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In solcher Stimmung sollte man keine Entschlüsse fassen.

Nein, man sollte nicht.

Aber gerade in solcher Stimmunyg ...

Es war ein Tag, um sich einen haltbaren Ast zu suchen und einen Strick dazu. Keine Angst, weder das eine noch das andere war vorhanden, aber es tat so wohl, dies einmal vor sich hin zu knirschen.

Wir hatten gestern gefeiert. Was man so feiern nennt. Keine wüste Orgie, aber immerhin – die Jungen gingen lieber zu Fuß nach Hause. Als sie gingen, heißt das. Es war ein schweres Stück Arbeit, sie dazu zu bewegen. Uli lag schon zusammengekringelt auf der Couch wie ein Dackel, sie hat die beneidenswerte Eigenschaft, auch bei Kanonendonner einschlafen zu können. Und mir fielen die Augen seit drei Stunden pausenlos zu. Endlich waren die lieben Gäste raus – ich warf mich in die Waagerechte und versuchte nachzuholen, was Uli mir voraus hatte.

Natürlich wachte ich nach meiner Gewohnheit zeitiger auf als nötig. Das ist auch so eine hassenswerte Eigenschaft an mir. Ich war wütend auf mich und die Welt, es roch nach kaltem Zigarettenrauch und warmem Mensch, puh, nein, Fenster auf – aber selbst das half nicht. Und da faßte ich also meinen Entschluß.

Nein, ehrlich: nur beinah. Richtig faßte ich ihn, als die Post kam. Ich hatte vorher sozusagen mit dem Entschluß gespielt, hatte ihn an mich herangezogen und wieder von mir gestoßen, so, wie man vor einigen Jahren oder Jahrzehnten tanzte. Das ist ganz lustig und reich an Variationen. Ich stieß ihn also wieder von mir – bis die Post kam.

Es stellte sich heraus, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Einen sehr entscheidenden: Ich hatte auf Hilfe von außen gewartet. Dabei hat mich das Leben doch wahrhaftig gelehrt, daß Hilfe nie von außen kommt. In einem Beruf wie meinem, in dem man darauf angewiesen ist, eigene Produkte anderen Leuten zu guten Preisen anzudrehen, darf man diesen Fehler noch weniger machen als in anderen, gut bürgerlichen Lebenslagen. Natürlich hofft und harrt man: Wenn dieser Streifen angenommen wird, dann wird von nun an jeder angenommen. ›Streifen‹ – damit meinen wir, meine Berufskollegen und ich, eine Bildserie mit Text darunter, für aktuelle Zeitschriften gedacht. Von der Herstellung dieser Streifen leben wir, mit Kamera und Schreibmaschine, besser oder schlechter. Meist schlechter.

Ich hatte also gehofft, daß mein jüngster Streifen Gnade vor den Augen eines dicken Zeitungsonkels finden würde, eines Mannes, den ich nicht kenne und nie kennen werde und der für mich so wichtig ist wie – na, wie beinah eine mittelgroße Liebe. Und dieser Onkel sagte also: »Nein.« Der Streifen erwies sich als anhänglich und kam zu mir zurück. Dabei war er bestellt gewesen.

»... deshalb bedauern wir, Ihre Reportage diesen Herbst nicht mehr bringen zu können. Wegen Verkleinerung unseres unterhaltenden Teiles und Vergrößerung unserer Annoncenseite ist es uns leider unmöglich ...«

»Schietkrom«, knurrte ich und zerknüllte den Brief. Mein Vater stammt von der Waterkant, daher verleihe ich meinem Zorn mitunter Ausdruck auf Plattdütsch. Mein schöner Streifen! Meine tollen Bilder! Meine geistreichen Unterschriften! Kein Wunder, daß diese Zeitschrift Pleite macht, wenn sie sich derartige Spitzenbeiträge entgehen läßt!

Pleite – ich zögerte, dieses Wort zu denken. Pleite auf der ganzen Linie, so kam ich mir vor. Es war nicht diese Sache allein, es wurmte schon lange in meinem Leben. Solange man jung ist, kann man von Haferflocken und Buttermilch aus dem Supermarkt leben und darauf hoffen, daß das Genie eines Tages entdeckt und damit alles gut wird. Wenn man sich aber langsam, langsam den Dreißigern nähert und keinen richtigen Beruf hat ...

