Читать книгу Guten Morgen, Petra - Lise Gast - Страница 4
ОглавлениеEs schneite, schneite. Es schneite, wie es seit Jahrzehnten nicht geschneit hatte, so jedenfalls behauptete Frieder. Aber er studierte Zeitungswissenschaften und wollte Journalist werden, und da gehört Übertreiben zum Handwerk. Petra sagte das, als sie, von ihm gezerrt und gezogen, vor die Tür trat. Immerhin – man maß sicher vierzig Zentimeter, die in den letzten Stunden dazu gekommen waren, und das war für die kleine Universitätsstadt, die doch nicht gerade exponiert lag, allerhand und bestimmt eine Seltenheit.
„Kein Auto kommt mehr durch!“ juchzte Frieder, der sich nichts so heiß wünschte wie ein Auto und alle Autobesitzer mit scheelem Neidesblick betrachtete, „alle müssen laufen! Laufen ist so gesund! Hahaha!“
„Und du? Du lauf nur auch!“ sagte seine liebe „große“ Schwester und lachte ebenfalls schadenfroh. Frieder zeigte ihr einen Vogel.
„Ich? Ich bleibe daheim! Man kann daheim so gut büffeln ...“
Petra sah ihn an und seufzte. Büffeln – Frieder! Aber eines Tages würde vielleicht auch er es lernen. Jeder wurde wohl zu einer bestimmten Zeit vernünftig und sah ein, daß es ohne Arbeit nicht geht, einer früher, der andere später. Wenn sie dagegen an Pytt dachte, wie die arbeitete!
Pytt war von jeher fleißig und ehrgeizig gewesen. Petra sah auch dies ein wenig mit Sorge. Ach ja, sie war wahrhaftig schon ganz in die Rolle der Mutter gerutscht, sie, Petra, daß sie sich um alles und jedes Sorge machte, was die jüngeren Geschwister betraf! Daß sie zu viel oder zu wenig arbeiteten, aßen, lachten oder seufzten ...
Petra sprang mit einem plötzlichen Satz aus der Haustür, raffte Schnee zusammen und pfefferte ihn dem jüngeren Bruder ins Gesicht. Der, nicht faul, bückte sich auch, und im nächsten Augenblick war eine richtige Schneeballschlacht im Gange. Klatsch, patsch, ging es hin und her, keiner wußte, wieviel der andere abkriegte, bis sie schließlich aufatmend sich beide zugleich aufrichteten und auspusteten.
„Schluß jetzt, ich hab’ genug“, keuchte Petra und schüttelte Schnee aus dem Nacken, während sie tiefgebeugt dastand und mit den Händen die Haare ausstäubte, und Frieder grub Schnee aus den Ärmeln.
„Du bist ganz hübsch brutal mit Treffern!“ sagte er dabei, und Petra lachte.
„Danke, gleichfalls. Hast du heute abend was vor? Ich meine nur.“
„Weggehen hat wirklich keinen Zweck“, sagte Frieder, „ich müßte ja zu Fuß los. Also. Aber – du, da fällt mir ein, Marcell kommt heute abend. Er bringt Dias aus Griechenland mit.“
„Ach, neue? Wunderbar. Die würde ich auch gern sehen.“
„Kannst du doch, klar. Und alle, die noch hier sind. Hast du eine Ahnung, wer?“
„Ach, so ziemlich die ganze Belegschaft, nehme ich an. Wer treibt sich bei diesem Wetter außerhalb des Hauses herum, wenn er nicht muß. – Soll ich einen Punsch machen?“
„Punsch!“ Frieder zog ein Gesicht wie eine Katze, der man auf die Nase pustet. „Punsch ist was für kleine Kinder oder alte Tanten. Männer trinken Bier.“
„Bei der Kälte?“ Petra schüttelte sich. Sie hatte das nie verstehen können. Aber so waren junge Männer nun einmal. „Übrigens: geh nicht in dein Zimmer. Dort schläft Hartwig, seit heute früh. Er hat die Nacht durch gebüffelt und kam ganz taumelig an, da hab’ ich ihn dort abgestellt. Dein Zimmer ist ja am wenigsten lautempfindlich. Laß ihn bitte schlafen! Du kannst in der Küche essen. Pytt kommt später oder erst abends, da können wir zwei es uns dort gemütlich machen. Im Wohnzimmer sitzt nämlich Helmut Wörner und paukt, und du weißt ja, daß der laut lernt, sonst bekommt er nichts in den Kopf.“
„Danke.“ Frieder war noch immer damit beschäftigt, sich den Schnee abzuklopfen. „Also Hartwig liegt in meinem Bett. Hoffentlich träumt er was Schönes.“ Er trat in die Küche und schloß die Tür hinter sich. Es roch herrlich und kräftig nach Mittagessen, und Frieder betrachtete interessiert, was ihm seine Schwester soeben auf den Teller schöpfte. Ein ordentlicher Eintopf – nichts dagegen zu sagen.
