Читать книгу Die Sache, die man Liebe nennt - Lise Gast - Страница 6
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ОглавлениеIch habe mein »Bestes« angezogen, ein sportliches Kostüm mit Pulli. Darin mochte ich mich am ehesten leiden; Uli hat ein so ausgesprochenes Talent, sich immer passend und vorteilhaft anzuziehen, daß ich meist neben ihr resigniere. Heute aber kam es für mich drauf an, hübsch auszusehen – ich gab mir alle Mühe. Sogar ein Paar neue Halbschuhe hatte ich mir gekauft, und die Strümpfe – hatten sie auch keine Laufmasche?
»Machlos!« trieb Uli mich an, »einen Verlobten läßt man nicht warten.«
»Herrje, immer diese Hast«, knurrte ich, in den Tiefen unseres gemeinsamen Schrankes wühlend, »wenn es ums Heiraten geht, drehen die Vernünftigsten durch.«
»Es geht ja gar nicht um mich«, sagte Uli friedlich. »Ich meine nur, du solltest Jochen nicht mit Kleinigkeiten verärgern. Verlobt sein heißt klug sein.«
»Natürlich.« Ich hatte mich nochmals gesetzt und betrachtete nachdenklich den noch blanken Ring am linken vierten Finger. »Verlobt sein ist komisch, aber auch schön. Es beruhigt. Verheiratet sein wahrscheinlich noch mehr.«
»Ach, was du dir so denkst ...« Uli zupfte vor dem Spiegel an sich herum. »Es beruhigt – in einer Art schon. Aber Baldrian zum Beispiel beruhigt auch – und hu, nein ...« sie schüttelte sich. »Reden wir nicht davon.«
»Sondern schweigen wir weiter zweistimmig von etwas anderem«, sagte ich, ausbrechend. »Von deinem verdammten Pessimismus in bezug auf die Ehe – und deinem vermaledeiten Sarkasmus den Männern gegenüber. Ja, und deiner höllischen Unkerei, was meine Zukunft betrifft. Warum in aller Welt soll ich nicht heiraten wie tausend andere und eine gute Ehefrau werden und sieben bis neun herzige Kinderchen in die Welt setzen, alle mit Jochens Klugheit begabt und seiner Ruhe, seiner Verläßlichkeit und ...«
»Und seiner Denkerstirn, sprich: werdenden Glatze«, vollendete Uli heiter und zog ihre Augenbrauen nach. Ich erraffte das erste, was ich zu fassen kriegte – die Haarbürste –, und schleuderte sie nach ihr, die sich blitzschnell duckte. Peng, machte der Spiegel. Wir standen beide einen Augenblick mucksstill und hielten den Atem an. Sieben Jahre Pech – wir dachten es beide. Aber es auszusprechen, war Uli zu taktvoll und ich zu abergläubisch.
»Ich war grade fertig und brauch’ keinen Spiegel mehr«, sagte Uli, aber es klang bemerkenswert lahm. Es klingelte an der Tür. Da kam Leben in mich.
»Räum die Scherben weg, so was darf er nicht sehen«, flüsterte ich rasch.
»Weil ...«
»Ach, weil so was nicht passieren darf. Es ist auch noch nie – wozu ihn also schockieren? Schnell, ich geh’ schon hinunter.«
Uli gehorchte. Unten stand Jochen – Dr. Joachim Schneider, Patentanwalt –, und begrüßte mich mit einem Kuß auf die Wange. Wir stiegen ein, ich vorn, Uli hinten. Jochen fährt einen seiner Stellung angemessenen, aber keineswegs protzigen Wagen. Ich saß und vermied es, Ulis Blick im Rückspiegel zu begegnen. Obwohl – nun, Uli sollte sich nur unterstehen zu grinsen, wenn ihr ihr Leben lieb war. Über Jochen wird nicht gegrinst, auch nicht heimlich. Ich war wild entschlossen, ihn zu verteidigen bis zur Selbstaufgabe, nun gerade.