Nein, so schlimm ist es noch nicht. Aber es ist – beinah so schlimm, oder, noch schlimmer: ziemlich bald so schlimm. Wie bald, das verschweige ich.

Und nun mein Entschluß.

›Verkauf den Wagen und fang etwas Vernünftiges an‹, hatte Mutti unzählige Male gesagt, ›ein Kurs in Stenografie und Schreibmaschine dauert höchstens fünf Monate. Du kannst auf der Couch schlafen, das geht ohne weiteres. Und dann fängst du mit achthundert Mark im Monat an. Ich habe von Elfi gehört ...‹

Elfi, die so sehr tüchtige, sehr hübsche, sehr zielbewußte Tochter von Muttis Freundin! Nein danke, danke vielmals! Alles, was an Widerstandsresten noch in mir schlummerte, richtete sich jäh auf, besser: bäumte sich auf. Ich spürte es rein körperlich.

»Das nicht!« flüsterte ich wild, so wild, daß Uli sich herumwarf und beinah von der Couch gefallen wäre. »Was hauchst du denn da so durchdringend?« fragte sie interessiert. Sie weiß, wenn ich ganz wütend bin, werde ich leise.

»Soll ich lieber brüllen?« Ich suchte mit einer Entschlossenheit nach meinem linken Schuh, der unter ein Möbelstück geraten sein mußte, daß an ein Weiterschlafen für Uli nicht zu denken war. »Daß du es weißt: Ich hab’ es satt. Jawohl, satt, satt, satt! Ich heirate!«

Ich schrie es jetzt heraus, sozusagen fünfmal unterstrichen. Von nebenan klopfte es an die Wand. Nächtliche Ruhestörung – na, so nächtlich war sie gar nicht mehr. Wenn der Briefträger schon da gewesen war, und überhaupt ...

»Bist du wahnsinnig geworden heute nacht?« fragte Uli mit besorgtem Unterton. Dieser Unterton war ernst, ich hörte es genau. Uli konnte mitreden. Sie war verheiratet oder doch verheiratet gewesen, ihr Mann befand sich seit einiger Zeit ›auf Reisen‹. Sie leben getrennt – bis auf weiteres.

»Nicht wahnsinnig. Einsichtig! Ich sehe ein, daß ich im Beruf eine Niete bin. Eine ganze, vollständige Niete. Da, lies das –«, und ich fegte ihr den Absagebrief des dicken Onkels hin. »Deshalb heirate ich.«

›Heiraten ist immer ein Risikos‹, so heißt ein Theaterstück. Darin heiratet, soweit ich informiert bin – ich habe es selbst nicht gesehen –, ein Gattenmörder, des Verbrechens nicht überführt und mangels Beweisen freigesprochen, eine Frau, die ihren Mann ebenfalls auf elegante Weise unter die Erde gebracht hat. Ich finde diesen Vorwurf makaber. Ich selbst möchte, wie viele oder sogar fast alle jungen Menschen weiblichen Geschlechts, heiraten, zu einem verläßlichen Menschen gehören, mit ihm durch dick und dünn gehen und Kinder haben. Nicht nur eins, sondern mehrere. Rotbakkige, stämmige, meinetwegen zeitweise auch rotznäsige Kinder, die in Strampelhöschen in der Sonne liegen und krähen, solange sie klein sind, und später reiten, daß einem das Herz lacht. So ungefähr. Um dieses Zukunftsbild wahr zu machen, braucht man einen Mann. Und da man sich nicht selbst einen zusammenbasteln kann, muß man nehmen, was sich bietet. Insofern ist Heiraten natürlich ein Risiko, gemeinhin.

In meinem Falle jedoch nicht. Jochen – um den wird es sich also von jetzt an in meinem Leben handeln –, Jochen ist die große, die seltene, die einmalige Ausnahme. Ich bin nicht verblendet. Ich sehe klar, jedenfalls Jochen.

