Читать книгу Britta reitet die Hubertusjagd - Lisbeth Pahnke - Страница 5
Lilleman
ОглавлениеEs begann, als wir schon einige Wochen lang unser Sommerhäuschen bewohnt hatten. Es war ein ganz gewöhnlicher Wochentag, und die Familie saß vollzählig beim Morgentee auf der Veranda, denn von dort aus haben wir einen großartigen Blick auf das Meer. Ich saß ein wenig sauer und morgenmuffig vor meinem Teegedeck – Mama hatte es längst aufgegeben, darauf zu hoffen, daß ich vor zwölf Uhr mittags wie ein normaler Mensch war – und sah verschlafen und zerstreut zu den über den Wellen tanzenden Schaumkronen hinaus und horchte wohl auch auf das Geschrei der Fischmöwen. Meine Geschwister, die zehnjährigen Zwillinge, stritten um irgend etwas; aber das war ja so üblich.
„Nein!“ schrie der kleine Nisse streitlustig und warf seine blonde Stirnlocke zurück.
„Ja!“ brüllte die kleine Nirre und blitzte ihn wütend an.
„Nein!“ schrie Nisse noch einmal. „Du bist dumm!“
Mama füllte Papa eben frischen Tee ein. „Was ist denn nun wieder los?“ fragte sie. „Wißt ihr, Kinder, manchmal geht ihr mir wirklich auf die Nerven.“
„Mama! Nisse sagt …“, begann Nirre ärgerlich. Aber Papa unterbrach sie. Er sah von seiner Zeitung auf.
„Hier, Britta, hier steht etwas! Es wird dich bestimmt interessieren“, sagte er und wendete sich mir zu.
„Wenn es das Resultat des Fußball-Länderkampfes ist oder der Bericht über einen neuen Bootsmotor, dann ist es bestimmt für mich“, sagte ich mit unendlicher Hoffnungslosigkeit in der Stimme, aber Papa las vor:
»Pony entlaufen.
Ein Pony aus dem Besitz des jungen Hakan Bohlin, in Forsa, brach gestern aus seinem Weideplatz aus und …“
Ich sprang vom Tisch auf, riß in meiner Aufregung die Teetasse um und rief: „Forsa! Das ist ja hier, unser Landkreis! Bisher habe ich nicht einmal den Schatten eines Pferdes weit und breit gesehen!“
Ich erwischte die Zeitung und las die Anzeige noch einmal genau durch. Aus dem Bericht ging hervor, daß dieses Pony den ganzen Tag frei herumgesprungen sei, bis man es endlich, nach wilder Jagd, in einen eingezäunten Garten gelockt hatte. Der Besitzer des dazugehörigen Häuschens fühle sich vom Schicksal geschlagen und sei nicht allzu glücklich über seine bisher wohlgepflegten Blumenbeete, die nun teils zerstampft, teils aufgefressen seien … Dies würde für den Pony-Halter ein recht kostspieliges Fest werden, endete der Artikel. Neben dem Text fand sich ein undeutliches Foto: Etwas Dunkles, Zottiges sollte wohl das Pony darstellen, daneben stand ein Junge mit hellem Haar, etwa in meinem Alter. Unter dem Bild vermerkt: „Hier ist das Pony Lilleman nach einer wilden Jagd wieder mit seinem glücklichen Besitzer Hakan Bohlin vereint.“
Dieser Knabe Hakan wohnte auf einem großen Bauernhof jenseits des Baches, der sich durch unser Dorf schlängelt und neben unserem Häuschen ins Meer mündet. Das wußte ich sicher, aber ich kannte ihn nicht und hatte keine Ahnung, daß er ein Pony besaß. Das mußte untersucht werden! Nach dem Tee rannte ich in mein Zimmer, sprang in meine alten, blaßblauen Jeans, zog ein gelbes Sporthemd über – es war noch ganz neu – und verschwand über den Küchenweg ins Freie, eine Faust voll mit Zuckerstücken, in einer Hosentasche eine Mohrrübe. Aber noch mußte ich eine Ewigkeit herumsuchen, bis ich eine gebrauchsfähige Luftpumpe fand, denn an dem Vorderrad meines Fahrrades hing der Schlauch schlapp und ohne Luft.