„Und im Wohnzimmer memoriert Helmut. Darf ich wenigstens die Zeitung haben?“
„Beim Essen nicht. Politik verdirbt den Appetit“, sagte Petra und überhörte gutmütig seinen spitzen Ton. „Außerdem habe ich sie Wörner gegeben, er muß sie wenigstens überflogen haben. Beim Referendar wird viel Allgemeinwissen verlangt. Er macht sich Notizen.“
„Hm.“ Es schmeckte wunderbar, und ein gutes warmes Essen an einem kalten Tag macht nachgiebig. Frieder König, dem Gymnasialalter erst seit kurzem entwachsen, befand sich noch ein bißchen in dem Stadium, da man sich drei große Teller nahrhafter Suppe einverleiben kann und danach interessiert fragt, was es denn als Hauptgericht und Nachtisch gäbe. So verfolgte er das Thema „eigenes Zimmer“ und „Zeitung“ eigentlich mehr aus Lust an geschwisterlicher Plänkelei als im Ernst.
„Jaja. Sicher wird er über die Bundesliga ausgefragt, und wehe, wenn er da nicht Bescheid weiß. Ich kann die Sportnachrichten ja auch noch nächste Woche lesen.“
„Du bekommst deine Zeitung schon noch.“ Petra schob dem Bruder eine gehäufte Portion Hefeklöße zu.
„Da, nimm Vanillesoße drüber, dann sind sie nicht so heiß. Magst du doch lieber als Pflaumenmus? Abends ist er bestimmt mit der Zeitung fertig.“
„Du siehst mich in heller Vorfreude.“ Frieder blies über die Klöße hin und lächelte, und man wußte nicht: Fand er die Aussicht auf die Zeitung so erfreulich oder das Gebirge auf seinem Teller.
„Behält Hartwig sein Zimmer über das Sommersemester, oder habt ihr darüber noch nicht gesprochen?“
„Doch, natürlich bleibt er.“
„Und zahlt er auch in den Ferien?“
„Er zahlt, ganz bestimmt, er zahlt, sobald er kann“, sagte Petra und wirtschaftete am Herd, ohne sich umzudrehen. „Bisher hat er es immer gezahlt.“
„Fragt sich höchstens, wann“, murmelte Frieder kauend. Petra überhörte es oder tat so. Sie hatte in den letzten Jahren viel Ähnliches überhören müssen.