Er dient jetzt das siebente Jahr um mich. Sieben Jahre, das ist wahrhaftig biblisch. Und da ich nur Brüder und keine einzige Schwester habe, läuft er nicht Gefahr, wie weiland Jakob, sieben Jahre um Rahel – in diesem Falle Lex – gedient zu haben und sich dann mit Lea begnügen zu müssen. Wenn man einen Mann sieben Jahre lang kennt, besser: wenn er sieben Jahre für einen da war, so daß man jederzeit auf ihn zurückgreifen konnte, dann geht man kein Risiko ein, wenn man ihn heiratet.

Jochen ist Patentanwalt, also etwas »Richtiges«. Er verdient so viel, daß er jederzeit heiraten kann. Er war für mich immer der Typ des Mannes, den man nicht heiratet: bieder, zuverlässig, älter als ich, in keiner Weise aufregend, aber auch nicht langweilig. Sehr lobenswert in seiner Bemühung, meine Interessen zu teilen, jedenfalls solange sie sich in einem Rahmen halten, den er akzeptieren kann. Wenn ich fand, daß man ohne Schilaufen nicht leben könnte, schaffte er sich Schier an, und als ich plötzlich zu einer eifrigen Konzertbesucherin wurde, weil ich den hiesigen Dirigenten so hinreißend finde – aus der Ferne, versteht sich; wann hätte ein Dirigent sich je für eine kleine Fotojournalistin interessiert –, so entdeckte er gutmütig sein musikalisches Gehör. Nur beim Reiten – also da konnte er nicht mit und wollte auch gar nicht.

»Man muß nicht von allem haben wollen«, erklärte er rundheraus und in einem, wie ich zugeben muß, durchaus männlichen und überraschend unwiderruflichen Ton. »Pferde sind gefährliche Tiere, die dem Reiter nach dem Leben trachten, so steht es in mancher Reithalle angeschrieben, und ich möchte weder mich selbst noch meine Frau eines Tages gelähmt oder verkrüppelt erleben. Schilaufen genügt mir. Diskussionen erübrigen sich. Basta.«

Diese kurze Ansprache an sein Volk, das in diesem Augenblick von mir verkörpert wurde, imponierte mir mehr, als ich im Augenblick zugeben mochte. Jochen ist ein Mann, nehmt alles nur in allem. Na schön.

Vom Schilaufen hat er übrigens einmal einen Satz geprägt, über den ich so lachen mußte, daß ich kopfüber in eine Schneewehe fiel, wo es gar nicht nötig war: »In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erfanden die Menschen eine Selbstfolterung. Sie banden sich lange Hölzer unter die Füße und fuhren damit so lange bergab, bis sie Nasen- und andere Beine brachen und in der Sonne – und in Gips – liegen mußten, bis der Urlaub vorbei war. Warum eigentlich nicht gleich ohne Gips in die Sonne?«

»O Jochen, das verstehst du nicht«, sagte ich, während ich mir den Schnee aus dem Pulloverkragen grub, erst hinten und dann vorne, wobei Jochen Stielaugen bekam vom Zusehen, soweit man bei ihm von solchen reden kann. Jochen ist überaus korrekt. »Du bist ein Mensch, zu dem Hugo Wolf und Fontane passen, Kremserfahrten und eine Badeanstalt ohne Familienbad. Kein Wort gegen solche Menschen. Sie sind liebenswerte Fossilien. Gib mir einen Kuß, Fossil!« Das tat er, und gar nicht einmal ungeschickt.

»Was verstehe ich nicht?« fragte er hinterher. Ich hatte schon wieder vergessen, worüber ich doziert hatte – Grund: dieser überraschend geschickte Kuß. Daran erinnert, murmelte ich, er werde es schon noch einsehen, und begab mich zum Lift. Es war mein letztes Geld, das für das Abonnement dieser Himmelfahrt draufging, aber wenn man doch nun einmal hier war! Und außerdem gab es ja Jochen, der einen nie verließ.

