Читать книгу Guten Morgen, Petra - Lise Gast - Страница 6
ОглавлениеPytt rannte die Treppe hinunter, daß ihre Absätze ein richtiges Trommelfeuer machten. Immer war sie eilig, heute aber anscheinend noch eiliger. An der Kehre faßte sie den blankgewetzten Pfosten und schwang sich daran herum, wie sie es als Kinder immer taten, sie und ihre Geschwister. Danach konnte man auf dem nächsten Absatz fünf Stufen auf einmal hinunterspringen – wenn man konnte. Fünf waren der Rekord, auf mehr hatte es noch keiner gebracht. Pytt hatte nicht den Ehrgeiz, ihn zu überbieten, aber sie wollte auch nicht darunterbleiben. So gab sie sich den nötigen Schwung und landete zu ihrem Erstaunen an der Brust eines gerade diesen Treppenabsatz heraufkommenden jungen Mannes.
„Nanu?“ fragte der, hatte aber nichts dagegen.
„Entschuldigung!“ japste Pytt kleinlaut und suchte wieder Halt auf den eigenen Beinen, die ihr ein wenig abhanden gekommen waren. Dann sah sie mit einem Entschluß in das Gesicht des Überfallenen.
„Wer – wohin wollten Sie eigentlich?“ fragte sie.
„Zu Ihnen. Ich nehme an, Sie sind Fräulein König. Mein Name ist Schüpferling.“
„Und was wollten Sie von mir?“
„Ich habe gehört, daß es hier Zimmer zu vermieten gibt, und –“
„Ach so. Ja. Meine Schwester. – Petra!“ schmetterte Pytt in Richtung Küche und wandte sich dann dem Besucher wieder zu. „Ich bin nur der Anhang. Sozusagen. Petra entscheidet. Dort ist sie übrigens. Wiederseh’n.“
Weg war sie. Roland Schüpferling ging auf die andere Königsschwester zu.
Die Verhandlungen dauerten nicht lange. Petra mußte absagen. Das Haus war voll, auch für den Sommer. Sie hatte den Besuch in die Küche gebeten und sich ihm gegenüber gesetzt, nachdem sie Kaffee vor ihn hingestellt hatte. Etwas Kuchen war vom Sonntag auch noch da. Sie sagte das, legte ihn dazu und nahm sich selbst auch eine Tasse.
Auf diese Weise ging die Absage nicht so schnell vonstatten, wie man – wie auch Pytt – hätte annehmen können. Petra unterhielt sich ein Weilchen mit dem jungen Wohnungssuchenden, der einen sehr ordentlichen und erfreulichen Eindruck machte, da kam Pytt herein, wieder mit einem Elan, wie er nur ihr eigen war.
„Petra, – ich – ach so. Entschuldigung, sind Sie noch da?“
„Ja. Obwohl ich hier nichts mehr zu suchen habe. Jedenfalls nichts zu finden, wie ich hörte“, sagte der Besucher und lächelte trübe. „Ich möchte schon jetzt ein Zimmer, nicht erst für das Sommersemester. Ich will im Herbst Examen machen und habe noch viel zu arbeiten.“
„Hm. Hast du auch einen Kaffee für mich?“ fragte Pytt mit einem Entschluß. Sie ärgerte sich über sich selbst. Erst sauste sie dem Unbekannten auf der Trappe direkt in die Arme, und jetzt kam sie hier hereingeschossen, als wäre sie ungefähr zwölf Jahre und wollte der Mutter schnell etwas ungeheuer Wichtiges erzählen. Nein, jetzt zeigte sie sich einmal von der gesetzten und vernünftigen Seite.
Petra goß ihr ein.