Nisse kam aus dem Haus. „Du siehst wie die schwedische Fahne aus, wenn du dich so anziehst“, stellte er fest, und die kleine Nirre folgte ihm auf den Fersen und quengelte: „Lieber Nisse, kannst du mir nicht mein Fahrrad aufpumpen?“ Aber Nisse war noch vom Streit am Frühstückstisch ein wenig sauer und fand, sie könne es selbst tun – und so stritten sie also diesmal um diese Frage. Zum Glück hatte ich mein Rad gerade flott, schwang mich mit einem „Adjö, ihr Streithähne!“ in den Sattel und radelte über den holprigen Steig der großen Landstraße zu. So froh war mir seit langem nicht zumute – nicht auszudenken: ein Pony im Dorf! –, und ich pfiff beim Radeln einen alten Schlager. Aber ich brach brüsk ab und wäre beinahe in den Bach gefallen, so jäh stoppte ich auf der kleinen Brücke. Dort drüben, auf der anderen Seite des Baches, stand nämlich ein schwarzes Pony auf einer sonnenbeschienenen grünen Wiese und schaute neugierig zu mir herüber. Es mochte etwa 135 Zentimeter hoch sein, war recht kräftig gebaut, mit stabilen Beinen und einem starken Hals. Ein Gotlandpony – ein Russe! –, darauf hätte ich schwören können! Die dunklen Augen blitzten munter unter einem gewaltigen Schopf hervor, der nach allen Richtungen stand. Mähne und Schweif waren lang und hatten die Bürste dringend nötig. Ich ging zum Gattertor des eingezäunten Weideplatzes und lockte das Pony vorsichtig.
„Lilleman!“ rief ich leise. „Lilleman!“
Es schien dem Namen keine Beachtung zu schenken, aber es schaute die ganze Zeit aufmerksam zu mir hin. Die Mohrrübe in meiner Hand verleitete es wohl, ein paar vorsichtige Schritte in meine Richtung zu wagen, plötzlich aber machte es schnaubend eine Kehrt um die Hinterhand und galoppierte dröhnend quer über die Wiese. Im entferntesten Eck des Weideplatzes blieb es stehen und schien sich nicht mehr um mich zu kümmern. Ich trat durch das Gatter in die Wiese, setzte mich ins Gras und wartete. Das Pony tat, als merke es nicht, daß ich dasaß, kam aber doch, heftig Gras rupfend und kauend, vorsichtig näher. Bald war es nur noch wenige Meter von mir entfernt. Wieder begann ich, es mit leiser Stimme anzureden und mit der Möhre zu locken. Es streckte vorsichtig seinen Kopf, erreichte aber die Möhre nicht. Da tat es einen Schritt nach vorn, sehr zögernd und nur mit den Vorderbeinen, und kam dadurch in eine recht lustige, gestreckt-gedehnte Körperhaltung. Als es dann genußvoll die Möhre verzehrte und sich auf seiner Oberlippe beim Kauen viele kleine Runzeln bildeten, sah es so goldig aus, daß ich, ohne nachzudenken, eine Hand hob, um ihm über den Kopf zu streicheln. Da fuhr es erschrocken auf und hetzte quer über die Wiese in seine Ecke zurück. Du liebe Zeit, wie scheu es ist, mußte ich denken.
Wie lange ich dann im Gras lag und immerzu auf das schwarze Pony achtete, weiß ich nicht mehr, ich wurde erst richtig wach, als jemand gegangen kam und über meine Beine stolperte. Ein Junge in meinem Alter, mit ganz hellem Haar. Er trug Jeans und ein Sporthemd, genau wie ich, in der Hand hielt er ein Halfter. Es mußte Hakan Bohlin, der Besitzer des Ponys, sein.
„Oh, Verzeihung!“ sagten wir wie aus einem Mund, und ich erhob mich. Einen Augenblick lang standen wir uns schweigend und verlegen gegenüber, bis ich fragte: „Es ist dein Pferd, nicht wahr?“
Hakan nickte. „Obwohl ich wünschte, wir hätten Lilleman nie gekauft. Er hat uns bis jetzt nur Kummer gemacht. Er war von Anfang an unmöglich und ist jetzt ärger denn je. Papa sagt, wenn noch einmal etwas mit ihm passiert, müssen wir ihn verkaufen.
„Ich habe heute früh die Geschichte von seiner letzten Unternehmung in der Zeitung gelesen“, sagte ich.
„Und es war nicht das erstemal, daß er ausgebrochen ist“, erklärte Hakan. „Die Leute, die dort oben in der Sommervilla wohnen, sind rasend auf ihn und drohen uns mit allem möglichen, denn er hat ihre Rosen zertrampelt. Und der alte Andersson hat glatt erklärt, er würde sein Jagdgewehr hervorholen, wenn er Lilleman noch einmal in seinen Erdbeerbeeten erwischt.“
„Großartige Nachbarn!“ rief ich ironisch aus.
„Aber man kann sie verstehen“, sagte Hakan und seufzte.
„Reitest du ihn denn?“ fragte ich interessiert.
