Tür zur Bibliothek sah ich, daß es sich nicht um unsere übliche interne Plauderei handelte. Mark saß neben Eve am Konferenztisch, und neben ihr saßen Dr. Haupt von der Firma Wellroth und ein gutmütig-derber älterer Mann, Kurt Williamson, der Justitiar des Unternehmens. Ich schwenkte links um, um nicht in die Besprechung hineinzuplatzen, aber Mark erhob sich und winkte mich herein.

»Bennie, komm rein«, rief er überschwenglich, aber in seiner Stimme schwang eine Schärfe mit, die mir nicht gefiel. Er hatte sein Sakko ausgezogen und die Seidenkrawatte gelockert. »Ich habe gute Neuigkeiten für dich.«

»Gute Neuigkeiten? Von der Verhandlung?«

»Nein, eine andere Sache. Andere Sachen, genauer gesagt. Kurt übergibt uns zwei von Wellroths größten neuen Rechtsangelegenheiten, darunter die Ausarbeitung des Joint-venture-Vertrages mit Healthco Pharma. Eine Riesensache.« Seine Augen übermittelten boshafte Signale, die ich nach dem Debakel von heute morgen als triumphierendes Da-hast-du's deutete.

»Wie schön«, gab ich zur Antwort, obgleich ich eigentlich meinte, wie lukrativ. »Mark ist ein hervorragender Anwalt, Kurt. Ich weiß, er wird hervorragende Arbeit leisten.«

»Bis jetzt hat er das.« Williamson nickte. »Sein Gutachten hat uns eine völlig neue Perspektive im Zusammenhang mit diesem Joint-venture vermittelt. Haben Sie es gelesen?« Er beugte sich über den Tisch und reichte mir ein dickes Unterlagenpaket.

»Gute Arbeit, gewitzte Arbeit«, bestätigte ich und überflog die Stellungnahme noch einmal. Kein Gutachten verließ R & B, ohne von mir überprüft zu werden, weil ich mich nicht der Gefahr der Sorgfaltspflichtverletzung aussetzen wollte; ich hatte das Gutachten gesehen, nachdem es nach vorbereitenden Recherchen von Eve und Renee Butler aufgesetzt worden war. Ich ließ die Seiten zuklappen und reichte ihm die Unterlagen zurück. »Sehr gewitzt.«

Eve lächelte bei diesem Lob verkniffen, ebenso Dr. Haupt, zumindest vermutete ich, daß er lächelte, denn die Spalte in seiner unteren Gesichtshälfte verzog sich wie ein schiefer Strich.

»Der Meinung bin ich auch«, erklärte Williamson. »Ein Problem im Pharmageschäft ist die Kontrolle des Produkts nach seiner Entwicklung, wie Sie an unserer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Cetor sehen. Die Entwicklung eines erfolgreichen Produkts ist kompliziert, oft greifen dabei verschiedene Patente ineinander. Über ein Dutzend Patente, die voneinander abhängig sind.«

»So viele?« warf ich ein, obwohl er nicht den Eindruck vermittelte, als brauche er Ermunterung, um weiterzureden. Mandanten, die große Unternehmen vertreten, sprechen gern über ihr Geschäft. Hören Sie zu, oder es tut jemand anderer.

»Sogar noch mehr. Der Knackpunkt bei diesem Jointventure: Welches der beiden Unternehmen behält die Kontrolle über die Patente, falls bei der Entwicklung ein erfolgreiches Produkt herauskommt. Mark hatte die Idee, daß jede Partei die Hälfte der Patente bekommen soll. Damit lassen sich sämtliche Patente nur in Verbindung miteinander sinnvoll nutzen.«

»Ah ja«, sagte ich, obwohl ich das bereits aus dem Gutachten wußte, »Das heißt, alle betreffenden Patente greifen ineinander.«

»Wie ein Schlüssel in ein Loch.«

»Verblüffend«, sprudelte ich hervor, obwohl der Vergleich von mir stammte. Im Gutachten waren die Patente mit Schlüsseln zu einer Schatztruhe verglichen worden, aber diese Metapher hatte ich gestrichen. Sie war mir zu bilderbuchmäßig gewesen, denn es sollte vorzugsweise so langweilig formuliert sein, daß sich niemand an genaue Details erinnern und noch viel weniger das Büro haftbar machen konnte.