Der junge Mann war betrübt, ein Nein zu bekommen, sonst aber von einer ruhigen Freundlichkeit. Pytt hörte ein Weilchen zu, wie Petra und er sich unterhielten, sagte nicht viel, trank ihren Kaffee. Als der Besucher aufstand und sich verabschieden wollte, sah sie ihn richtig an. Er hatte dunkle Augen, so dunkel, daß man die Iris nicht von der Pupille unterscheiden konnte. Sie hatte das noch nie irgendwo gesehen. Die Augen lagen tief und blickten ein wenig verschattet.
„Ja, das ist nun schade. Ich hätte mich hier sehr schnell zu Hause fühlen können“, sagte er. „Wissen Sie, Buden kriegt man schon, wenn man lange genug sucht. Aber so wie hier –“ er machte eine vage Bewegung, die die gemütliche, von Petra nach eigenem Geschmack eingerichtete Küche umriß. Da stand vor der Eckbank ein klobiger Tisch, mit Mühe aufgetrieben, aber so herrlich bodenständig in seiner Unerschütterlichkeit. Mitten drauf lag diagonal eine rotkarierte kleine Decke, ringsum war er hell gescheuert, und die Tassen und Teller, die auf dem Bord hinter der Bank standen, waren sämtlich aus buntem Ton. Auf dem Fensterbrett drängten sich Petras Topfblumen, eine Hyazinthe blühte schon und mischte ihren süßen Duft in den bitteren des Kaffees. Und Petra achtete darauf, daß an der Seite des Herdes, der noch, neben dem elektrischen stehend, richtig geheizt wurde, immer ein paar Scheite Holz lagen und ihren heißen Harzduft ausströmten. Ja, die Küche war zum Sich-daheim-fühlen, wahrhaftig!
„Und so etwas findet man nirgends“, schloß der sich Verabschiedende bedauernd. „Entweder man lebt ganz unpersönlich in einem jener Häuser, die von oben bis unten von Studenten bewohnt werden, oder man ist abhängig von der Leicht- oder Schwerhörigkeit einer aufdringlichen Wirtin. Ich habe da Dinge erlebt ...“ er lächelte ein wenig, es war ein gleichzeitig amüsiertes wie bedauerndes Lächeln, das Pytt sehr gut gefiel. Mit einem plötzlichen Entschluß – so war Pytt nun einmal – winkte sie mit der erhobenen Hand der seinen ab, die sich ihr zum Abschied hinstreckte.
„Moment – Petra, hör zu. Ich bin ja doch kaum zu Hause, jedenfalls tagsüber. Wie wäre es, nimmst du mich bis zum Herbst auf deine Couch? Schnarchen tu ich nicht. Dann könnte Herr – wie war der Name? Schüpferling? – mein Zimmer haben.“
Petra war überrascht. Sie setzten sich wieder. Pytt verfocht ihren Entschluß zielbewußt und mit fröhlicher Bestimmtheit. Petra wunderte sich, sprach aber nicht dagegen. Pytt siegte also. Als Herr Schüpferling nach einer halben Stunde das Haus verließ, verließ er es, um wiederzukommen.
„Das Geld für dein Zimmer bekommst du nun aber“, bestimmte Petra, als er hinaus war.
Pytt lachte sie an.
„Halb! Denn nun fall’ich dir ja zur Last, wenigstens nachts. Werde mich aber bemühen –“ sie sprang davon. Petra setzte die Kaffeetassen zusammen und ging auch.
Sie hatte keine Zeit, weiter über diesen Fall nachzudenken. Wenn Pytt ihr Zimmer hergab, gut. Daß sie deshalb bei ihr auf der Couch schlafen würde, konnte sogar sehr nett sein. Man hatte so wenig Zeit füreinander. Vielleicht gab es manchmal einen hübschen abendlichen Schwatz.