Natürlich hatte Frieder recht. Die wenigsten Studenten zahlen pünktlich, und die Mieteinnahmen waren eigentlich das, wovon man lebte. Die Eltern, vor mehr als fünf Jahren kurz hintereinander gestorben, hatten den Geschwistern nichts hinterlassen als dieses Haus am Rande der kleinen Universitätsstadt. Was lag näher, als die Zimmer an Studenten zu vermieten? ‚Buden‘ wurden gesucht und gut bezahlt – wenn sie bezahlt wurden. Petra, die derzeit älteste zu Hause, war, ohne es zu wollen oder zu merken, in die Rolle von Vater und Mutter hineingewachsen; sie sorgte für die Geschwister und die Studenten, rechnete ab oder stundete, je nachdem, und hatte bisher noch immer das Lebensschifflein der „Königskinder“ mit Erfolg gesteuert. Freilich, manchmal meuterten die Jüngeren, Frieder, der Student der Zeitungswissenschaft, und Pytt, die vorigen Herbst das Abitur gemacht hatte. Sie fanden, daß Petra viel zu weich und nachgiebig wäre, hätten es aber an ihrer Stelle auch nicht anders gemacht. Man fühlte mit den andern Studenten, erlebte ja die gleichen Nöte und Ängste und war stets knapp bei Kasse. „Nun brumm nicht, er hat es schwer genug, du weißt ja, wie krank er war“, sagte Petra und versuchte damit zu entschuldigen und zu erklären, warum sie wieder einmal schwach geworden war und ihren Untermietern mehr erlaubt hatte, als recht und billig schien. „Ich dachte, du kämst heute auch erst zu Mittag und müßtest wieder fort. Außerdem, stell dir bitte vor, du wohntest auf einer Bude und hättest nichts mehr zu heizen. Da wärst du bestimmt auch froh, wenn dich jemand ins warme Wohnzimmer nähme.“
„Natürlich.“ Hefeklöße wirken beruhigend, und Frieder futterte und sagte nichts mehr. Erst als er satt war, kam er auf das Thema zurück.
„Und du meinst wirklich, Hartwig zahlt alles nach, wenn er das Staatsexamen hat? Ich glaube kaum. Dann muß er erst mal für sich und seinen neuen Start sorgen. Das ist ja immer so. Und auf Freiersfüßen geht er auch, soviel ich beobachten konnte.“
„Ich weiß. Und ich weiß auch, daß jeder, der einen eigenen Hausstand gründen will, Geld braucht. Aber, lieber Himmel, er kann doch jetzt nicht auf Budensuche gehen, jetzt, wo sein Endspurt einsetzt! Nein, rauswerfen kann man ihn unmöglich. Außerdem ist noch gar nicht gesagt, daß er nicht zahlen wird.“
„Wer? Von wem sprecht ihr?“
Die Küchentür flog mit einem Krach auf, und Pytt stand im Raum. Kleiner als Petra, mit kurzem, dunklem Fransenhaar, die Backen knallrot von der Schneeluft. „Nun ratet mal, ob ich durch bin oder nicht!“
„Hast du heute – bei dem Schnee ...“
„Jawohl! Der Fahrlehrer bestand darauf. Die Prüfer wollten eigentlich nicht, sie sagten, es wäre ein geradezu abnormes Wetter. Aber Schimmelfennig schien sehr sicher zu sein, daß wir durchkommen würden, zwei Jungen und ich. Und wir mußten fahren. Wir wollten auch, jedenfalls ich. Anfahren am Berg ist ja meine Stärke, aber einparken, wenn einem der Wagen dauernd seitlich wegrutscht ...“ Pytt war zum Tisch getreten und demonstrierte voller Temperament mit dem Salzfaß, wie ihr Wagen gestanden und wie sie ihn vorschriftsmäßig aus der Parklücke herausgeholt habe.
„Und das Theoretische?“
„Hab’ ich schon vorgestern gemacht. Nur nichts davon verlauten lassen“, strahlte Pytt. „Womöglich geht es beim Praktischen schief, dachte ich, und da will ich mal lieber schön den Mund halten – –. Gibt’s eigentlich etwas zu essen für mich?“
„Natürlich, setz dich. Nein, sowas, die große Schwester zu überflügeln!“ Petra lachte und stellte Pytt den Teller hin. „Ich gratuliere, also ich finde das enorm.“
Pytt hatte ein sehr gutes Abitur gemacht. Sie gehörte zu der Sorte Menschen, die alles, was sie tun, mit Elan tun. Um so mehr hatte es die Geschwister gewundert, daß sie nicht sofort mit dem Studium anfing. Deutsch und Geschichte, davon hatte sie von jeher gesprochen. Aber nein, Pytt ging ihren eigenen Weg.
