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»Wieder mal ein köstlicher Mief«, sagte Tim und zog die Nase kraus, die noch immer, wie bei einem Kind, stupsig bergauf zeigte. Überhaupt besaß er noch ein ziemliches Kindergesicht, was zu seiner Länge von über einsneunzig ulkig und ein bißchen rührend wirkte. Alle weiblichen Personen, mit denen er zusammenkam, fanden das und fühlten sofort mütterliche Beschützerinstinkte in sich aufbranden. Tim zog dann die Nase noch krauser. Er stieß das Fenster auf.

»Laß bloß zu!« schrie der Lokomotivführer aus dem oberen Etagenbett gegenüber. »Bei dieser Temperatur!«

»Riechst du es denn nicht?« fragte Tim.

»Es ist schon mancher erfroren, aber noch nie einer erstunken«, grollte der andere. Gleich darauf blies er wieder Erbsen durch die halbgeschlossenen Lippen, eine Art des Schnarchens, die Tim am Schlafen hinderte. Auch heute war er davon aufgewacht. Und würde nicht wieder einschlafen können.

Na schön. Kam man wenigstens mal zum Nachdenken. Tim blieb am Fenster stehen und zog nicht nur die Nase, sondern auch die Stirn kraus. Er grübelte. Er dachte nach, so tief, wie man es bei ihm nicht gewöhnt war. Er war es selbst an sich nicht gewöhnt.

Tim war als Jüngster einer ziemlich langen Geschwisterreiher – man konnte auch sagen: einer unziemlich langen – geliebt und verwöhnt worden, von zärtlichen Schwestern betreut und verhätschelt, und es hatte ihm zum allgemeinen Erstaunen nicht geschadet. Er war nicht weich und weinerlich, begehrlich und selbstsüchtig geworden, wie Übelwollende prophezeiten, sondern ein langbeiniger, zwar schulterschmaler, aber kräftiger und zäher, großer, genügend harter Junge – noch nicht Mann, das wäre übertrieben! –, der etwas tat, wenn es nötig war, und nie etwas darüber, der sich lieben ließ und nie etwas versprach, das er hätte halten müssen. Der – und das durchaus nicht nebenbei, sondern sehr im Vordergrund – ausgezeichnet ritt. Das hatte auch der Landesverband eingesehen und ihn hierher aufs Gestüt geschickt, um diesen Kursus mitzumachen, auf Verbandskosten mit Taschengeld. Tim hatte gern ja gesagt.

Es galt, die Prüfung für den Hilfsreitlehrer, den sogenannten Reitwart, zu bestehen. Tim hatte mit sieben Jahren zu reiten angefangen und nie damit aufgehört. Man konnte das neben der Schule, die er häufig schwänzte, und neben dem Studium, man konnte es an Feiertagen, in den Ferien und im Semester. Wenn tags keine Zeit blieb, ritt man am Abend in der Halle. Ja, es war vorgekommen, daß Tim zu einem Examen später kam, vorschriftsmäßig entschuldigt natürlich, und daß er die Hochzeit einer seiner vielen Schwestern nur zum Teil mitfeiern konnte, weil er auf einem Turnier gebraucht wurde. Die standesamtliche Trauung dieser Schwester übrigens, die auch den Pferden verschworen war, wurde ebenfalls verschoben, ›weil wir noch schnell eine Stunde reiten wollen, es ist so schöner Schnee!‹ Der Standesbeamte lächelte und traute eine Stunde später.

Tim hatte goldene, silberne und andersfarbige Schleifen erritten, die eben diese Schwestern mit zärtlich-stolzen Händen über seinem Bett, in Hufeisenform angeordnet, aufgehängt hatten (›unsere Familie ist sehr für Kitsch‹.)

Jetzt also dachte er nach. Sie hatten einen Philologen im Kurs, der ihn an jemanden erinnerte. ›Der Schriftgelehrte‹ wurde er genannt, und sein Reiten war nicht umwerfend, um so besser sein Wissen in Theorie. Das gehörte zum Hilfsreitlehrer natürlich auch. Aber es war trotzdem besser, »gut auf de Gaul nazuhocke«, als alles zu wissen. Dieser Mann erinnerte Tim an jemanden, nur kam er nicht drauf, an wen.