Obwohl – Pytt war ein Brausewind. Immer im Tempo, immer beim übernächsten Schritt, und viel auf Ordnung gab sie auch nicht. Aber wenn schon, es war ja nur für ein halbes Jahr. Petra söhnte sich schon im voraus mit allen Widrigkeiten aus, die kommen würden – sie waren es ja gewöhnt, zu improvisieren, hier in diesem unruhigen, lauten und lebendigen Haushalt – und legte den einmal gefaßten Entschluß zu den Akten. Etwas anderes hakte in ihrem Gehirn – nein, in ihrem Herzen. ‚In einem jener unpersönlichen Häuser, in denen lauter Studenten wohnen ...‘
Sie wußte Bescheid. In der Biegenstraße zum Beispiel gab es viele, sie gehörten einem Mann, der alle Winkel ausgebaut hatte, und der sich nun nur noch für die Mieteinnahme interessierte. Auf dem Dachboden waren da Buden, ohne einen Ofen und ohne eine Möglichkeit, einen zu stellen, wo die Wände dünn waren wie Papier und man jedes noch so leise geflüsterte Wort von nebenan hörte, die Fenster waren von einer Winzigkeit, daß man sie kaum als solche bezeichnen konnte. Manche Zimmer waren so klein, daß nicht einmal ein Tisch hineinging, bei manchem mußte der Besitzer seine Garderobe im Flur hängen lassen. Und Marcell? Wie wohnte er?
Vielleicht hatte er eine ordentliche Wohnung, er bekam doch durch das einmalig günstige Stipendium mehr Geld als die meisten Studenten. Aber er brauchte auch sehr viel für seine Reisen. Und vielleicht wurde er von seinem Vermieter ausgenützt, weil der davon wußte?
Petra hatte Marcell seit dem Abend, an dem er seine Griechenland-Dias gezeigt hatte, nicht mehr gesehen. Einmal hatte sie einen ihrer Untermieter, der ihn etwas genauer kannte, nach ihm gefragt.
„Ich glaube, er ist krank“, sagte der eilig – er war im Davonspringen, um noch zu einer Vorlesung zurechtzukommen. „Ich hörte es von Jochen. Na, vielleicht ist er längst wieder gesund ...“
Petra konnte nicht anders, sie machte sich Gedanken. Die Anschrift von Marcell wußte sie. Kurz entschlossen nahm sie Jacke und Mütze und ging los. Bis zum Abendbrot konnte sie gut zurücksein.
Es war viel schlimmer, als sie sich in unklaren und unkontrollierten Überlegungen vorgestellt hatte. Vor der Tür, an die seine Visitenkarte geheftet war, standen sechs Milchflaschen, unter der, die am weitesten rechts stand, lag ein Zettel eingeklemmt: die Rechnung. Im Briefkastenschlitz steckte Post von ein paar Tagen. Es sah beklemmend aus.
Petra schellte. Nichts. Sie läutete noch einmal, und dann fing sie an zu klopfen, erst vorsichtig, dann lauter. Als schon die wilde Vision von Türaufbrechen und Polizeiholen in ihr irrlichterte, brummte es auf einmal drinnen, Schritte kamen in den Flur getapst, die Tür wurde aufgemacht. Petra fiel ein Stein vom Herzen: Es war Marcell, sehr unrasiert, aber lebendig.
„Ach, Petra, du. Auch das noch“, knurrte er und sah sie nicht eben freundlich an. Petra tat, als merke sie es nicht. Sie hob die Milchflaschen auf, verstaute sie nebeneinander im linken Arm und schob Marcell mit der rechten Hand beiseite.
„Sollen die hier zu Sauermilch gerinnen?“ fragte sie sachlich. „Ein Glück, daß es kalt ist. Herein mit dir. Ich hab’ gehört, du wärst krank, aber was sich da draußen angesammelt hat, sieht beinah wie Selbstmord aus.“
„Krank – vielleicht mal gewesen“, brummte er und tappte ihr nach. Es klang verärgert. Petra ließ sich nichts anmerken. Ihr war nicht geheuer bei diesem Samariter-Besuch.