Williamson erhob sich und strich sein zerknautschtes Sakko glatt. »Tja, für mich wird es wirklich Zeit. Der Zug ruft und meine Frau auch.«

Mark und ich lachten pflichtschuldigst in freudlosem Unisono. Wir machen uns in Wirklichkeit immer über die Scherze unserer Mandanten lustig, aber wir geben uns Mühe, daß das nicht so offensichtlich wird. »Ich bringe Sie hinaus.« Mark stand auf, um Williamson beim Einsammeln der Papiere zu helfen. Dr. Haupt erhob sich ebenfalls, und Eve schob die Unterlagen geschickt zu einem Stoß zusammen.

»Nochmals vielen Dank, Kurt«, sagte ich zu Williamson. Ich schüttelte ihm zum Abschied die Hand, und er tat so, als würde er in meinem Griff zu Boden gehen.

»Sie rudern immer noch, stimmt's?« fragte er lächelnd. »Ich habe seit Jahren nicht mehr gerudert. Ich werde älter.«

»Sie auch? So ein Zufall.«

Williamson lachte, und Mark ergriff seinen Ellenbogen mit einer dieser vertraulichen Berührungen, die unter die Rubrik geschäftliche Vertrautheit fallen, und Williamson ließ sich willig hinausbugsieren. Dr. Haupt folgte den beiden schweigend, und Eve und ich blieben allein im Besprechungszimmer zurück. Ich beschloß, nett zu ihr zu sein. »Gratulation zum neuen Auftrag, Eve.«

Sie sammelte weiter die Unterlagen zusammen, machte aber ein finsteres Gesicht. »Das sind alle beide Sexisten, sogar Dr. Haupt. Er hat mich nicht einmal zur Kenntnis genommen.«

»He, Eve«, rief eine jungenhafte Stimme von der Tür her. Sie gehörte Bob Wingate, dem Grateful-Dead-Fan mit den ausgezehrten Wangen, den tiefliegenden braunen Augen und der alternativen Blässe. In einem Jerry-T-Shirt und Khakihose stiefelte er in die Bibliothek und setzte sich auf das Fensterbrett. »Wie läuft die Wellroth-Verhandlung?«

Eve verbarg ihre Gereiztheit. »Großartig, einfach großartig«, antwortete sie, und ich beschloß, ihr nicht zu widersprechen.

»Toll.« Wingate nickte. »Hat Mark dir erlaubt, eine Zeugenbefragung zu machen?«

»Sicher. Ich hatte zwei Zeugen im Kreuzverhör, und gegen Ende habe ich für einen Antrag argumentiert. Einen Beweisantrag.«

»Scheiße.« Wingate strich sich durch die langen Haare. »Und ich hocke den ganzen Tag an einem Schriftsatz für den Prozeßanwalt. Wann läßt er mich mal eine Verhandlung führen? In zwei Jahren habe ich fast fünfzig beeidigte Aussagen vorgenommen. Ich denke doch, langsam wäre ich dazu imstande, ihr nicht?« Er stieß mit den schwarzen Stiefelabsätzen gegen die Wand und hinterließ abgestoßene Stellen auf meiner künstlerischen Malerarbeit.

»Wingate, lassen Sie das mit den Absätzen«, befahl ich.

Er sah mich an wie ein verletztes Kind. »Wann darf ich endlich ein bißchen Prozeßerfahrung sammeln, Bennie? Ich bin soweit. Ich kann es.«

»Fragen Sie Mark. Für mich wollten Sie ja nicht arbeiten, erinnern Sie sich?«

»Das lag nicht an Ihnen, das lag an Ihren Fällen. Und er vertröstet mich andauernd.«

»Dann bleiben Sie an ihm dran.«

Wingate schmollte auf dem Fensterbrett, Eve setzte sich und spielte mit den Anhängern ihres Talismanarmbands: einem goldenen Medaillon, einem silbernen Schlüssel, einem winzigen Herzen. Ich fragte mich, ob sie das Armband von Mark bekommen hatte; etwas so Kostbares hatte er mir nie geschenkt.