»... aber mich ohne deine Zustimmung zu entschließen, das habe ich noch nicht gewagt. Dir soll es gefallen, das ist die große Hauptsache. Und ich weiß doch, daß du lieber draußen wohnst als in der Stadt. Aber ob es dir sonst gefallen wird ...«
›Nun hab’ ich nicht zugehört, na, ich werde schon herausbekommen, um was es sich handelt‹, dachte ich und lächelte ihn auf alle Fälle an.
»Natürlich wird es mir gefallen, wenn du es hübsch findest«, sagte ich bereitwillig.
»Vorsicht, Vorsicht. Es ist doch sehr wichtig«, sagte er und umfuhr einen Sattelschlepper mit Stroh auf dem Anhänger. Hier waren wir schon in ausgesprochen ländlichem Gebiet. »Das Haus liegt auf dem Dorf, nicht in einer hübschen Villensiedlung. ›Auf dem Dorf‹ ist auch nicht ganz richtig, es liegt vor dem Dorf. Der Mann, der es gebaut hat, wollte ringsherum alles aufkaufen, um die Aussicht nach keiner Seite hin zugebaut zu bekommen. Er starb ganz plötzlich, ehe er eingezogen war.«
Wir schwiegen alle drei. ›Wenn Uli jetzt ‚schönes Omen!‘ sagt, hau’ ich ihr eine runter‹, dachte ich, und Uli dachte vermutlich genau das, was auszusprechen ich ihr suggestiv verbot: ›Schönes Omen.‹ Sie sagte es indes nicht.
»Ist dir das arg?« fragte Jochen, was mich rührte. Eins zu Null für ihn, jawohl, auch Patentanwälte können, zumal in der Verlobungszeit, ungemein zartfühlend sein – ›durch Verliebtheit dem Schwachsinn nahe kommen‹, hätte Uli es zweifellos formuliert. Nun, die Gedanken sind frei, sagt ein altes Volkslied.
»Gar nicht arg!« sagte ich sogleich. »Ich meine, ich bedauere ihn natürlich, ihn und seine Familie ...«
»Hat er nicht«, berichtete Jochen. Sein volles, gescheites Gesicht mit der geraden Nase und den betäubend rasierten Wangen sah vorschriftsmäßig geradeaus. »Er war Junggeselle, der einzige, den ich in diesem Alter kenne, im näheren Bekanntenkreis jedenfalls.«
»Außer dir«, sagte ich und lachte, »außer dir – noch.«
»Ja, noch. Nicht mehr lange. Das eben wollte ich anschließend mit dir besprechen. Anschließend erst, und nur, wenn es dir gefällt. Wenn dir das Haus gefällt. Du mußt ehrlich sein, Alexandra, es ist eine wichtige Entscheidung für mich, verstehst du. Dann brauchten wir mit dem Heiraten nicht mehr zu warten. Worauf schließlich? Ich wollte dir meine Junggesellenwohnung mitten in der Stadt nicht zumuten, und ehe wir etwas anderes finden, das hätte natürlich eine Weile gedauert. Wenn wir aber dieses Haus kaufen ...«
Ich fühlte, wie es mir heiß in der Brust aufstieg. Geplant war nämlich, erst Ostern zu heiraten. Ostern – das liegt himmelweit, wenn der Herbst das Land vergoldet. Bis dahin hat man sich gewöhnt, ja, man sagt dann wahrscheinlich: ›Lieber ein Ende mit Schrecken.‹ Himmel, was für Ausdrücke für eine liebende Braut! Ich rief mich verwirrt zur Ordnung.
»Das wäre fein«, sagte ich also und fühlte einen Tritt von Uli, der mich schräg von hinten traf. Verstört überlegte ich, wie dies möglich sein konnte – ich saß doch auf einem ordentlichen Polster und hing nicht in Gurten wie in einem Citroën oder Renault oder einem andern sparsamen Studentenwagen.
»Wirklich? Du freust dich? Wie schön!« Jochen wandte mir einen Augenblick das Gesicht zu, und ich sah gerührt, wie es strahlte. O Jochen, natürlich freu’ ich mich.
