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Alles wird anders

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„Anja! Anja, wo steckst du?“

Das war Mutter. Immerzu rief sie, immerzu sollte man etwas, hier nur mal anfassen und dort zugreifen, den Koffer holen und das Paket aufschnüren – nicht eine Sekunde blieb einem für sich selbst. Und Anja hatte sich so darauf gefreut, daß nun alles anders, besser, schöner würde.

Mutter hatte wieder geheiratet. Einen jungen, freundlichen, netten Mann – es war nichts gegen ihn zu sagen. Und als sie dann nach einem Jahr Zwillinge bekam, zwei kleine Brüder für Anja, hatte die sich auch gefreut – immer hatte sie sich Geschwister gewünscht. Und nun war die Familie auch noch umgezogen, hatte ein hübsches Reihenhaus am Rand der Stadt gemietet, sogar mit einer Art Garten drum herum, auch das hatte sich Anja gewünscht. Daß man in einem neuen Haus nicht von heute auf morgen eingerichtet sein konnte, sondern erst einmal in einem Wust von Koffern, Kartons, Taschen und aufeinandergestapelten Umzugskisten unterging, das hatte sie nicht voraussehen können; es war ja der erste Umzug, den sie erlebte. So lange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie mit Mutter in einer kleinen Etagenwohnung in der Stadt gewohnt. Beinah wünschte sie sich jetzt, es wäre alles beim alten geblieben.

Nein, das doch nicht. In der alten Wohnung war es sehr eng, und auf der Straße konnte man nur auf dem Fußweg gehen, und auch dort nur an der Häuserseite, so eng war alles, so nahe rauschten die Autos vorbei. Hier lief die Hauptstraße ein ganzes Stück entfernt vorüber, man hörte die Autos zwar, aber nur wie ein schwaches Zischen. Die Straße, in die sie gezogen waren, lag abseits, und wenn ein Auto kam, dann gehörte es hierher und fuhr langsam.

Vor dem Haus, das nun „ihr“ Haus sein würde, öffnete sich sogar ein kleiner Platz, auf dessen gegenüberliegender Seite sich ein niedriger Einkaufsladen befand. Und ein Stück entfernt, aber doch nahe genug, daß man sagen konnte „bei uns“, stand eine moderne Kirche, grau, mit bunten Fenstern und einem Turm, der ein Stück vom Hauptgebäude entfernt aufragte. Anja fand die Kirche von Anfang an wunderbar.

Mutter hatte aufgehört zu rufen. Na schön, da brauchte man also nicht zu antworten. Anja drückte sich am Zaun entlang davon. Bald hörten die Häuser auf, und man kam auf freies Gelände. Das war neu für sie, die mitten aus der Stadt kam, und hatte etwas Aufregendes, Erregendes an sich, so, als wäre plötzlich eine alte Haut von einem abgefallen. Ähnlich war ihr zumute gewesen, als sie zehn Jahre alt wurde, den ersten Geburtstag mit zwei Zahlen feierte. Zehn – das war mehr als ein Jahr älter, das war ein Schritt in eine neue Landschaft.

So war es auch jetzt und hier. Anja ging langsam und wie tastend um das letzte Haus herum, kroch unter einem Zaun durch, der hier eine weite freie Fläche abgrenzte, und stand auf einer Wiese. Drüben, ziemlich weit entfernt, sah man einen Bahndamm, darüber die Autostraße, dahinter, aufsteigend, den Wald. Das Ganze hell, weit – ein wenig blaß – die Sonne hatte um diese Jahreszeit keine große Kraft mehr – und fremd. Anja blieb stehen. Nein, nicht weiter, nicht ganz allein in dieser Weite sein müssen. Lieber hielt sie sich am Zaun. Bis sie etwas sah ...

Auf der Wiese, nicht weit von ihr entfernt, stand etwas Großes, Dunkles, Lebendiges – Anja holte kurz Atem: ein Pferd. Ein richtiges Pferd, dunkelbraun mit einer gelblichen Mähne, die teils rechts, teils links am Hals herunterhing, in groben Wellen, die wie Bindfäden aussahen. Anja merkte nicht, wie sie sich in Bewegung gesetzt hatte und, wie magnetisch angezogen, auf das Pferd zuging, Schritt für Schritt. Jetzt wandte es den Kopf und sah zu ihr her.