Zunächst suchte sie sich einen Job. Richtiger ausgedrückt: Sie nahm jede Gelegenheit wahr, um Geld zu verdienen. Sie gab Nachhilfestunden, hütete Babys, sie spielte in Familien mit Kindern den Nikolaus, ein sehr einträgliches Geschäft, besonders für Studentinnen, denn ängstliche Mütter waren der Meinung, auch der Nikolaus müsse einfühlsam und sanft sein, damit er die kleinen Seelen nicht verletze. Leider war diese Geldquelle zeitgebunden. Aber Examensarbeiten tippen konnte man in der kleinen Universitätsstadt immer, und das tat Pytt bis tief in die Nacht hinein.
Von dem Erlös kleidete sie sich ein: ein paar hübsche Kleider, Stiefel, ein schickes Kostüm, Lederjacke. Und nun den Führerschein. Petra hätte das nie vermutet und war ein bißchen betroffen: Offenbar hatte sie die jüngere Schwester finanziell zu kurz gehalten. Hatte sie? Sie wagte nicht zu fragen.
Auch Eltern machen es nicht immer genau richtig, jedenfalls nach der Meinung der jüngeren Generation. Sie sparen dort, wo die Heranwachsenden es falsch und verkehrt finden, und geben Geld für Dinge aus, an denen „kein denkender Mensch“ Spaß haben kann, wie viele Kinder meinen. Aber sie sind immerhin die Eltern, eine andere Generation, während Petra nicht viel älter als Pytt war und somit einsichtiger hätte sein können.
Nun war Pytt also eingekleidet und besaß den Führerschein, obwohl sich in der Familie noch kein Wagen befand. Petra sah sie nachdenklich an, sagte aber nichts. Sie selbst hätte sich weder das eine noch das andere geleistet, wenn sie Geld verdient hätte. Was aber dann? Sie strich die Gedanken rasch durch, als kämen sie ihr nicht zu, und erkundigte sich lieber nach Pytts Plänen.
„Machst du nun auch den Flugschein oder fährst du nach Sankt Moritz zum Schilaufen?“ Sie fragte es lustig und nett, und Pytt antwortete ebenso.
„Vielleicht nach Teneriffa. Ach nein, dort ist es mir zu gemischt, da trifft man ja die halbe Bundesrepublik. Wer auf sich hält, fährt in die Lüneburger Heide. Das aber ist anderseits wieder der größte Snobismus. Ich muß es mir noch überlegen.“
„Vielleicht nach Griechenland?“ schlug Frieder kauend vor.
„Heute abend kommt Marcell, er will uns seine Dias zeigen. Sowas macht Appetit auf Reisen!“
„Ach, Marcell! Ich hab’von einem einiges gehört, der mit ihm gefahren ist. Es soll eine einzige Hetze gewesen sein“, lachte Pytt. „Die beiden andern – zwei fuhren mit ihm, damit es billiger wurde – schrien immerzu: ‚Trümmer, Trümmer!‘ Nur damit er einmal anhielt. Und als sie über den Isthmus kamen und nochmal zurückwollten, um sich diese einmalige Sache genau anzusehen, von der wir schon in der Schule Wunderdinge hörten, da sagte er: ‚Kaufen wir uns doch ein Foto. Wir müssen weiter.‘ So reist Marcell. Na, ich weiß nicht.“
„Das ist bestimmt eine üble Nachrede! Marcell ist doch kein Piefke, der ins Ausland fährt, um die Sehenswürdigkeiten abzuhaken! Ganz bestimmt nicht“, mischt sich jetzt Petra mit ungewohnter Lebhaftigkeit ein, „Marcell ist ein sehr interessierter, sehr –“
„Na?“ fragte Frieder, als sie stockte. Petra drehte sich rasch um, holte die Vanillesoße und stellte sie Pytt neben den Teller. Es war selten, daß Petra heftig wurde.