Nicht etwa, daß ich ihn ausnützte. Aber man könnte ihn anpumpen, schon das beruhigte. Man kann auch bei ihm heulen, wenn einem ein Streifen oder eine Liebe oder ein ganz großer Plan schiefgegangen ist. Er lädt einen dann in ein Café oder ins Kino ein, anschließend ans Tränentrocknen, und dann berappelt man sich wieder, bedankt sich und geht aufs neue an die Arbeit oder zum nächsten Rendezvous. So hatten wir es immer gehalten, nicht nur ich, sondern auch Renate und Carla und Tanja, die eigentlich Trude heißt, aber Trude darf man ja heute nicht mehr heißen, wirklich nicht.

»Bei Jochen kann man so schön feensen«, hatte Carla einmal gesagt, deren Eltern aus Sachsen stammen – dort nennt man es also so. Ich habe auch schon bei Jochen gefeenst.

»Lex, sei vernünftig! Mal den Deubel nicht an die Wand«, mahnte Uli.

Diese ganzen Gedankensprünge waren rasend schnell durch mein Herz und Hirn galoppiert, ich hatte gar nicht wahrgenommen, wie schnell. Mein Satz »Ich heirate!« stand, fünfmal unterstrichen, sozusagen noch im Zimmer. »Wer spricht hier von Teufel. Jochen ist keiner, Jochen ist ein Engel!« sagte ich wütend, sie absichtlich falsch verstehend. »Jochen ist der Inbegriff eines Mannes, der einen glücklich machen kann.«

»Eines Mannes – eben«, sagte Uli und machte die Kerze auf ihrer Couch, um ihr morgendliches Hundertmal-Radfahren-in-der-Luft zu beginnen. Sie macht das, um den Kreislauf anzuwerfen. »Männer sind keine Teufel. Sie sind etwas viel Schlimmeres: eben Männer. Völlig ichbezogen. Und daher langweilig. So langweilig, daß du lieber im Beruf bleibst oder dahin zurückkehrst. Oder bist du der Meinung von Lieschen Müller: ›Mann ist Mann, und wenn er im Bett sitzt und hustet‹? Dann hättest du dich aber stark verändert auf –«, sie stoppte ab.

»Auf meine alten Tage, wolltest du sagen«, vollendete ich betrübt. »Sprich es nur aus. Mein kleiner Neffe – wenn man schon von kleinen Neffen erzählt! – sagte neulich zu mir, als ich mit guter geschauspielerter Spannung über sein Kasperltheater hinüberguckte: ›Tante Lex, du hast einen Hals wie eine Schildkröte, so lang und so neugierige.‹ ›Und so faltig‹, hat er taktvoller Weise weggelassen. Ich stellte es selbst fest, als ich kurz danach in den Spiegel guckte, allein gelassen von ihm einer jüngeren weiblichen Spielkameradin wegen. Und da soll man nicht heiraten, ehe es zu spät ist?«

»Nein, du sollst nicht heiraten, weil«, beharrte Uli, erbittert in der Luft radfahrend. »Alle Weil-Heiraten gehen schief. Weil er fertig ist, weil ich es satt habe, mich mit Zeitungsonkels herumzuschlagen, weil wir jetzt eine Wohnung kriegen könnten, weil Carla am zehnten heiratet, und sie ist doch nur halb so hübsch wie ich. Weil –«

»Weil ich ihn liebe?« vollendete ich ihren angefangenen, abrupt abgebrochenen Satz. »Ist das auch ein Grund dagegen?«

»Wer hat hier von Liebe gesprochen?« fragte Uli und zählte weiter. »Zweiundsiebzig, dreiundsiebzig –«

»Du. Oder doch beinah.«

»Eben. Beinah nur. Weil ich ihn liebe, das ist ein Grund zu heiraten. Der Grund. Der einzige. Für die Dummheit zu heiraten gibt es nur eine einzige Entschuldigung – diese. Die Sache, die man Liebe nennt. Verstehst du? Hundert.« Sie ließ die Beine in die Waagerechte fallen.

»Hm. Aber die Liebe ist ja da. Bei ihm jedenfalls«, sagte ich.