»Aber ehrlich sein, Alexandra, bitte. Ich habe extra darum gebeten, daß deine Freundin mitkommt. Sie kennt dich und weiß, was dir gefällt. Und zu dritt kann man überhaupt besser besehen und beraten. Ich kaufe das Haus nur, wenn es euch beiden gefällt. Zufrieden?«
»Zufrieden? Mehr: dankbar«, murmelte ich. Uli trat wieder. ›Tritt du nur, infame Heuschrecke, ich werd’ es dir beibringen, wenn wir allein sind!‹ fauchte ich innerlich und war entschlossen, das Haus nun gerade schön zu finden. Nicht nur schön, sondern wundervoll. Und wenn der Dachfirst nach unten hing und die Decke des Wohnzimmers mit modischen Malereien verziert war, die einem für immer den Blick nach oben verekelten.
»Hier geht’s nach Lauterbach«, sagte Uli in mein leidenschaftliches Denken hinein. Ich fühlte eine herzliche Erleichterung. Uli ist doch die Beste, so borstig sie sich oft stellt.
»Richtig, hier biegt man ab. Einer meiner Brüder ist dort, zu einem Lehrgang. Ach ja, Lauterbach! Ich glaube, das wird meine schönste Zeit bleiben – vor der Ehe natürlich«, fügte ich schnell ein. »Dieser Kursus damals ... Lauterbach ist kein x-beliebiges Gestüt, Lauterbach ist ein Begriff, für jeden, der einmal dort war.«
»Ich hab’ es gehört. Und es soll auch deine schönste Erinnerung bleiben«, sagte Jochen freundlich. »Nur Reiten – nicht wahr, das hört nun auf. Ich bin froh, daß dir bisher nie etwas Ernstliches passiert ist. Wenn ich mir vorstelle, du säßest dort oben auf unberechenbaren Pferden – dort werden doch auch junge Pferde von Kursteilnehmern zugeritten –, dann hätte ich keine ruhige Minute mehr. Natürlich sehe ich auch einmal gern das schöne Material. Mit amerikanischen Geschäftsfreunden war ich einmal zur Hengstparade dort; die staunten, als sie hörten, wie alt das Gestüt ist. Alles Historische macht ihnen immer großen Eindruck.«
»Ja. In Amerika bewundern sie ein Haus, das achtzig Jahre alt ist – und in Lauterbach wird bald das Vierhundert-Jahre-Jubiläum gefeiert«, sagte Uli.
»Unsere Kreisstadt ist achthundert Jahre alt. Achthundert und ein paar dazu. Ich ging noch in die Schule, da wurde das Fest begangen. Alle reitbaren Pferde von Lauterbach hatte unser Reitverein geborgt, es waren über achtzig. Dieser Festzug! Alle Reiter in historischen Kostümen, sie ritten paarweise, und unser Reitleiter mit dem Dreispitz ...« Ich begann, Einzelheiten zu schildern. »Eine von uns hatte – ja?« fragte ich, wie erwachend. Der Wagen hielt. Ich sah verwundert um mich.
»Wir sind da«, sagte Jochen.
»In Lauterbach? Ich dachte ...«
Uli trat aufs neue, diesmal so derb sie konnte. ›Bist du bescheuert, holde Braut?‹ hieß dieser Tritt. ›Wenn wir schon ans Ziel unserer Reise kommen, dann mach bitte deine verklärten Glotzbibberle auf!‹
»Ach so, entschuldige.« Und dann, mit einem unterdrückten Schrei: »O Jochen, das kann doch nicht wahr sein! Ist das etwa das Haus?«
»Zu dienen, gnädige Frau.«
Es war kein Haus, wie sich sofort herausstellte, sondern ein Traum. Ein Traum jedenfalls für einen jungen Menschen unserer Zeit, der auch nur einen Funken Geschmack hat. Ich kniff mich immer wieder in den Arm, aber ich wachte nicht auf. Vielleicht war es doch Wirklichkeit. Ich vermochte es nicht zu fassen.
Das Haus war einstöckig und sah aus, als habe ein Schwede es sich ausgedacht und gebaut. Das Dach weit herabgezogen und von unten mit hellem Holz verschalt – überhaupt sehr viel helles Holz, wohin man auch sah, außen und innen. Im Kaminraum – oh, der Kaminraum!