Im Kurs wurden alle mit dem Vornamen angeredet, auch vom Lehrer, und untereinander duzte man sich. Das war von jeher so. Deshalb wußte Tim den Nachnamen des Kollegen nicht. Es war also schwierig, die Ähnlichkeit zu identifizieren. Vielleicht aber war es nur eine zufällige.

Wenn er schon nicht schlief, konnte er auch hinübergehen. Immer war im Stall zu tun, auch vor der offiziellen Zeit. Tim kannte es nicht anders, als daß erst die Pferde kamen und dann man selbst. Er fuhr in die vom Waschen gebleichten Jeans und stülpte den Bauernkittel über. In langen, ein wenig o-beinigen Schritten – er hatte keine O-Beine, es sah nur bei einer gewissen Gangart so aus einen Fuß vor den anderen setzend, schnürend, sagt der Waidmann, ging er über den Hof.

Es war noch nicht hell, sicher würde es heute einen Herbstmorgen geben, der zu dieser Landschaft paßte: hart und herb und frisch, so, wie die Alb meist ist. Vielleicht würde nachmittags ausgeritten. Dann gab es nicht so viel Theorie, gottlob. Vorgestern hatte einer den Sattel geräumt und deshalb »einen ausgeben« müssen, das zog eine ziemliche Sauferei nach sich. Am nächsten Tag in der Theorie fielen einem dann die Augen zu. Tim hatte den Kopf gesenkt und sanft vor sich hingedöst, als man auf das Treiben zu sprechen kam.

»Treiben kann er am besten«, sagte der Schriftgelehrte gehässig und deutete auf den friedlich duselnden Tim, und der Lehrer trat vor dessen Pult und sah ihm ins Gesicht: »Die treibenden Hilfen, hab’ ich gesagt.«

Tim war sich heute noch nicht klar darüber, ob der Gestrenge gemerkt hatte, wie es um ihn stand. Vielleicht doch nicht, sonst hätte es einen tollen Krach gegeben. Auf Verbandskosten herkommen und dann im Unterricht schlafen ...

Dabei konnte er auswendig, was da erzählt wurde. Auch die Kommandos. Es war immer ein Vergnügen, wenn der Lehrer die Kommandos durcheinanderbrachte. Das konnte auch dem Sattelfestesten passieren. Tim, der sehr oft bei Dressuren die Kommandos hatte geben müssen, wußte das aus eigener Erfahrung. Ritt man dann richtig oder hielt man sich hauteng an die versehendich falsch gegebenen Kommandos? Diese Frage würde wohl ewig ungelöst bleiben, ähnlich der, wer eher da war, die Henne oder das Ei.

Er war in den Hengststall getreten, spähte umher, ob jemand da sei – leer, zum Glück – und schlüpfte in die Boxe von Jungherr, Abkomme jenes unvergessenen Trakehners, den er noch persönlich gekannt und sehr geliebt hatte, geliebt und bewundert; jenes Pferdes, das den Ritt Ostpreußen–Schleswig-Holstein dreimal hintereinander gemacht hatte. Im Sommer vierundvierzig hin nach Schleswig, wieder zurück, und im Januar fünfundvierzig, jenem unseligen, mörderischen Januar, noch einmal die ganze Strecke an der Spitze der Herde. Achtzig Prozent der Stuten verfohlten unterwegs. Tim konnte, hier allein in der Boxe von Jungherr, immer wieder Tränen vergießen um jenes gemordete Material. O Julmond, aber du hieltest durch! Und du kamst später hier auf das Gestüt und vererbtest, und Kinder und Enkel von dir gehen über die weiten Weiden der Alb.