»Schön. Für ihn also ein Grund. Und bei dir?«

»Bei mir? Also, ich könnte mir sehr gut vorstellen –«

»Wenn du schon so anfängst. Du könntest dir vorstellen, daß jemand, der ganz anders ist als du und anders denkt und anders handelt und anderes anstrebt, ihn lieben könnte. Und – so sagten wohl unsere Urgroßmütter, wenn es ums Heiraten ging: Warte nur ab, die Liebe kommt mit der Ehe. Stimmt’s?«

»Ungefähr.«

»Du liebst ihn also nicht? Oder noch nicht? Oder hast ihn sehr gern? Oder schätzt ihn? Herrje, wie viele Vokabeln gibt es, um die eine, wichtige auszustechen –«

»O Ulrike, du legst auch immer den Finger auf die wundeste Stelle, geradezu brutal«, murrte ich.

»Du liebst also, im besten Falle, seine Eigenschaften«, beharrte Uli unbeirrt.

»Mag sein.«

»Dann laß die Finger davon.«

»Aber diese Eigenschaften behält er doch –«

»Wahrscheinlich. Hoffentlich. Nehmen wir es einmal an. Trotzdem – liebe Lex, ich will durch ein Gleichnis mit dir sprechen. In Gleichnissen kann man vieles klarmachen. Du hast also bereits Neffen und Nichten. Da man diese zu beschenken pflegt, wirst du wohl einigermaßen darüber informiertsein, was der heutige Wohlstandsstaat im Jahrhundert des Kindes zu bieten hat. Ich spreche von Spielsachen. Neulich sah ich mich in einem einschlägigen Geschäft um. Da entdeckte ich amerikanische Puppen. Sie konnten weinen, sprechen, essen und sogar naßmachen. Sie besaßen also sozusagen alle Eigenschaften eines Babys. Kannst du dir vorstellen, daß du solch ein perfektes Abbild auch nur annähernd so lieb haben könntest wie ein warmes, süßes, eigenes lebendiges Baby? Sag!«

»Natürlich nicht. Ich bin ja auch kein Kind. Kinder –«

»Kinder lieben bekanntlich die primitivsten Puppen, denen ihre eigene Phantasie und ihre phantasiereiche Liebe Leben einhaucht, mehr als solche Ansammlungen von Eigenschaften. Jeder Mensch bleibt in einem Punkt ein Kind. In dem nämlich, wo sein Herz sitzt. Da ist er unlogisch, leidenschaftlich, eigensinnig, zu jedem Opfer fähig, kindisch und großartig. Da ist und bleibt er ein Wilder in der Wildnis, ohne jeden Verstand, da umkleidet er den geliebten Anderen mit seiner Phantasie und liegt vor ihm auf den Knien, da ist er hinreißend und ehrlich in all seiner Verlogenheit, da wächst er über sich selbst hinaus und wird ein Stück Gott – ja, in der Liebe ist noch immer etwas Göttliches, soviel Quatsch auch darüber geredet und geschrieben wird. Deshalb: weil ich ihn liebe, genau richtig. Hugh, ich habe gesprochen.«

»Hm.« Ich hatte ihr zugehört, ohne sie zu unterbrechen. Sie hatte vor sich hingesprochen, das Gesicht dem Spiegel zugewandt, vor dem sie saß. Ich trat hinter sie. »Hast du je so eine Liebe erlebt, ich meine: du selbst?« fragte ich leise.

Sie hob die Augen und sah mich im Spiegel an, einen ganz kurzen Augenblick. Dann senkte sie sie wieder, stumm. Mir war das Antwort genug.

»So, und nun will ich dir etwas sagen«, brach ich plötzlich los. »Das, was du hier schilderst, diese große Liebe, die gibt es nämlich gar nicht. Die ist Phantasie und Einbildung und Gewäsch, mindestens aber ein Wunschtraum, nie Wirklichkeit. Damit locken die Filmproduzenten ihr Publikum in die Kinos und die Schriftsteller ihre Leser an ihre Bücher. Immer ist es die große, die einmalige, die überragende, die Liebe, die alles besiegt. Ein Schmarren, sag’ ich dir! Es gibt Verliebtheit, die kommt und geht – und man weiß nach ein paar Monaten noch, daß es sie gegeben hat, aber man spürt nichts mehr. Und es gibt Sympathie, richtige, warme, ehrliche Freundschaft, die weiß, warum einer den anderen schätzt. Jawohl. Aber die große Liebe, von der alle faseln – Quatsch, Hirngespinst, daß du es nur weißt! Irgend jemand hat sie erfunden, und alle glauben es, weil sie es gern glauben möchten. Weil es so schön klingt und es einen, im Gedanken daran, so angenehm gruselt. Wegen einer großen Liebe auf eine Erbschaft verzichten oder auf einen Thron oder ein reiches Leben – huh, wie romantisch! Glaubst du etwa daran?«