»Ich glaube, das lief sehr gut, ihr nicht?« Strahlend wie der siegreiche Held kehrte Mark zurück. »Eve?«

»Sehr gut«, bestätigte sie lächelnd. »Es lief großartig.«

»Was lief großartig?« erkundigte sich Grady Wells, der in einem grauen Anzug und mit Liberty-Schlips in die Bibliothek schlenderte. Über seinen breiten Schultern saßen ein unbeschwertes Lächeln, eine Brille mit goldener Metallfassung und ein Schopf lockiger blonder Haare, die kein Wasser der Welt je würde bändigen können. Die Haare waren das einzig Widerspenstige an Grady, einem hochgewachsenen Mann aus North Carolina mit den Manieren eines Südstaatlers und einem Akzent, der den gegnerischen Anwalt oft dazu verleitete zu glauben, Grady sei etwas schwer von Begriff. Nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können.

»Wir sprechen gerade vom Wellroth-Prozeß«, erklärte Wingate. »Eve hat zwei Zeugenvernehmungen gemacht. Übrigens, als was bist du heute verkleidet, Wells?«

Grady blickte an seinem Anzug hinunter. »Als Rechtsanwalt, glaube ich.«

»Aber ist heute nicht dein ultimativer Frisbee-Abend? Saisonabschluß? Die Riesenfete?«

»Ich kann nicht hin. Ich habe einen Termin mit einem Mandanten.«

Wingate schnaubte. »Vielleicht gibt es gar keinen ultimativen Abend mit ultimativem Frisbee. Vielleicht ist jeder Abend ultimativ. Du bist beneidenswert, Wells. Was soll's.«

»Renee!« Bei Renee Butlers Eintritt, die ein lose fallendes hemdartiges Kleid trug, strahlte Mark. »Kommen Sie und feiern Sie mit uns. Wellroth hat uns mit ein paar wichtigen neuen Aufträgen betraut, darunter einem Antitrust-Fall. Ich möchte, daß Sie und Wells daran arbeiten. Das Ding ist ein Koloß.«

»Wenn Sie mich brauchen«, antwortete Renee.

Mark wandte sich an Grady. »Wells, wie sieht's aus?«

»Nein, danke«, lehnte dieser mit einem Selbstvertrauen ab, das er sich aufgrund seiner Referenzen leisten konnte. Er hatte sein Examen an der Duke gemacht, seine Referendarzeit beim Obersten Bundesgericht abgeleistet, und davor war er Redakteur bei der Harvard Law Review gewesen. R & B landete einen Coup, als wir ihn bekamen; er entschied sich für uns, weil er damals eine Freundin in Philadelphia hatte.

»Sie wollen nicht einmal ein Stück vom Kuchen?« wunderte sich Mark, aber Grady schüttelte den Kopf.

»Antitrust bringt sowieso nichts«, brummelte Wingate. »Seit den achtziger Jahren geht da nichts mehr.«

»Hallo, allesamt!« rief Jennifer Rowland von der Tür her. Rowland, eine zierliche Villanova-Absolventin, sprudelte ständig über wie ein großer Becher 7-Up-Limonade.

»Immer herein, Jen«, ermunterte ich sie und rückte beiseite, damit sie und die letzten beiden Mitarbeiter, Amy Fletcher und Jeff Jacobs, die hinter ihr auftauchten, sich noch dazuquetschen konnten. Die Bibliothek war so klein, daß sie gegen Ende der meisten Arbeitstage an eine Kabine aus einem Film mit den Marx-Brothers erinnerte, aber mich störte das nicht. Ich genoß es, mir die tagsüber angefallenen juristischen Probleme anzuhören, und die Mitarbeiter genossen es, sie zur Sprache zu bringen. Aber jetzt hatten wir ein echtes Problem. »Wißt ihr, Leute, ich bin froh, daß ihr alle da seid, denn wir müssen über etwas reden. Mir sind da ein paar Gerüchte zu Ohren gekommen.«