Sie tastete sich durch einen dunklen Flur und stieß aufs Geratewohl eine Tür auf. Die Küche, aha. Winzig – und nicht gerade einwandfrei sauber. Na ja, Junggesellen. Sie verstaute die Milchflaschen und sah sich ein wenig um, damit Marcell Zeit hätte, sich wieder ins Bett zu verfügen.
Er schien es zu tun. Sie ging in den Flur zurück und rief halblaut:
„Wie ist es? Kann ich kommen?“
„Moment.“ Es bumste und scharrte ein bißchen, Schranktüren und Kommoden wurden zugestoßen. Dann: „So. Come in.“
Gar so trist war das Zimmer eigentlich nicht. Kalt natürlich, aber kaum kleiner als ihres zu Hause. Auch einigermaßen aufgeräumt. Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl und sah Marcell an, der im Bett lag, die Decke bis ans Kinn gezogen.
„Wie lange bist du denn schon malade?“
„Ach, ein paar Tage. Ist schon wieder besser. Ich wollte heute aufstehen.“
„Kümmert sich denn niemand um dich?“
„Gottlob nein.“ Es klang sehr, aber schon sehr unliebenswürdig. Petra, die sich vorgenommen hatte, auf jeden Fall sanft und freundlich zu bleiben, merkte, wie der Ärger in ihr aufstieg.
„Na schön. Aber Feuer werde ich machen, damit dir das Aufstehen leichter fällt. Oder hast du nichts zu heizen?“
„Doch. Im Flur. Ich –“ Petra verzichtete auf weitere Erklärungen und ging. Während sie am Ofen hantierte, Asche durchkratzte und Papier knüllte, um es unter das Holz zu schieben, wandte sie ihm den Rücken zu. Sie wußte aus Erfahrung, daß die meisten Männer unausstehliche Patienten sind, vor allem Männer, die sonst gern großartige Kerls sein wollen oder sogar sind.
„Was war es denn eigentlich?“ fragte sie also so nebenbei wie möglich, „Grippe? Oder?“
„Wahrscheinlich. Hohes Fieber, Kopfschmerzen zum Platzen, – na, eben das Übliche um diese Jahreszeit. Vielleicht auch nur Überarbeitung. Ich kenne das. Wenn ich sehr ins Zeug gehe mit der Arbeit, kommt das so bei mir. Jedes Jahr einmal.“
„Hm. Hast du was eingenommen?“
„Ich nehme nie was. Ich verkrieche mich und schlafe, schlafe– du kannst es an den Milchflaschen abzählen.“
„Und jetzt ist dir wirklich besser?“ Das Feuer prasselte, es würde nun wohl nicht mehr ausgehen. Petra erhob sich aus ihrer hockenden Stellung. Sie wandte sich um. Marcell sah sie so finster an, daß sie lachen mußte. Auf einmal war alle Peinlichkeit verflogen.
„Sehr vernünftig“, sagte sie und sah ihn so vergnügt an, als habe er ihr soeben erzählt, er wolle mit ihr tanzen gehen. „So und nicht anders kuriert man Grippen. Ich gehe jetzt, und ob du aufstehst oder nicht, ich bring’ dir heute abend etwas zu essen. Einverstanden?“
Sie sah ihn heiter fragend an.
„Was denn?“ fragte er, halb versöhnt.
„Nudelsuppe.“
„Aber ohne Petersilie, möchte ich mir ausgebeten haben.“ Es klang noch recht grantig. Petra lachte.
„Na schön. Bis dahin bist du rasiert, verstanden?“
Hinaus, Tür zu. Im Treppenflur lehnte sich Petra erst einmal an die Wand, lächelte mit geschlossenen Augen und atmete tief. Dann lief sie los, die Treppe hinunter, als wäre sie Pytt. Ihr Herz war strahlend froh und so leicht, so leicht – sie hatte das Gefühl, als flöge es ihr voran.