»Hast du nie so was erlebt? Einen Hauch davon verspürt?« fragte Uli leise. Sie sah mich dabei nicht an, auch nicht im Spiegel.

»Ich? Von –«, ich stockte. Es gibt Situationen, in denen wir ganz ehrlich sind, Uli und ich. Ganz, bis ins Tiefste hinunter ehrlich. Wir haben das nie vereinbart oder je mit Worten voneinander gefordert, aber wir handeln danach. Jetzt, als Uli fragte, fühlte ich, daß ich auf dem Weg, den ich wild entschlossen eingeschlagen hatte, bremsen mußte. ›Nie‹, hatte es aus mir herausschießen wollen. Ich schloß den Mund.

›Einmal – vielleicht –‹, wäre ehrlich gewesen. Oder doch nicht ehrlich, jedenfalls nicht genau das, was den Tatsachen entsprach. Denn es war nichts gewesen, es hätte sein können, eventuell, so vielleicht könnte man es formulieren. Einen Hauch davon verspürt – Uli zitierte gern, ich wußte es. Sie zitierte in diesem Fall haarscharf genau richtig.

»Uli«, setzte ich an, und es klang ganz anders als vorhin, es klang so, daß man den Abschnitt, der dazwischen liegt, genau fühlte: »Verstehst du denn nicht, was ich meine? Auf die große Liebe warten, die es nicht gibt, das ist doch verrückt. Das tut man mit siebzehn, und mit zwanzig resigniert man und sieht ein, daß – ich bin Ende zwanzig. Ich will endlich Ordnung in meinem Leben haben, einen Sinn, etwas, wofür es lohnt, sich einzusetzen. Einen Mann, der standhält, auf den man sich verlassen kann und dessen man sich nie schämen braucht, eine Aufgabe, die es wert ist – Kinder. Ja, wirklich, Kinder. Wir sind zu Hause viele Geschwister, das weißt du, lauter Jungen und ich, und wenn wir auch manches anders haben möchten, als wir es zu Hause haben und hatten: Kinder möchte ich. Es klingt sicher merkwürdig, heutzutage, da eine junge Frau unter der Aufgabe, für den Mann zu sorgen und drei Kinder großzuziehen, zusammenzubrechen pflegt. Trotzt Wasch- und Spülmaschine, Zweitauto zum Einkaufen und Zentralheizung. Wieso diese Frauen eigentlich zusammenbrechen, ist mir nie klar geworden. Früher schafften die Mütter das Dreifache und standen als Großmütter noch ihren Mann, sozusagen. Ja, ich möchte Kinder. Ich kenne ja genug. Meine Brüder haben mich bereits mehrfach zur Tante gemacht. Die eine Krott von Friedrich, der eine Französin geheiratet hat – ich kann dir sagen, so was Süßes gibt’s nicht nochmal. Da kommt sie in unser Wohnzimmer, in dem bisher ein, Gott sei’s geklagt, äußerst schäbiger Teppich eine fadenscheinige Bürgerlichkeit vortäuschen sollte – du weißt, Mutti gibt sehr wenig auf derlei Dinge. Und da hatte es Vater eines Tages satt und kaufte einen roten, einen wunderbaren, einen echten – und da kommt diese Hygette zu uns auf Besuch und bleibt in der Tür stehen – sie ist fünf – und sagt: ›Oh, c’est formidable!‹ Ich hätte sie auf der Stelle verschlingen können ... Und auch sonst. Ich bin verschossen in Kinder. Der eine von Conrad reitet schon, er ist erst drei. Wenn der runtersaust und dann, das Heulen verbeißend, das ihm um die Mundwinkel zuckt, ›wieder rauf!‹ verlangt – du, so was möchte ich auch haben. Kinder, aus denen man was machen kann, Kinder, in denen alle Möglichkeiten noch drin sind, an denen noch nichts verbogen, verkrüppelt, verdorben ist. Kinder, die man so erziehen kann, daß das Wesentliche herauskommt ... Uli! Hörst du eigentlich zu?«

Uli sah mich jetzt an, dann nickte sie langsam.