»So was hab’ ich schon mal gesehen, in ›Film und Frau‹«, seufzte Uli und hatte alle Warnungen dieser und jener Art vergessen, »aber daß es so was in Wirklichkeit gibt ... Hier zu sitzen und Gäste zu haben ...«
Die Räume gingen ineinander über. Insofern konnte man nicht sagen, wie viele es waren. Aber man hatte gleichzeitig das Gefühl von sehr viel Platz und ebenso viel anheimelnder Gemütlichkeit. Das Ganze war einfach und unglaublich raffiniert – einfach unglaublich raffiniert, unglaublich raffiniert einfach. Ich stand und murmelte diese drei Adjektive vor mich hin, stellte sie um, wechselte sie aus und schüttelte den Kopf. Von Berufs wegen gewöhnt, im Text meiner »Streifen« die richtigen Worte so lange hin und her zu schieben, bis sie am richtigen Ort stehen, merkte ich: Hier standen sie immer richtig. Dies Haus war so richtig, wie ein Haus überhaupt nur sein kann. Nur –
»Nur?« fragte Jochen leise. Hatte ich gesprochen? Ich meinte, das Ganze nur gedacht zu haben. Oder war er etwa Gedankenleser? Jochen entwickelte sich ...
»Nur: daß ich hier wohnen soll. Ich meine natürlich: wir«, sagte ich und schüttelte den Kopf noch immer. Jochen sah mich an. In diesem Augenblick, so erzählte Uli mir später, sei ihr aufgefallen, was für schöne Augen Jochen hat. Grau, ein wenig tiefliegend – mit Schatten darin. Schatten, die wohl nirgends ausbleiben, wo das Leben weitergeht. Keiner bleibt jung, keinem wird erspart, daß das Leben ihn rauft, ihm Wunden schlägt und Narben hinterläßt – und seien es nur Schatten im Grund der Augen ...
»Lieber Jochen«, sagte Uli jetzt – sie hatte ihn noch nie so angesprochen, sondern bisher immer »Herr Doktor« zu ihm gesagt – »lieber Jochen ...«
»Ja?« fragte er. Er hatte den Unterton dieser Anrede genau gehört.
»Das Haus ist wunderschön – das Haus ist – Himmel, daß einem alle Worte immer abgegriffen erscheinen, wenn man mal einen Superlativ anwenden möchte«, sagte Uli, ärgerlich über sich selbst. »Schon Super – jeder denkt an Supermarkt oder sonst was Dämliches. Und ich suche ...«
»Lassen Sie es, Uli«, sagte Jochen, und eine rührende Fröhlichkeit klang aus seinen Worten, »suchen Sie nicht. Wozu Worte suchen? Wir haben ein Haus gefunden.«
Das Kaminzimmer war möbliert. Alte Bauernstühle, eine bunte Truhe neben der Holzlege, ein blauer Schrank mit roten Herzen und weißen Tauben. Jochen ging hinaus und kam mit einem Bündel Reisig wieder, legte es in den Kamin und entzündete es mit seinem Feuerzeug.
»Setzt euch, Holz zum Nachlegen ist da, es wird gleich warm. Und etwas zu trinken hab’ ich auch da. Wir müssen doch Brüderschaft trinken, Uli, Sie und ich! Sie sind doch Alexandras beste Freundin.«
Er war wie umgewandelt, der gute Jochen. Gar nicht mehr der gute Jochen, dem man vieles nachsah, sondern ein toller Mann – in einem tollen Haus ...
»Und ich glaube und glaube es nicht«, sagte ich nach einer Weile. Es klang bockig, ich merkte es. Ich hatte einen Whisky getrunken und hielt das Glas mit einem zweiten in der Hand. Sogar an Gläser hatte Jochen gedacht. »Es ist ein Traum oder eine Geschichte, die einem auch der Leser nicht recht abnimmt – also, so dick aufzutragen brauchte der Autor nicht! ›Etwas glaubwürdiger bitte‹, würde der Verleger sagen. ›Streichen Sie oder schwächen Sie wenigstens ab.‹ Oder der Lektor. Oder der Kritiker, wenn es wirklich die Druckerschwärze überstünde.«
»Und keine Treppen!« erinnerte Uli, ungerührt von meinen Darlegungen, sie sieht alles mit praktischen Augen an. »Alles zu ebener Erde, einfach das Haus, das sich jeder seit eh und je gewünscht hat. Ich jedenfalls.«
»Und du? Du auch?« fragte Jochen und sah mich von der Seite an. Ich erwiderte seinen Blick und nickte, stumm, aber nachdrücklich. Später ging er hinaus und blieb eine Weile weg.