Jungherr kam sofort zu ihm, als er durch die Schiebetür schlüpfte, und stieß ihn mit der Nase an. Dann wieherte er ein bißchen, hell und auffordernd, und machte eine kleine Levade. Jungherr war ein Neckbold, so zielte er, meist mit Erfolg, gern auf die Füße der jungen Leute, die ihn vorführten, mit seinen eigenen Füßen. Die hatten immerhin die Größe mittlerer Kompott-Teller und waren natürlich beschlagen.

»Ach, du Grobian«, murmelte Tim und lehnte sich mit der Brust gegen den Hengst, um dessen Gewicht von seinem Fuß wegzudrücken. »Natürlich ist das Absicht. Gehste!«

Sie durften nicht in die Boxen. Tim jedoch hielt sich nicht an das Verbot. Er ließ sich nie erwischen, aber er war schon bei jedem Hengst gewesen. Irgend etwas zog ihn hin. Er mußte die Tiere hautnah spüren.

Einer, ausgerechnet der Haflinger, der hier ein bißchen der Außenseiter war und nicht ganz ernst genommen wurde, hatte ihn einmal böse angegangen. Gewöhnlich stand Adler angebunden im Stand, jetzt aber lief er frei in der Boxe. Tim kam zu ihm hinein, wie er zu Golddollar oder Jungherr gegangen war, und da ging Adler auf ihn los, mit geweiteten Nüstern und weißen Augen. Tim sprang rückwärts und feuerte Adler die Bürste auf die Nase – mit mir nicht! Gottlob hatte er gerade etwas in der Hand gehabt. Trotzdem konnte er es nicht lassen, die Hengste zu besuchen.

Nachdem Jungherr fast die Hälfte der Möhrenstückchen bekommen hatte, die Tim wie immer für seinen Besuch eingesteckt hatte, ging er rückwärts aus der Boxe und zu Herzog hinein. Herzog war neu, Tim hatte ihn noch nie geritten. Langsam trat er an ihn heran.

»Ja, wo ist er denn, der Schöne? Komm, komm, mal sehen, was Jungherr übrig gelassen hat –«, schmeichelnd kam er näher. »Herzog, ja, ist ja gut, so ein schöner Herzog –«, was man so sagt. Und plötzlich fiel ihm ein, während er immer wieder ›Herzog‹ murmelte, an wen der Schriftgelehrte ihn erinnerte. Natürlich, das war es! Dasselbe fein angelegte Gesicht mit den Grübchen in den an sich ein wenig rundlichen Wangen – zu rundlich jedenfalls für einen Mann –, dasselbe runde Kinn. Barockengel hatte er sie damals genannt, ob ausgesprochen oder nur in Gedanken, das wußte er nicht mehr. Barockengel, nicht Putte. Barockengel, rundlich und fein.

»He, Tim, bist du da? Wir suchen dich!«

Die aufgeregte Stimme eines der Pferdepfleger. Tim war lautlos und sekundenschnell durch den Spalt der Tür geglitten und stand harmlos in der Stallgasse. Er konnte enorm flink sein, so schläfrig er sich oft stellte. Der Rufende hatte nicht gemerkt, woher er kam.

»Obe, in Sankt Leonhard, verschtescht! Die Fohle – sie sin ausgebroche –«

Sie rannten nebeneinander durch den schummerigen Hof. Da und dort regte es sich, zwei oder drei Mann schlossen sich ihnen an. Von irgendwoher stieß der Reitlehrer zu ihnen, er wirkte beinah gespenstisch in seiner klapperdürren Länge. Jetzt waren seine Kommandos kurz und prägnant.

»Die Schulpferde, jeder seins! Zum hinteren Ausgang! Wir reiten sofort los!«

Hei, das war eine Lust zu satteln, ohne vorher Striche zu putzen! Tim war zuerst fertig, gelernt ist gelernt. Wie oft hatten sie daheim um die Wette gesattelt! Er sprang seitlich auf Julfreund, ohne die Bügel zu benutzen, gurtete von oben her nach. Schadenfroh grinsend sah er, daß der Schriftgelehrte noch einmal hinunter mußte.