Wir wußten genau, daß wir hier am Kernpunkt waren. Uli ist unmöglich erzogen worden, sie hat es mir erzählt. Sie brauchte Jahre, um abzulegen, was sie hinderte, so zu sein, wie sie eigentlich angelegt ist. ›Kinder sind die große Möglichkeit der Welt‹, hat sie mal gesagt.

»Jochen hat, wie schon erwähnt, die besten Eigenschaften. Hervorragendes Erbgut. Wichtig, wichtig. Und es käme mit ihm Ordnung in mein Leben, Ordnung, nicht im spießigen Sinne, sondern in unserem. Ein Sinn. Sag selbst, hat es Sinn, ewig Streifen einzuschicken und sich abzumühen, nur damit man hat, was man zum Leben braucht? Lohnt sich das? Das Leben hier auf einer Bude, billig, spartanisch, manchmal lustig, das geb’ ich zu, im Grunde aber doch nur ein Übergang zum Eigentlichen, der eines Tages beendet sein sollte?«

»Wie weise du sprichst«, sagte Uli leise und ganz ohne Spott, »wie weise. Und du hast rund herum recht. Rund herum und ohne jede Einschränkung. Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß. Gehe also hin und tu, wie du gesagt hast.«

Sie hatte sich einen Turban aus einem Frottiertuch um den Kopf geschlungen und stieg jetzt aus dem Schlafanzug, der wie eine geringelte Schlangenhaut hinter ihr zurückblieb. So, mit sonst nichts Nennenswertem bekleidet, wanderte sie ins Bad hinüber. Durch die offenstehende Tür hindurch hörte ich das Rauschen der Dusche.

Uli hat einiges gegen kaltes Wasser. Sie liebt Wärme, Faulheit, Zusammengerolltsein und zärtliches Schnurren. Was es sie kostet, sich jeden Morgen hochzureißen und unter eiskaltem Wasser den Tag zu beginnen, das ahnt niemand. Nur ich ein bißchen. Jeden Tag bewundere ich es von neuem. Ich selbst nämlich stehe gern auf, ich kann nicht erwarten, was der Tag mir bringt, ich giere sozusagen nach dem Leben. Und immer denke ich: Heute fängt es an. Das richtige Leben. Heute. Spätestens morgen. Und bei diesem Gedanken ist man nun Ende zwanzig geworden, ohne einen richtigen Beruf, und ohne nennenswerten Erfolg.

»Und ich heirate doch«, hörte ich mich schluchzen. Ganz überraschend, wütend, unkontrolliert, mit heißen Tränen auf den Backen. »Ich heirate – Schluß mit der Romantik, Schluß mit dem Sich-selbst-belügen, Schluß mit dem Warten ins Blaue hinein. Ich heirate – ihr werdet es erleben. Ich will endlich in der Hand haben, wofür ich meine Kräfte einsetze, Schluß mit dem ewigen Konjunktiv. Ich heirate ...«

Ich hatte mich auf Ulis Bett geworfen und blieb dort liegen, das Gesicht in die Kissen gepreßt. Uli nahm sich Zeit, wieder hereinzukommen. Sie ist mitunter brutal in ihrer Klugheit und dann wieder von einer rührenden Zartheit. Sie kam erst wieder, als ich längst fertig angezogen war, und das Zimmer gelüftet und aufgeräumt. Wir sprachen allerlei, keine Silbe mehr von Liebe.

Wir verstehen uns ausgezeichnet, Uli und ich.

Die Sache, die man Liebe nennt

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