„Ein sehr gescheiter Kerl“, vollendete sie, als Frieders „Na?“ gar zu deutlich im Raum stehenblieb. „Er hat viel von der Welt gesehen und kann interessant davon erzählen. Macht ihn nicht schlecht.“
„Wer tut denn das?“ grinste Frieder. „Nur–ein bißchen gibt er schon an mit seinen Reisen! In Lappland war er und in Mexiko –“
„Na also. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.“ Pytt sagte es gleichmütig und schob den Teller von sich. „Ich sehe mir seine Dias heute abend jedenfalls an. Warum denn nicht? Er fotografiert großartig. Du kommst doch auch, Petra?“
„Wenn ich nicht zu müde bin“, sagte Petra und stellte die Teller zusammen. „An sich ginge ich gern schlafen.“
„Falls du ein Bett hast, haha!“ lachte Frieder vergnügt. „Ein Bett – und ein Zimmer. Oder quartierst du nur in meins übermüdete oder paukende Kommilitonen ein?“ fragte er hinterlistig.
„In meinem Zimmer lernt Irmgard, daß du es weißt!“ schalt Petra und merkte zu spät, daß sie damit die Sache nicht besser machte. Die beiden jüngeren lachten sie aus, daß sie sich ärgerte. So ging es meist zu bei den Geschwistern König.
„Dann seht eure Dias allein an, aber Bier spendier’ ich nicht!“ schloß sie jetzt die Debatte. Frieder schaltete um und begann zu schmeicheln.
„Mütterchen, ohne dich sind die schönsten Griechenlandbilder kein Erlebnis! Sei lieb und schenk uns deine Anwesenheit! Deine Kleinen werden auch so lieb und brav sein ...“
„Ich werd’ dich gleich bemütterchen!“ Sie versuchte, ihn beim Schopf zu fassen, aber er tauchte geschickt und blitzschnell unter ihrem Griff weg. Auch Pytt entsprang. Petra stellte die Teller auf den Abwaschtisch und drehte das heiße Wasser auf.
Sie ärgerte sich mehr, als die beiden andern ahnen konnten. Und sie ärgerte sich, daß sie sich ärgerte.
Im Grunde nämlich freute sie sich sehr auf heute abend, auf eine anregende, nette, zusammengehörende Runde, auf die Bilder aus Griechenland, auf ein gutes Gespräch. Auch auf Marcell. AufMarcell sogar am meisten, wenn sie ehrlich war, und vor sich selbst konnte sie es ja ruhig zugeben.
Marcell imponierte ihr. Er war älter als sie, etwa so alt wie ihr ältester Bruder Helmut, der schon praktischer Arzt war. Marcell studierte Kunstgeschichte. Wahrscheinlich würde er an eine Uni gehen und in kurzer Zeit einen Lehrstuhl erhalten.
Sie selbst hätte auch gern Kunstgeschichte studiert, obwohl sie wußte, daß dies für Mädchen keine großen Aussichten hatte. Was sollte man werden, Lehrerin? Das war wohl das einzige, aber da gehörten noch andere Fächer dazu, wenigstens eins. Welches aber? Sie hätte es also wahrscheinlich gelassen, auch wenn ihre Eltern noch am Leben wären. Und so schon gar nicht. Aber sie besaß ein unmittelbares Interesse an diesem Gebiet. Ob das auf Marcell zurückzuführen war, oder wenigstens zum Teil, wußte sie nicht.