»Hoho, langsam, langsam!« hörte er ihn keuchen. »Wirst du wohl stehen, du Kröte? Himmel, Kruzitürken und Ariadnefaden –« seine Flüche verklangen hinter Tim, der dem Reitlehrer folgte. Oben an den Baracken bekam Julfreund einen Rappel und fing an zu steigen, Tim trieb und bekam ihn wieder auf die vier Füße. Jetzt aber war der Anschluß an die andern verpaßt ...

»Hier lang! Hier ist’s weicher und auch nicht weiter –«

Einer der Einheimischen, wunderbar! Tim trieb Julfreund hinterher, gleich darauf tauchten rechts und links neben ihm zwei Reiter auf. Der eine war der Lokführer mit den traurigen Bernhardineraugen, der sächselte, das andere ein Mädchen. Sie hatten drei Mädchen im Kurs, die eine wurde Oma gerufen, weil sie ihr Haar in einem Knoten trug, bereits seit ein paar Jahren Volksschullehrerin war und demnach nicht mehr in allererster Knospe stand. Die war es nicht. Die beiden anderen konnte man in dem diffusen Licht verwechseln, sie trugen beide kurzes Fransenhaar und waren etwa gleich groß – gleich klein, besser gesagt. Tim schielte nach links, aha, es war Angeli! Er sah ihre lachenden Augen unter der in der Eile schief aufgesetzten Kappe. Angeli hatte ein kindliches Pfannkuchengesicht, das sich aber erstaunlich gut fotografierte. Jetzt wirkte sie wie höchstens zwölf, wie sie da auf ihrem Ortler hing, aber sie ritt Gelände wie der Teufel, Tim hatte sich schon manchmal darüber gewundert. Angeli gab überhaupt nicht an. Durch einen andern Kursteilnehmer hatte er zufällig erfahren, daß sie schon als Kind in England Jagden hinter dem lebenden Hirsch geritten hatte.

Jetzt sah er wieder sehr deutlich, daß sie nicht nur in der Dressur und im Hallenspringen sattelfest war. Während sie galoppierte, grub sie mit der einen Hand in der hinteren Gesäßtasche.

»Was suchst du denn?« fragte er halblaut und amüsiert und drängte Julfreund an ihren Ortler.

»Ich weiß nicht, ich hab’ doch gestern ...« Ortler übersprang einen Graben, er schnaubte zufrieden, nachdem er aufgesetzt hatte. Angeli verrenkte sich noch mehr. »Einen Kaugummi. Ich brauch’ früh –«

Tim lachte. Angeli schien gefunden zu haben, was sie suchte, stopfte etwas in den Mund und nahm die Zügel wieder in beide Hände.

›Mit einer Hand reiten konnte nur der alte Fritz‹, pflegte der Reitlehrer zu sagen, wenn er sich ärgerte, daß jemand freihändig ritt. Tim grinste vor sich hin, während er Julfreund Seite an Seite mit Ortler galoppieren ließ. Sie hielten ein wenig Abstand hinter dem Stalljungen, der den Weg zeigte, um nicht dauernd Brocken und Spritzer ins Gesicht zu bekommen. Die Augen gewöhnten sich, außerdem wurde es heller. Man sah jetzt schon etwas weiter.

»Dort ist er, siehst du?« fragte Tim und deutete voran. Der Reitlehrer hielt, wie sie sahen, aufgerichtet im Sattel, eine Taschenlampe angeknipst in der senkrecht hochgestreckten Hand.

»Liiinks – ein Leuchtturm überm Wendekreis«, sang Tim in rollendem Baß, und Angeli fiel ein: »Der bestrahlt die Szeneriiiii –«, um dann in prustendes Lachen auszubrechen. Von jetzt an hieß der Reitlehrer nur noch ›der Leuchtturm‹ das war ihnen beiden hellsichtig klar.

»Tim, Angeli, Alfred – links einen Bogen schlagen! Ich glaube, dort sind sie!« hörte sie des Leuchtturms Stimme.