»Sei ehrlich: Hättest du das gedacht?« fragte ich schließlich, mich aufraffend. Uli schüttelte den Kopf. Sie verstand genau, was ich meinte.
Geborgenheit, Freundlichkeit, einen guten Verdienst, gleichmäßig liebevolle Behandlung – dies alles konnte man von einem Mann wie Jochen erwarten. Solch ein Haus aber ...
»Na bitte, und wer hat immer geunkt!« konnte ich mir doch nicht verkneifen zu sagen. Uli hätte jetzt leicht mit »Mal abwarten« oder »Noch nicht verheiratet« oder ähnlichem Alte-Tanten-Quatsch kommen können, sie tat es jedoch nicht. Sie streckte die Beine der trocknen Feuerluft entgegen, lehnte den Kopf zurück und breitete die Arme aus.
»Nie wieder werde ich unken! Nie wieder werde ich – hach! Du mußt ein Glückskind sein, ein Götterliebling, Lex, wahrhaftig. Bist du an einem Sonntag geboren, oder besinnst du dich nicht mehr?«
»Doch. Mutter hatte einen dritten Sohn erwartet und verlor eine hohe Wette, weil ich nur ein Mädchen war. Der Sohn sollte Alexander heißen und erst vierzehn Tage später auf der Bildfläche erscheinen. Bis dahin wollte sie noch die ganze Wohnung durchputzen, Vaters Doktorarbeit abtippen, zwei Mäntel für meine schon vorhandenen Brüder nähen und den Ertrag des Obstgartens einkochen. Sie hatte dies alles für besagte vierzehn Tage geplant und aufgespart, ›um ausgelastet zu sein‹. Ich spielte ihr aber den Possen, zu zeitig zu kommen und die erste, gottlob in ihrer Art einzig bleibende Tochter zu sein, häßlich wie die Nacht. Ich hatte schwarze Locken am Hinterkopf und vorn eine Glatze – Mutter erzählt das noch heute – und brüllte vierundzwanzig Stunden. Als die Hebamme am nächsten Morgen wiederkam, sagte sie: ›Sie schreit ja schon wieder.‹ – ›Noch‹, seufzte Mutti. Sie hat bis heute über mich geseufzt. Und sehr oft zu Recht.«
»Jetzt wird sie aufhören«, sagte Uli apodiktisch.
»Sie wird nie aufhören. Nie.« Plötzlich wußte ich, daß die Sorgen von Mutti um ihre einzige Tochter noch nie so berechtigt gewesen waren wie gerade jetzt. So bedrohlich ernst. Ich wollte es nicht wissen ...
›Wenn ich schon im Begriff bin, etwas Vernünftiges zu tun‹, rebellierte ich. ›Nein, nun ist es entschieden. Seid stille alle miteinander!‹
Es hatte ja niemand etwas gesagt. Aber ich hatte es sehr deutlich gehört.
Jochen kam wieder herein, setzte sich ans Feuer, rieb sich die Hände. Uli gab ihm einen Whisky herüber. Er sah nachdenklich die klare Flüssigkeit an, ehe er das Glas an den Mund hob.
»Auf das Haus. Auf unser Haus«, sagte er dann leise und trank es aus. Später erzählte er, daß er hinüber in die Telefonzelle gegangen sei und den Kauf des Hauses perfekt gemacht habe. Zugesagt, endgültig.
»Schön, Alexandra?«
»Traumhaft schön, Jochen.«
Plötzlich war etwas Neues da. Etwas Ungeahntes, Überraschendes, etwas, das eine bisher vorhandene Lücke füllte. Was aber? Ich wußte es nicht, vermochte nicht, es zu benennen, fühlte es nur, das aber sehr stark. Dankbarkeit – nicht für das Haus, für etwas viel Kostbareres –, Rührung, Hochachtung, Zuneigung – dies alles war dabei, aber nicht nur dies. Liebe? Ich wagte nicht, dieses Wort zu benützen. Ich sah Jochen an, voll dieses neuen Gefühls – tief angerührt, ja, aufgerührt, und etwas beschämt: Ich bin es nicht wert ...