Marcell hatte eine merkwürdige Vergangenheit, wie sie durch Zufall einmal erfahren hatte. Seine Eltern, beide ausübende Mediziner, waren mit dem Auto verunglückt, als er noch nicht zehn Jahre alt war. Bis dahin hatten sie ihn unvernünftig verwöhnt und vergöttert, mit Liebe überschüttet, wenn sie Zeit für ihn hatten, und nicht unter andere Kinder gesteckt. Da keine Verwandten ihn zu sich nahmen, zog der Chauffeur ihn auf. Der hatte den Unfall als einziger überlebt, ihn traf keine Schuld, wie die Verhandlung ergab, aber er schien sich schuldig zu fühlen. Mit dem Jungen seiner „Herrschaft“ gab sich dieser nicht mehr junge, aber lebenskluge Mann unendliche Mühe. Er verfiel aber ins Gegenteil und erzog das Muttersöhnchen, das bis dahin früh sogar noch die Flasche getrunken hatte, vorsätzlich hart und zur Härte. Er machte aus dem kleinen Prinzen einen wehrhaften Gassenbuben, der unter seinesgleichen seinen Mann stand und in der Schule bald zum Überflieger wurde. Im Abitur konnte er sieben Einsen vorweisen, ein sicher außergewöhnlicher Fall. Daraufhin erhielt er die Studienstiftung des deutschen Volkes, die jedes Jahr nur einmal verliehen wird, und studierte damit Kunstgeschichte, wurde im Austausch nach Amerika geschickt, machte selbst viele Reisen und saß jetzt an der Doktorarbeit. Binnen kurzem würde ihn der Doktorhut schmücken – „Dr. Marcellus Marcus“– und in absehbarer Zeit war er dann Professor. Imponierend ohne Zweifel, großartig in seiner Zielstrebigkeit.
Petra hatte den Abwasch beendet, blieb vor dem kleinen Küchenspiegel stehen und überlegte, was sie heute abend anziehen sollte. Den Pullover mit dem dicken Rollkragen? Er stand ihr gut und paßte auch zum augenblicklichen Wetter. Petra stand und sah sich an. Ihr Gesicht ähnelte dem von Pytt, wirkte aber zur Zeit älter als sie war. Es hatte in letzter Zeit gar zu viel Sorgen, Ärger und Arbeit gegeben. Petras Augen waren hellbraun mit einem grünlichen Schimmer – sie konnten golden aussehen, hatte Marcell einmal gesagt. Goldene Augen ...
Nein, sie zog lieber das helle Wollkleid an. Warum immer Pulli und Rock oder gar lange Hose. Marcell mochte Hosenmädchen nicht, sie wußte das. Und im Grunde war sie auch keins, trug Hosen nur aus praktischen Gründen. Hosen paßten zu solchen Mädchen wie Pytt – munter und quicklebendig. Die sich den Führerschein erarbeiteten, moderne Kleider kauften, auf Draht waren. Und sie? War sie nicht auf Draht?
„Petra!“ rief es in diesem Augenblick. Das war Irmgards Stimme. Petra brach ihren Gedankengang nur zu gern ab. Es hatte kläglich geklungen, sicher war Hilfe nötig. Sie lief in ihr Zimmer.
Wahrhaftig. Irmgard pflegte sich zum Arbeiten sehr starken Kaffee zu kochen, und da sie viel davon brauchte, hatte sie sich Petras Wärmekanne ausgeliehen, ein Gefäß, das, nach dem Prinzip der Thermosflasche hergestellt, doppelwandig war und somit die Wärme lange hielt. Diese Kanne besaß die Eigenschaft, daß ihr Stöpsel, wenn man den Kaffee sehr heiß einfüllte, nach einer Weile mit einem „Flupp!“ hochsprang. Diesen „Flupp“ hatte es eben gegeben, und Irmgard war erschrocken, hatte die nun offene Kanne angestoßen, diese war umgefallen, und nun schwamm der ganze Arbeitstisch von starkem Kaffee.
„Himmel, warte – ich komme schon –“ Petra rannte nach einem Lappen, während Irmgard planlos an einzelnen Blättern herumtrocknete, laut schimpfend.
„Muß mir das passieren – meine ganze Lehrprobe! Nun muß ich alles nochmal von vorn machen –“ sie war den Tränen nahe. Petra tröstete und versuchte zu retten, was zu retten war.