»Fritz, du reitest mit mir nach rechts!«

»Und wohin sollen wir treiben?« rief Tim fragend. »Weiter vorwärts? Oder ...«

Der Leuchtturm überlegte. »Wenn man wüßte, wo sie zuletzt gestanden haben ... Auf alle Fälle auf die Halle zu!«

»Und wo ist die Halle?«

»Ostwärts! Dort hinaus!« Man sah am Himmel einen blassen Streifen. Der Leuchtturm wies die Richtung.

»Also nicht im Bogen herum, sondern einfach vorwärts?« vergewisserte sich Tim noch.

»Natürlich. Dumme Frage. Wer hat denn was von Bogen gesagt.«

»Nicht wahr? Was geht mich mein saudummes Geschwätz von vorhin an«, brummte Tim und schlug Julfreund die Hacken in die Weichen, »vorwärts, vielleicht sind sie es gar nicht!«

Er hatte das so hingesagt. Gleich darauf hörte er einen unterdrückt seligen Quietscher von Angeli. Wahrhaftig! Was sie, noch im Halbdämmern, für eine Fohlenherde gehalten hatten, besser: was der Leuchtturm als solche ansprach, erwies sich als Kuhherde. Die Milchspender, um diese Jahreszeit noch Tag und Nacht draußen, nahmen sehr übel, für junge, ihrer Meinung nach pflichtlose Rösser gehalten zu werden, und spielten Prärie. Mit hochgestellten Schwänzen begannen sie zu rasen. Angeli schrie vor Lachen, während sie hinterhergaloppierte, einfach angesaugt von der Bewegung. Tim natürlich mit. Er hörte genau, wie der Leuchtturm verzweifelt: »Halt! Stopp!« brüllte, aber er dachte ränkevollerweise: ›Brüll du nur! Ich kann mich wundervoll harmlos stellen. Befehl ist Befehl!‹ Erst nach ein paar Kilometern parierte er durch.

»Jetzt müssen wir zurück, Angeli, der Leuchtturm hat bestimmt eine Sauwut auf uns«, sagte er und wischte sich über das Gesicht.

Angeli ließ den Ortler eine Volte gehen und klopfte ihm beruhigend den Hals. »Aber schön war’s doch«, sagte sie atemlos und lachte noch immer, »schon in meiner Jugend – ach, wie lange her! – hab’ ich mir gewünscht, ein Cowboy zu sein.«

»Daß du dich daran noch erinnerst! Du hast ein tolles Gedächtnis, Hut ab vor dir«, bewunderte Tim. »Also wohl oder übel zurück. Na, der wird angeben.«

Sie ließen die Pferde am langen Zügel gehen. Die dampften, es war kalt, jetzt erst merkte man es. Tim hauchte sich in die Hände.

»Da haste meine – ich frier nicht« – Angeli warf ihm ein ineinandergestecktes Handschuhpaar zu. Tim fing es auf. Es tat wohl, die klammen Finger darin auszustrecken.

Angeli war von einer angenehm unmütterlichen, vernünftigen Kameradschaft, ›beinah wie ein Junge‹, dachte Tim; sie erinnerte ihn an seine jüngste Schwester. Mit der hatte er sich oft geprügelt – um ein Pferd, um ein Hindernis, um ein Nichts. Die war nun schon zwei Jahre verheiratet, ›in die Zucht gegangen‹, wie man unter Reitern sagt, und erwartete den zweiten Olympia-Anwärter von übermorgen. Der erste war glücklicherweise ein Sohn geworden und nach ihm, Tim, benannt. Er hatte ihn nach der Taufe aus der Kirche tragen müssen, angefaßt wie einen Sattel, demonstrierten die Geschwister hinterher, und die Straßenpassanten sahen ihn scheel von der Seite an: ›So ein junger Vater, na, die Jugend von heute kann es doch nicht abwarten!‹

»Gleich fliegt er in den Graben!« hatte Tim geknirscht, und die holdselige junge Mutter konnte gerade noch hindernd dazwischenspringen. Tim schilderte das Angeli, während sie zurückritten, und die lachte.