„Ich hab es oft genug versucht“, antwortete Hakan bitter. „Aber ich bin es leid. Er wirft mich doch immer wieder ab und rennt zum Stall zurück.“
„Himmel!“ entfuhr es mir, und ich starrte ihn an. „Warum tust du denn nichts dagegen? Warum sitzt du nicht augenblicklich wieder auf, sooft er dich auch abwirft – bis er es leid wird und langsam begreift, wer zu bestimmen hat?!“
„Ach was“, sagte Hakan wütend. „Mußtest du deshalb hierherkommen, um mir das zu sagen? Du weißt eben nicht, was es heißt, dieses Pony zu reiten!“ Er zeigte zu Lilleman hinüber. Das junge Pony hielt noch immer seinen Sicherheitsabstand und schaute mißtrauisch abwartend zu uns herüber.
„Man müßte es einmal ausprobieren, das wäre toll!“ sagte ich.
„Toll“, äffte mich Hakan nach. „Du bist ja nicht gescheit! Dieses Tier hat Dynamit im Leib. Beim letztenmal, als er mich abwarf, hätte ich mir das Rückgrat brechen können.“
„Das klingt nicht sehr ermunternd“, mußte ich zugeben. „Ist er denn eingefahren?“
„Ja, doch.“ Hakans Stimme war nicht überzeugend. „Aber es ist anstrengend, ihn einzuspannen, und es ist wahnsinnig schwer, ihn hier von der Weide wegzukriegen. Also: sehr oft kommt es nicht dazu. Eigentlich wollte ich eben jetzt eine Stunde ausfahren, wenn ich ihn erstmal einfangen könnte.“
„Er ist sehr kopfscheu, das habe ich schon bemerkt“, sagte ich zu Hakan.
„Ja, das weiß ich. Er ist ja auch erst fünf Jahre alt und hatte schon mehrere Herren. Einer seiner Besitzer wird ihn wohl einmal zu rauh angepackt haben. Pferde vergessen das nicht.“
Mir tat Lilleman langsam leid. Sicher war er von Anfang an falsch erzogen worden und dadurch dieses eigensinnige, mißtrauische kleine Pferd geworden, das niemandem mehr Glauben schenken wollte.
„Warum habt ihr ihn eigentlich gekauft?“ fragte ich. „Ich meine – dir liegt wohl nicht viel an ihm?“
„Tja – Vater fand, es wäre hübsch, ein Pony zu haben.“
„Du liebe Zeit, das nennt man Schicksals-Tücke!“
„Was meinst du damit?“ Hakan starrte mich erstaunt an.
„Ich meine, wenn mein Vater jemals auf die strahlende Idee käme, mir ein Pony zu kaufen, dann wäre ich der glücklichste Mensch auf der Welt!“
„Du weißt nicht, was du redest“, sagte Hakan düster, aber ich lachte nur und machte ihm den Vorschlag, Lilleman gemeinsam einzufangen.
Das Pony kümmerte sich, weder um Hakan noch um mich, als wir nun mit dem Halfter in der Hand zu ihm hinübergingen; es zog sich nur ganz in seine Zaunecke zurück. Nach einer halben Ewigkeit glückte es Hakan, dem Tier so nahe zu kommen, daß er es am Schopf packen konnte; doch als er ihm das Halfter überziehen wollte, riß sich Lilleman durch einen Ruck mit dem Kopf los und trabte herausfordernd ein Stück weit weg. Hakan folgte ihm und versuchte es wieder, aber Lilleman ließ ihn gar nicht nahe genug an sich herankommen.
„Ach was“, sagte Hakan verdrossen. „Es hat ja doch keinen Sinn.“
Mir aber wurde langsam klar, warum Lilleman so launisch war. Er setzte ja meist seinen Willen durch, das merkte ich.
„Kommst du mit zu uns, auf ein Glas Saft?“ fragte Hakan, dem von den erfolglosen Versuchen, sein Pferd einzufangen, recht heiß geworden war.
Saft? Plötzlich merkte ich, wie hungrig ich war, und ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß der Rest meiner Familie sicherlich gerade beim Lunch saß.
„Danke, herzlichen Dank!“ antwortete ich. „Aber ich muß jetzt nach Hause und pünktlich beim Lunch sein. Ich hatte keine Ahnung, daß es schon so spät ist. Darf ich ein andermal wiederkommen?“
„Herzlich gern“, sagte Hakan und lachte mir freundschaftlich zu. Während ich in rasender Fahrt heimwärts radelte, mußte ich zugeben, daß er ein recht netter Junge war, wenn er auch nur sehr dunkle Vorstellungen vom Reiten und von der richtigen Behandlung eines Ponys zu haben schien.
Zu Hause ging meine Begeisterung natürlich mit mir durch, als ich alles genau erzählte. Mama seufzte: „Ich begreife ja nicht, woher du deine Vorliebe für Pferde hast, aber vermutlich ist es nur eine Laune und geht mit der Zeit vorüber.“