»Ja, Jochen, traumhaft schön«, sagte ich nochmal, und dabei wurden meine Augen naß. Das war ein Ja, ich merkte es, indem ich es aussprach. Das Ja. Und mir war gar nicht mehr zweifelnd zumute, sondern so, wie man sich in einem warmen Bad ausstreckt: glücklich, gelöst. Ich hatte so etwas noch nie erlebt.
›Die beiden müßten jetzt allein sein‹, fühlte Uli sehr genau und grübelte, welchen Grund, sofort wegzumüssen, sie sich in Windeseile aus den Fingern saugen könnte. Aber ihre Phantasie ließ sie im Stich, es saß sich allzu köstlich hier.
›Wie gut, daß Uli da ist‹, dachte ich, ›auf diese Weise halte ich wenigstens den Mund. Wenn ich das sagte, was ich eben feststellte – nein, das bring’ ich nicht fertig. Jochen – wer hätte das gedacht.‹
»Bedauerlich, daß man nicht mehr das alte Germanentum des Brautraubes pflegt‹, dachte Dr. Joachim Schneider, ›sondern die Zeit des Aufgebotes abwarten muß.‹ Dieser verwegen revolutionäre Gedanke war zweifellos der absonderlichste in diesem Haus, das noch keiner bewohnt hatte. Und daß er ausgerechnet diesem Mann kam, zeigt, wie sehr der Mensch von seiner Umwelt geprägt wird.
Das dicke Ende kam nach. Als wir heimkamen, lag ein Zettel da, ich solle Mutti anrufen. Mir schwante nichts Gutes. Solche Zettel sind meist Anzeichen von »catastrophe, catastrophe!«, wie unser französischer Austauschstudent zu sagen pflegte, sooft Mutti angebraust kam: »Du mußt aber sofort ...«
Ich tat also sofort. Jochen war weggefahren. Er hatte Uli und mich treu nach Hause gebracht und sich dann wohlerzogen verabschiedet. Zu zeitig, wie man sah. Ein anderer – einer von unsern Jungen etwa, die in unserm Alter und oft in ähnlichen Schwierigkeiten sind wie wir – wäre noch mit raufgekommen.
Nun sah es bei uns, zugegeben, nicht übertrieben ordentlich aus, man erinnere sich an den Spiegel. Insofern war es ja gut, daß er nicht hereinsah. Es ist gewiß unklug, künftige Ehemänner unnötig zu schocken. Aber er hätte den Zettel miterlebt und das anschließende Gespräch.
Mutti war sehr froh, daß ich anrief.
»Ronald hat sich das Schlüsselbein gebrochen, du mußt dich mal um ihn kümmern«, sagte sie, »ich kann nicht weg, wirklich nicht. Vater muß nach der letzten Attacke gehütet werden wie ein kleines Kind, ich kann ihn nicht eine Stunde allein lassen. Aber du hast ja den Wagen und bist nicht weit von Lauterbach.«
»Ich hab’ den Wagen nicht mehr, Mutti ...«, ›und ich bin mit Jochen Schneider verlobt und ziehe in ein wunderbares Haus ...‹ Komisch, es kam nicht über meine Lippen. Aber Lauterbach, Lauterbach!
»Verkauft? Wie dumm. Könntest du nicht trotzdem ...« Mutti ist es gewöhnt, daß ihre Kinder, Söhne wie Tochter, ihre fahrbaren Untersätze wechseln, einen Wagen verkaufen, weil er zu durstig geworden ist und Öl säuft, um einen unglaublich sparsamen dafür zu nehmen, der in vier Wochen eine viel schlimmere Macke aufweist. Ich hatte meinen letzten überraschend gut verkauft an jemanden, der damit nach Finnland fahren wollte. Sollte sich nun auf dieser Reise herausstellen, daß Getriebe und Lenkung nicht mehr das waren, was man bei einem fabrikneuen erwartet, so waren beide, Mann und Auto, auf jeden Fall weit fort von mir. Mein Wagen bestand also zur Zeit aus ein paar Zahlen auf meinem Girokonto.