„Nein, abgetrocknete Kaffeeblätter kann ich nicht abgeben!“ jammerte Irmgard. „Das muß ich alles neu abtippen, möchte nur wissen, wann! Ausgerechnet heute muß mir das passieren, wo ich sowieso schon so im Druck sitze!“
Irmgard hatte erst Philologie studiert, was ihr aber weniger lag, als sie gedacht hatte. So ging sie zur Pädagogischen Hochschule über, um schneller fertig und Lehrerin zu werden. Da es hier keine PH gab, fuhr sie täglich nach Gießen. Trotzdem behielt sie ihr Zimmer bei. Sie konnte sich nicht trennen.
Sie und Petra waren in eine Klasse gegangen. Sie verstanden sich gut, waren so etwas wie Freundinnen, jedenfalls gute Kameraden. Irmgard war klein, lebhaft und dunkel. Natürlich spielte auch der Preis des Zimmers eine ausschlaggebende Rolle. Sie bewohnte die sogenannte Besenkammer, einen winzigen Raum, der eigentlich keine Stube und auch nicht heizbar war. Deshalb arbeitete sie meist in Petras Zimmer.
Auch heute.
„Sowas kommt halt vor“, tröstete Petra, wischte und sortierte. „Erstmal müssen wir die Blätter der Reihe nach legen, du hast alles durcheinandergeworfen. Alles andere findet sich. Natürlich, abgeben kann man sie nicht – war es die Reinschrift?“
„Ja, das ist es doch gerade!“
„Laß mal, lesen kann man es schon noch. Und wenn du keine Zeit hast, es nochmal zu tippen, dann diktierst du es mir. Ich schreibe sehr schnell und so gut wie fehlerfrei – darf man radieren?“ fragte Petra.
„Klar! So ist es nun wieder nicht.“ Irmgard mußte lachen, es war noch ein halber Schluchzer. „Übrigens heul’ich nur aus Wut, daß du es weißt! Aus Wut über meine eigene, nicht abzulegende Schusseligkeit ...“
Sie heulte bald nicht mehr. Petra, die eigentlich eine Mittagspause hatte einlegen wollen, fand, daß man, wenn man schon half, auch sofort helfen müsse. Sie setzte sich also an die Maschine, und Irmgard saß daneben. Irmgard fing an zu diktieren, und bereits nach einer halben Stunde unterbrach sie sich, völlig getröstet:
„Du, auf diese Weise kann ich noch viel ausputzen. Oft denkt man ja, es ist alles in Ordnung, und dabei wäre noch so viel einzufügen. Fußnoten mach’ ich gar nicht gern, die sehen so schlampig aus –.“
Sie versank wieder in ihr kaffeebraunes Manuskript. Petra saß, wartete auf das Diktieren und starrte auf die Tasten. Sie war jetzt sehr müde. Sobald Irmgard einen Satz sagte, war sie hellwach, dazwischen aber schlief sie mit offenen Augen. Wenn man so zeitig aufstand wie sie, merkte man eine übergangene Mittagspause sehr genau. Immer wieder mußte sie sich gewaltsam emporreißen. Endlich sagte Irmgard:
„Das wär’s. Tausend, tausend Dank! Nun ist die Lehrprobe besser als vorher. Es geht doch nichts über umgeschütteten Kaffee.“
Petra lachte und ging. Vielleicht konnte sie sich jetzt noch geschwind eine kleine Zeit hinlegen? Es war so verlockend, wenn sie sich vorstellte: ganz kurz schlafen, dann unter die heiße Brause, ein hübsches Kleid anziehen und dann der Abend mit Marcell.
„Mit Marcells Griechenland-Dias“, verbesserte sie sich rasch in Gedanken. Natürlich, um die Dias ging es ihr. Aber Marcell war auch nett, und erzählen konnte er wirklich interessant. Goldene Augen, hatte er gesagt ...