„Ja, du, wie heißt du denn?“ hörte Anja sich selbst halblaut fragen. „Heißt du Fury? Nein, sicher nicht. Fury sieht anders aus, ganz anders. Darf man dich streicheln?“

Es war kein schönes Pferd, kein Bild auf Glanzpostkarte mit rassigem Kopf und wildschönen Augen. Und es stampfte nicht feurig mit den Vorderbeinen, sondern stand still und ein wenig x-beinig da, schlug ein bißchen mit dem Schweif, daß er an den Flanken entlangstrich, und war bei aller Größe und Breite ziemlich mager. Die Knochen rechts und links an der Kruppe stachen vor, man sah auch die Rippen. Und auf der Nase entlang zog sich ein heller Streifen, er ging von der Stirn bis auf die Oberlippe herunter. (Man nennt das „Laterne“, wie Anja später erfuhr.) Um die Nüstern herum hatte es einzelnstehende, ziemlich grobe Haare. Anja streckte schüchtern die Hand aus.

Zucker müßte man haben oder Brot oder eine Mohrrübe. Das Pferd sah sie so zutraulich an, so überzeugt davon, daß sie ihm etwas brachte. Ganz schnell fuhr sie mit beiden Händen in die Taschen ihrer Jeans. Vielleicht war doch ... richtig, Hustenbonbons! Vater – der neue Vater – hatte ihr gestern welche gekauft.

„Süßigkeiten sind nichts Gutes, aber wenn man so schrecklichen Husten hat wie du ...“ Er blinzelte sie vergnügt an, während er ihr die Tüte zusteckte. Sie hatte ein einziges Mal gehustet, und das nur, weil sie sich verschluckt hatte.

Mit ein wenig fahrigen Fingern wickelte sie das erste Bonbon aus und steckte das Papier in die Tasche zurück.

„Komm, hier, siehst du? Magst du so was?“ schmeichelte sie und hielt es dem Pferd auf der flachen Hand entgegen. Daß man das so macht, wußte sie, sie hatte ja schon oft Pferde mit Zucker gefüttert, wenn sie mit Mutter spazierengegangen war.

Die Lippen des Tieres fuhren suchend über ihre Hand, nahmen das Bonbon, und dann knirschte es zwischen den Zähnen. Anja wickelte das nächste aus. Und dann, während das Pferd dieses zerbiß, trat sie näher heran und legte den Arm um den herniedergebogenen Pferdehals. „Bist mein Gutes, Gutes“, flüsterte sie zärtlich.

Lockere, warme, blanke Haut. Ein Geruch, mit keinem anderen zu vergleichen. Ein leises Schnauben, das „Ja!“ hieß, ganz deutlich „Ja!“. Anja lächelte zu dem Pferdekopf empor.

Später hörte sie Schritte. Jemand kam auf sie und das Pferd zu, ruhig, langsam, so, daß man nicht erschrak. Anja nahm den Arm nicht vom Hals des Pferdes, sie sah zu dem Mann auf, der herangetreten und neben ihr stehengeblieben war.

„Na, da hat ja unser Kerlchen jemanden gefunden, der mit ihm schmust“, sagte eine freundliche Stimme. Anja lächelte und drückte ihre Wange noch fester an den Pferdehals.

„Heißt er Kerlchen?“ fragte sie. Sie war überhaupt nicht schüchtern wie sonst, wenn sie mit fremden Leuten zusammenkam, sondern ganz und gar einverstanden damit, daß sie sich hier mit einem fremden Menschen unterhielt. Er sah sie aufmerksam an.

„Eigentlich heißt er Rodi. Aber ich sage immer Kerlchen zu ihm, weil er so – so ein armes Kerlchen ist.“ Der Mann lächelte. Sein Gesicht wurde dadurch unwahrscheinlich freundlich, dieses altersgraue, mit tiefen Falten durchsetzte Männergesicht. Es war nicht schön, aber unbeschreiblich angenehm, es strahlte eine tiefe und überzeugende Fröhlichkeit aus – Anja hatte so etwas noch nie erlebt.

„Ja?“ fragte sie halblaut, beglückt.

„Ja. Das gefällt ihm, daß du ihn liebhast.“

Sie standen ein Weilchen, Anja streichelte das Pferd, und der alte Mann sah ihr dabei zu. Dann fragte er:

„Willst du mal rauf?“ Dabei deutete er mit dem Kinn nach dem Rücken des Pferdes.