»Doch, wenn du meinst, mach’ ich es schon möglich«, sagte ich, ohne zu Ende gedacht zu haben, »natürlich fahre ich rauf und kümmere mich um Ronald. Sorg dich nicht, Mutti. Schlüsselbein, wer hat das noch nicht gebrochen! Jeder Reiter mehrere Male!«
»Schon, aber vielleicht ist auch eine Gehirnerschütterung dabei. Er muß liegen«, sagte Mutti. »Sei streng mit ihm – und daß er mir keinen Alkohol erwischt! Das vor allem! Mach ihm die Hölle heiß. Fein, daß du fährst. Ich bin sehr beruhigt.«
Aufgelegt. Ich legte auch auf. Uli hatte, wie es bei uns beiden üblich ist, mitgehört, nachdem ich ihr einen Wink gegeben hatte. Wir sahen einander an.
»Du fährst?«
»Ich fahre.«
»Und Jochen?«
»Jochen kann doch nichts dagegen haben, wenn ich mich um meinen Bruder kümmere.« Ich hatte Uli genau verstanden.
»Eben! Außerdem –«
»Was ist außerdem?«
»Außerdem brauchst du ihm ja nicht sofort in die Ohren zu trompeten, daß du nach Lauterbach fährst. Wollte er morgen kommen?«
»Übermorgen.«
»Also hast du morgen frei.«
»Was heißt hier ›frei‹«, ärgerte ich mich. »Ich werde doch tun dürfen, was ich für richtig halte, zum Donnerwetter.«
»Glaubst du? Du liegst in Rosenketten, vergiß das nicht. Jochen ist kein Mann, mit dem man willkürlich umspringen kann.«
»Wer springt denn um? Ist das umgesprungen, wenn man sich um seine Familie kümmert?«
»Lex«, sagte Uli, »wärst du auch bereit, sofort zu Ronald zu fahren, wenn er nicht in Lauterbach wäre?«
»Ich würde ...«, sagte ich hitzig. Dann stockte ich. Und dann lief ich dreimal im Zimmer auf und ab. Schließlich blieb ich vor Uli stehen.
»Uli«, sagte ich, und es klang bemerkenswert kleinlaut, ich merkte es selbst, »du bist doch verheiratet. Oder – jedenfalls – sag, darf man dann wirklich nicht mehr, was man will? Muß man bei allem fragen? Wie ein kleines Kind? Und riskieren, sich etwas verbieten zu lassen? Ist das heute noch so? Bleiben wir Frauen wirklich abhängig von der Güte und Laune des Herrn der Schöpfung, von nun an bis in Ewigkeit?«
»Willst du eine richtige Antwort haben oder ›Nur so‹?« fragte Uli.
»Eine richtige.«
»Also: Wenn man den andern liebt, dann will man gar nichts anderes als er, verstehst du. Da will man nur, daß er zufrieden ist mit einem, daß man ihm gefällt, daß man ihn jeden neuen Tag davon überzeugt: Du bist mit mir nicht angeschmiert. Mit meinen dürren Worten formuliert, entschuldige. So aber empfinde ich es.«
»Hm.« Ich stand und überlegte. »Und du meinst, Jochen gefällt es nicht, wenn ich jetzt nach Lauterbach fahre? Wenn ich ihn frage, verbietet er es mir?«
»Verbieten wird es Jochen vielleicht nicht. Aber – lassen wir es auf sich beruhen, Lex, was er tun würde. Stell dich dumm. Frag nicht. Vielleicht erfährt er es gar nicht. Mundhalten können gehört auch zum Verheiratetsein. Ich leih mir morgen Ceskas Wagen und fahr’ dich rauf.«
»Schön«, sagte ich nach kurzem Nachdenken. Ich sagte es entschlossen, und so war es beschlossen.
Aber eines merkte ich schon: So einfach ist sie nicht, die Sache, die man Liebe nennt.