Marks Kopf fuhr herum. »Gerüchte? Worüber?«

»Über Wells?« fragte Wingate. »Ist er tatsächlich Republikaner?«

Mark schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Wingate, wenn Sie spaßig wären, wäre es etwas anderes. Aber das sind Sie nicht, also halten Sie den Mund.«

Wingate lief rot an. Ich räusperte mich. »Die Gerüchte besagen, ein paar von euch hätten ihre Bewerbungsunterlagen in Umlauf gebracht.«

»Bewerbungen? Du machst Witze!« Mark wirkte ebenso überrascht wie ich. Zweifellos war er sauer, daß ich vorher nicht mit ihm unter vier Augen gesprochen hatte, aber ich wollte einfach nicht mehr warten. Forschend blickten seine dunklen Augen in die um den Tisch versammelten Gesichter. »Wer sucht einen neuen Job?« fragte er. »Wer?«

»Mark, das ist nicht der Punkt. Es spielt keine Rolle, wer sucht. Ich bringe das Thema nicht deshalb zur Sprache, weil ich ohnehin davon ausgehe, daß sich keiner dazu bekennt.«

»Sie meinen, Sie versuchen nicht, jemanden zu outen«, erkundigte sich Wingate angespannt.

»Nein, tu ich nicht. Aber ich möchte euch allen sagen, und ich spreche auch für Mark, daß wir höchst ungern einen von euch verlieren würden. Ihr arbeitet alle sehr schwer, und das fordert Tribut. Wenn ihr also unglücklich seid wegen eurer Arbeitsstunden oder aus sonst einem Grund, kommt zu uns, dann sprechen wir unter vier Augen darüber. Vielleicht können wir die Sache in Ordnung bringen, und niemand braucht R & B zu verlassen. Tja, weiter habe ich nichts dazu zu sagen, es sei denn, Sie hätten noch Fragen.«

Zögernd hob Jennifer Rowland die Hand. »Bennie? Ich hätte eine Frage.«

»Natürlich. Fragen Sie, was immer Sie wollen.«

»Wir haben Gerüchte gehört, daß Sie und Mark ... Sie wissen schon.« Verlegen blickte sie von Mark zu mir, und da es zu meiner Rolle gehörte, in der Niederlage Würde zu bewahren, sprach ich. »Na ja, Jenny, es stimmt tatsächlich, Daddy und ich haben uns getrennt. Aber Kinder, es war nicht eure Schuld, wir lieben euch immer noch genausosehr wie vorher.« Die Mitarbeiter lachten und ich auch, obwohl es mich fast umbrachte. Mark wurde rot und schielte zu Eve hinüber.

Doch Jenny hob noch einmal die Hand, um alle zum Schweigen zu bringen. »Nein, das meinte ich nicht, ich wußte, daß Sie und Mark sich getrennt haben. Ich habe gehört, daß die Firma aufgelöst wird. Daß Sie und Mark die Kanzlei auflösen.«

Mark wurde weiß und ich auch. »Jenny, das stimmt natürlich nicht«, erklärte ich betont, aber Mark sprang bereits auf.

»Leute, ich glaube, das reicht an Therapiestunde für einen Abend. Alles raus aus dem Schwimmbecken.« Er klatschte in die Hände, um alle auf Trab zu bringen. »Los, los, allesamt raus aus dem Wasser.«

»Einen Moment, Mark«, widersprach ich. »Sie haben ein Recht zu fragen, ein Recht zu wissen, wie es weitergeht. Es geht um ihre Jobs.«

»Bennie, laß gut sein. Ich weiß, was ich tue.«

Die anderen waren bereits dabei hinauszugehen. Amy Fletcher und Jeff Jacobs gingen gemeinsam mit Jennifer. Wingate hüpfte vom Fensterbrett und schob sich hinter Eve und Renee Butler zur Tür. Grady ging als letzter und warf einen raschen Blick zurück. Seine großen grauen Augen waren voller Intelligenz auf mich gerichtet, aber da war noch etwas anderes. Eine Spur Mitgefühl. Kurz aufgeblitzt, gleich wieder verschwunden. Ich schloß die Tür zur Bibliothek und sah Mark an.

Rudern ist kein Alibi

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