„Oh! Wenn ich darf?“

„Natürlich darfst du. Er ist ganz brav.“ Er trat an sie heran. „So, nun pack mal die Mähne, dort, ja, siehst du, du erreichst sie gerade. Und jetzt – mach mal mit dem linken Bein so –“ Er zeigte ihr, wie sie das Bein anwinkeln sollte. Sie tat es ihm nach. Ganz sanft legte er zwei Finger der einen Hand unter ihren Spann und gab ihr einen fast unmerklichen federleichten Druck von unten nach oben. Ohne sonstige Hilfe, sich an der Mähne haltend, glitt sie auf den Rücken des Pferdes, saß oben, das rechte Bein darübergeschwungen, als wäre sie schon hundertmal so aufgestiegen. „Hach!“ seufzte sie unwillkürlich.

„Nicht wahr?“ Er lächelte zu ihr hinauf. „Breit ist er ja, und man sitzt gut, wenn er auch mager ist. Ich kriege und kriege nichts auf seine Rippen, sosehr ich mich auch mühe. Dabei frißt er ganz ordentlich.“

Anja antwortete nicht. Eine Erinnerung, längst verweht, streifte sie – oder war es ein Traum, den sie irgendwann einmal geträumt und dann wieder vergessen hatte, der sich jetzt meldete? Sie hatte das schon einmal erlebt, das warme Fell an der Innenseite ihrer Beine, den merkwürdig schwebenden und doch irgendwie ansaugenden Sitz.

„Schön, nicht? Und wie weit man sieht.“

„Ja. Viel weiter als von unten.“

„So, nun muß ich ihn mitnehmen, er muß heim. Es wird dunkel. Morgen kommt er wieder“, sagte der freundliche Mann und hob den Arm, um Anja herunterzuheben.

„Danke, nein, ich kann allein.“ Sie hatte das rechte Bein zurück über die Kruppe geschwungen und ließ sich an der linken Seite des Pferdes heruntergleiten. Bums, da stand sie. Er sah sie lächelnd an.

„Gut gemacht. Bis morgen also. Wie heißt du denn?“

„Anja. Und Sie?“

„Anders. Nein, so meinte ich es nicht –“ Er lachte jetzt ganz richtig. „Ich heiße ‚Anders‘. Mit dem Familiennamen. Bin Pferdepfleger im Reitverein, da drüben. Auf dem Eulengut. Kennst du es nicht?“

„Nein. Wir sind erst hierhergezogen.“

„Aha. Du bist neu. Sonst hätte ich dich ja auch schon gesehen.“ Herr Anders hatte Kerlchen an der Mähne gefaßt und ging mit ihm los, im gleichen Schritt. Anja lief nebenher.

„Gute Nacht, Kerlchen! Schlaf schön – gute Nacht, Herr Anders. Und danke fürs Aufsitzen!“

„Bitte. Bist du morgen wieder da?“

Er hätte nicht zu fragen brauchen.

„Mutter, ich hab’ ein Pferd kennengelernt, es heißt Rodi, aber es wird Kerlchen genannt. So groß – und so lieb –“ Anja erzählte und erzählte. Mutter wickelte gerade den einen der kleinen Buben in eine schimmernd weiße, weiche Windel.

„Das ist aber schön! Ein Pferd – da können die kleinen Brüder später reiten lernen –“

„Ich – ich bin schon – nein, ich hab’ nur drauf gesessen. Geritten bin ich nicht, aber drauf durfte ich ...“

„Weißt du, was Anja erlebt hat? Sie erzählte es mir vorhin, strahlend und glühend vor Glück. Sie hat auf einem Pferd gesessen, hier irgendwo muß ein Reitverein sein.“ Mutter goß Tee ein und lächelte, während sie ihrem Mann die Tasse hinüberreichte. Er klopfte ihr zärtlich auf die Hand, sah sie an.

