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Vorwort

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Die Schweiz schaut zurück. Forscht, denkt nach. Entschuldigt sich. Im Fokus stehen die administrative Versorgung, die Zwangsarbeit, die Verwahrung. Der Ausschluss und das Wegsperren einer ganzen Gruppe von Bürgerinnen und Bürger im letzten Jahrhundert. Menschen, die es nicht schafften, im Land der Anständigen anzukommen. Sogenannt Liederliche und Arbeitsscheue. Oder Trunksüchtige und Asoziale. Die manchmal auch mit dem Gesetz kollidierten. Sie galten als die «Vertreter der Unordnung», wie Friedrich Glauser, der Dichter, sie einst nannte, gehörten zum Stand der Unruhigen, oft ein trauriges Leben lang. Es gab Zehntausende von ihnen. Ihr Leiden war gross.

Hinter Abstraktionen und Zahlen stehen Menschen. Verbergen sich Lebensläufe. Im Falle von Pauline Schwarz das Leben einer Frau. Genauer einer Straftäterin. Geboren 1918, gestorben 1982. Sie war fünf Mal verheiratet, schenkte fünf Kindern ein Leben. Vierzehn Mal stand sie vor Gericht, verbrachte neun Jahre und einen Monat ihres Lebens hinter Gittern oder Verwahrungstüren. Vorwiegend wegen Diebstahls und Betrug. Von solch delinquenten Frauen weiss man noch wenig. Sie waren in der göttlichen Ordnung der Männer nicht vorgesehen. Entsprechend hart wurden sie von der Justiz gemassregelt. Und von der Psychiatrie als «moralisch defekt» pathologisiert.

Die Geschichte der Pauline Schwarz zeichnet ein solches Leben nach. Rekonstruiert deren Biografie von den Anfängen als Armeleutekind im Rheintal bis zu ihrem Lebensabend als Bäuerin am Napf. Die hervorragende Quellenlage ermöglicht Präzision im Nachverfolgen eines getriebenen Lebens, die Einbettung in das Zeitgeschehen das Aufdecken der so gewichtigen Rolle der Psychiatrie im biografischen Geschehen. Und beides zusammen erlaubt das Aufspüren einer Handlungslogik dieser als «Gewohnheitsverbrecherin» so oft weggesperrten Frau.

Der Anstoss zu dieser biografischen Nachverfolgung kam von einer der Töchter von Pauline Schwarz. Sie wurde gleich nach der Geburt von der Mutter getrennt, lebte mit fragmentarischem Wissen über die Frau, die sie geboren hatte. Es waren vor allem Schreckensbilder und Gerüchte. Nach ihrer Pensionierung begann sie, den Lebensweg ihrer Mutter zu erforschen, und wollte wenigstens die verschiedenen Stationen dieses wirren Lebens zusammentragen. Sie war dabei beeindruckend hartnäckig. Fand Abwehr und Unterstützung. Verlor sich dann irgendwann in den unzähligen Akten und deren Leerstellen.

Nun ist daraus doch noch eine Lebensgeschichte geworden. Eine biografische Reise. Zusammengefügt aus Hunderten von schriftlichen und mündlichen Quellen. Die Namen sind bis auf wenige öffentliche Amtsträger alle anonymisiert. Die Orte aber sind authentisch. Es ist der Versuch, hinter der verstümmelnden Sprache von Justiz, Psychiatrie und Behörden das Gesicht einer Frau freizulegen, die individuell und exemplarisch für ihr Geschlecht steht. Und ihr damit ihre Biografie zurückzugeben. Im Schutze eines Pseudonyms.

Lisbeth Herger, im Herbst 2020

moralisch defekt

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