»Seid ihr alle so roßnärrisch?« fragte sie.

»Dachtest du nicht?« fragte Tim. »Ein Wunder, daß wir nicht alle mit vier Beinen zur Welt kamen. Meine Schwester jedenfalls antwortete, als man sie fragte, ob sie sich nun eine Tochter wünschte, mit: ›Wenn’s nur gesund ist und vier Beine hat.‹ So ist nun mal meine liebe Familie. Und ihr?«

»Bei uns reitet nur Mutter. Vater und mein kleiner Bruder haben es mit Autos.«

»Na, da kennst du ja den Schmerz. Unsere Mutter ist mal mit mir im selben Turnier gestartet. A-Springen, also keine große Sache. Trotzdem. Ich war damals zwölf und sie also noch nicht – na, halt so alt wie jetzt. Sehr angenehm ist so was ja nicht. Und prompt brach sie sich auch acht Tage vorher das Bein. Ich atmete auf. Aber was macht sie? Sie läßt sich – unser Arzt reitet auch – das Bein krumm gipsen. Jedenfalls den Fuß. Damit sie reiten konnte. Probiert hat sie es natürlich zu zeitig, ehe der Gips fest war: Bruch, kaputt. Ich atmete auf –«

»Und?«

»Und sie ließ es nochmal gipsen und nagelte sich rechts und links Holz dagegen. Das heißt, ich mußte es machen. Ich hab’ es auch getan, sonst hätte sie vermutlich eine Annonce in die Zeitung gesetzt: Leicht lädierte Reiterin sucht Nagler, der ihr das Bein verschalt. Oder so ähnlich. Und dann ist sie geritten.«

»Und hat ...?«

»Nicht den ersten gemacht, nein. Aber den dritten. Sie war sehr stolz. Ich hab’ es ihr gegönnt.«

»Dazu wäre meine Altvordere auch fähig. Aber du, solche Mütter sind gar nicht die schlimmsten«, sagte Angeli, und es klang, als habe sie soeben die Formel für den Stein der Weisen entdeckt. Selbst erstaunt, aber überzeugt, fuhr sie fort: »Weißt du, bis jetzt dachte ich immer, man sei geschlagen mit so einer Alten. Aber wenn du dir’s überlegst: Mütter, die auf Kaffeeklätschen sitzen und dicker und dicker werden – auch innerlich verfetten, verstehst du –, die sind vielleicht viel schlimmer.«

»Die gibt’s doch gar nicht mehr«, sagte Tim, »alle hungern sie und saufen Karottensaft.«

»Hast du ’ne Ahnung! – Sieh mal, dort drüben – du, ich glaub’, diesmal sind das keine Rinder! Wollen wir?«

Sie galoppierten an. Es waren wirklich keine Kühe. Der Leuchtturm samt Lokführer waren schon am Ball. Letzterer machte wilde Zeichen, daß Tim und Angeli auf der anderen Seite bleiben sollten. Diese Zeichen waren zu wild, die Einjährigen hatte ja auch Augen. Zwei von ihnen, die sowieso vorn und anscheinend am aufgeregtesten waren, warfen die Köpfe und gingen ohne Übergang in Renngalopp über. Tempo steckt an. Im Nu war die ganze Herde ein flaches, sausendes, schweifefliegendes Feld – hoho, ein Wunschtraum für zwei berittene Nichtsnutze wie Tim und Angeli. Tim sah den Schriftgelehrten, der zu seiner Überraschung auch dabei war – er mußte den Leuchtturm und seine Begleiter eingeholt haben, während er und Angeli die Kuhherde jagten –, einen bildschönen Salto nach rückwärts schlagen: er war auf ein so plötzliches Anspringen seines Pferdes nicht gefaßt gewesen. Auch der Leuchtturm sah es und fluchte berserkerhaft, aber das half dem Philologen nicht wieder aufs Roß. Das ging hinter den Fohlen her, seine Bügel wehten, der Zügel hing ungleichmäßig lang durch, ein ekelhafter Anblick für jeden Reiter. Jetzt trat der eine Vorderhuf hinein – gottlob, das Leder zerfetzte, nun konnte dem Pferd nicht mehr viel passieren.