„Vielleicht findet sie dort Freundinnen. Na, jetzt hat sie ja auch Brüder. Sie schließt sich schwer an, oder?“

„Ja, das typische Einzelkind. Gewesen, gottlob, wenn die Brüder auch sehr viel jünger sind. Aber – du, weißt du, woran ich denken mußte, als sie mir das vorhin erzählte? Ich ahne ja nicht, wie weit Erinnerungen zurückgehen können, aber ... Ihr Vater, Walter also, hat sie mal auf ein Pferd gesetzt, als sie ungefähr ein Jahr alt war oder etwas darüber, ich weiß es nicht genau. Er liebte ja Tiere so, am meisten Pferde. Immer sagte er, Anja würde mal eine große Reiterin. Und da hat er sie auf ein Pferd gehoben, und sie wollte absolut nicht wieder runter, klammerte sich fest und schrie: ‚Leiben! Leiben!‘ Das hieß ‚bleiben‘. Und als er sie schließlich herunternahm, hat sie bitterlich geweint. Meinst du, daß sie sich daran noch erinnert?“

„Bewußt sicher nicht. Aber vielleicht unbewußt. Es muß aber nicht sein. Das erstemal auf einem Pferd zu sitzen, das ist auf alle Fälle ein Erlebnis. Ach ja, unsere kleine, große Anja – ob die Jungen später auch mal so verrückt auf Pferde sein werden? Mir wär’ es jedenfalls lieber als auf Motorräder.“ Beide lachten.

„Mir wahrhaftig auch! Nein, nur nicht Motorräder. Ach, ein Glück, daß sie noch so klein sind ...“

Anja wachte auf, ehe Mutter sie weckte. Es war noch ganz dunkel. Sie lag still und versuchte, sich an das zu erinnern, was sie geträumt hatte.

Von etwas Großem, Warmem, Lebendigem – von Kerlchen natürlich! Er stand und schnoberte an ihr herum, und sie zog eine Mohrrübe nach der andern aus der Tasche. Anja lachte. Das mußte kein Traum bleiben. Wenn sie heute hinlief, um ihn zu treffen, würde sie bestimmt Mohrrüben mitnehmen. Erst aber kam die Schule. O weh.

Eine neue Schule, eine neue Klasse, in der sie kein Kind kannte, und alle untereinander kannten sich – das war keine schöne Aussicht. Ob Mutter sie hinbringen würde? Hoffentlich. Oder Vater?

Es wäre vielleicht besser, Vater ginge mit, da würden die andern gleich sehen, daß sie einen Vater hatte. So lange hatte sie keinen gehabt. Es brauchte ja niemand zu wissen, daß es ihr zweiter Vater war. „Stiefvater“ wollte sie nicht denken, das war ein häßliches Wort. Und Vater war wirklich kein böser Stiefvater.

Auf einmal merkte Anja, daß sie weinte. Es weinte einfach aus ihr heraus, sie hatte gar nicht gemerkt, wann es anfing. Schleunigst kroch sie mit dem Gesicht unter das Deckbett, zog es mit beiden Händen über sich und hielt die Zipfel fest. Wenn Mutter kam und sie wecken wollte und merkte, daß sie weinte, und dann fragte ...

Sie konnte ja nicht erklären, warum sie weinte, das wußte sie genau. Sie hatte Angst – vor der neuen Schule, vor der neuen Klasse, vor dem neuen Leben. Nicht aufstehen müssen, nicht in die neue Schule gehen – wenn Mutter kam, würde sie sagen, sie hätte Kopfschmerzen oder ihr wäre schlecht – oder –

Dann aber konnte sie nachmittags nicht zu Kerlchen laufen. Er würde stehen und auf sie warten, umsonst – sicherlich würde er das. Wenn sie ihm auch nur Hustenbonbons gebracht hatte. Nein, sie mußte aufstehen, sie mußte in die Schule. Es half nichts. Zu Kerlchen wollte sie.

Sie hatte aufgehört zu weinen, zog das Deckbett vom Gesicht und guckte zum Fenster hinüber. Das war jetzt ein graues Viereck, es begann zu dämmern. Gleich würde Mutter kommen.

Aber Mutter kam nicht. Anja hörte sie hin und her gehen, zur Küche und zurück ins Schlafzimmer, hörte sie zärtlich beruhigend reden mit den kleinen Jungen, denen sie die Flasche gab, mit Vater lachen. Warum kam sie nicht? Sicherlich war es doch höchste Zeit.

Anja gab sich einen Ruck und kroch aus dem Bett. Im Schlafanzug und barfuß tappte sie durchs Zimmer, machte die Tür einen Spaltbreit auf.

„Mutter?“

„Ja, Anja! Bist du wach? Komm schnell, du frierst doch.“

In der Küche war es warm, Mutter stellte gerade die Kaffeekanne auf den Tisch. Vater stand am Herd und ließ ein Ei nach dem andern ins zischende Fett gleiten. Sein Gesicht war vergnügt, er nickte Anja zu.

„Heute frühstücken wir amerikanisch, mit Speck und Eiern, magst du das?“ fragte er munter. Anja mochte es nicht, sie nickte aber trotzdem.

„Setz dich. Du kannst nachher duschen, damit wir zusammen frühstücken können. Komm, hier ist Platz für dich.“

Die Küche war schon ganz gemütlich, Vater und Mutter mußten gestern noch fleißig gewerkelt haben. Der viereckige Tisch stand vor der Eckbank, eine bunte Decke darauf – Vater nahm gerade die roten Teller vom Bord. Sogar das Tellerbord hatte er schon angeschraubt, die Küche sah wohnlich und reizend aus.

„Nicht wahr? Wir haben die schönste Küche der Welt“, sagte er und ließ ein Spiegelei auf Anjas Teller rutschen. „Dort ist Brot – was willst du trinken? Kakao? Hier ist dein Becher.“

„Muß ich nicht in die Schule?“ fragte Anja nun doch. Sie hatte es so lange bei sich behalten, wie es ging, jetzt aber meinte sie, sie verpaßte die Zeit, wenn sie noch länger schwieg. Mutter hatte sich gerade gesetzt, sie sah so jung und eifrig und rotbackig aus, ein bißchen zerrauft, aber das stand ihr gut.

„Ach, heute noch nicht“, sagte sie und goß sich Milch in den heißen Kaffee, „du fängst doch diesen Herbst mit der höheren Schule an. Da lohnt es nicht mehr, in eine andere Volksschule zu gehen. Die Arbeiten zur Aufnahmeprüfung habt ihr in der alten Schule doch schon geschrieben.“

„Und da brauch’ ich jetzt nicht ...“ Anja sah Mutter mit weit aufgerissenen Augen an.

„Nein. Nächsten Montag bringt dich Vater ins Gymnasium, dann sind dort die mündlichen Prüfungen. Nach dem, was du schriftlich geleistet hast, brauchen wir keine Angst zu haben“, sagte Mutter. „Er war bei deiner Klassenlehrerin. Es wird schon alles klappen, Anja. Nun iß – nachher läufst du mir rasch zum Einkaufen. Gegenüber, weißt du, das Geschäft am Platz. Ist das nicht praktisch für uns, es so nahe zu haben?“ Mutter plauderte weiter. Anja saß und schluckte an dem Stück Brot, das sie sich abgebröckelt hatte, schluckte und schluckte. Es wurde immer mehr im Mund.

Vielleicht bin ich wirklich krank, oder ich werde krank, ich ziehe einen Bären, wie Mutter das früher nannte, wenn ich mich schlecht fühlte. Nächste Woche in die höhere Schule, Aufnahmeprüfung, lauter neue Kinder, die einander noch nicht kannten. Das war doch dann nicht so schlimm, oder es war für alle gleich schlimm.

Sie versuchte, sich das einzureden. Sie wollte auch nicht krank werden. So verlockend die Vorstellung war, zurück ins Bett zu kriechen und die Decke über den Kopf zu ziehen, zu sagen: „Mir ist nicht gut ...“ – der Gedanke an Kerlchen, der auf sie wartete, war stärker. Nein, nicht krank werden! Sie wollte Mutter gern helfen, wenn sie nachmittags wieder hinauslaufen und Kerlchen füttern konnte, vielleicht wieder aufsitzen, vielleicht ein Stück reiten ...

Eins aber wußte sie genau, wenn sie es auch nicht denken mochte. Jetzt war alles, alles anders als früher. Nicht nur die Wohnung, die Wohngegend, die Schule – alles war anders, das ganze Leben. Erschreckend, beängstigend, bedrückend anders, sie kam nicht daran vorbei. Aber inmitten dieser fremden und gefährlichen Weite stand etwas Warmes, Lebendiges, Gutes, etwas, das auf sie, Anja, wartete.

Anja lernt reiten

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