Der Leuchtturm und der Lokführer ritten rechts der Herde, Angeli und Tim links. Sie versuchten, die Flüchtenden langsam, aber stetig in die Richtung zu schieben, die der Leuchtturm angegeben hatte.

Es war hell geworden. Die Sonne, herbstlich blaß, schien den Reitern und Pferden genau waagerecht in die Augen. Tim und Angeli zogen die Kappen tiefer. Sie verständigten sich mit halblauten Rufen. Von drüben, vom Reitlehrer her, konnte man nichts hören, dazwischen war das Trommeln der Hufe. »Bis übermorgen so weiter!« juchzte Angeli einmal, und Tim fand, daß er soeben dasselbe gedacht hatte. Jetzt näherten sie sich Gebäuden, die einsam lagen. Tim versuchte, gegen die Sonne zu erkennen, wo das Tor war – die ganze ungezogene Jugend mußte ja durch irgendeine Öffnung in die freie Wildbahn gelangt sein.

Dort! Eine Koppel mit heruntergeworfenen Schiebebäumen am Tor! Dorthin mußte die Bande; sie schien es selbst zu wissen. Der erste, ein lohfarbener Junghengst, galoppierte darauf zu, Tim schob die Mütze aus der Stirn und wollte soeben durchparieren. Da fiel dem jungen Vierbeiner vor der Koppel offenbar ein, daß es noch Zeit habe mit der Heimkehr, er drehte halb ab, nach der andern Seite zu. Tim spähte gespannt, wie sich das Rennen entwickeln würde. Kam der Reitlehrer eher an, dann schnitt er dem Frechdachs den Weg ab, und der mußte nach links, die Herde mit ihm. Überspurtete er aber den Reiter ...

Er schaffte es. In fliegendem Galopp zog er zwei Meter vor seinem Verfolger diesem vor der Nase vorbei, die andern hinterher. Nun gab es kein Halten mehr.

»Wunderbar!« rief Tim halblaut und warf sich nach vorn. Angeli neben sich mehr ahnend als wahrnehmend, jagte er der Herde nach. Nun konnte das noch ein paar Stunden so weitergehen, ihm war es recht. Julfreund hatte eine ungemein kräftige Lunge.

Und es ging weiter. Einen unvergeßlichen Vormittag lang jagten sie, bald näher, bald weiter hinter der Herde über die Alb, so richtig was fürs Herz. Als die Jungherde endlich auf Nummer Sicher war, hatten Reiter und Pferde keinen trokkenen Faden mehr am Leibe, trotz der Herbstkühle, und Tim vertraute Angeli an, er habe sich das erstemal im Leben einen Wolf geritten.

»Bis auf den rohen Schinken durch«, versicherte er, und es klang außerordentlich befriedigt. »Künftige Reitlehrer müssen alles kennenlernen. Kannst ihn besichtigen.«

Angeli dankte.

An diesem Tag fiel der Unterricht aus. Das Putzen und Stallrichten natürlich nicht – gefüttert hatten die Daheimgebliebenen –, aber auf die Theorie mußte man verzichten. Der Leuchtturm hatte sich leise grollend zurückgezogen. Natürlich ahnte er, wie von Herzen junge Reiter solch eine Panne genießen, das wäre ein Grund zu lautem Groll gewesen. Aber drei seiner Schüler hatten sich doch wahrhaftig wacker gehalten und mitgeholfen, die Panne zu beseitigen. Der dritte ...

Der Schriftgelehrte! Richtig, um den mußte man sich ja auch noch kümmern! Der Reitlehrer machte aus der Ecke kehrt, wie es bei der Hufschlagfigur heißt, und begab sich, statt in sein Zimmer, zurück ins Leben. O diese Lehranwärter! Aber warte, wenn ihr erst soweit seid!

Die Sache, die man Liebe nennt

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