Читать книгу Guten Morgen, Petra - Lise Gast - Страница 5
ОглавлениеDas abnorme Schneewetter machte sich wahrhaftig bemerkbar. Heute fürchtete jeder, den Schnee bis oben in die Stiefel zu bekommen. Einer nach dem andern von Petras Schutzbefohlenen fand sich nach dem Abendbrot im Wohnzimmer ein, bald mußte man Stühle aus den andern Zimmern und aus der Küche holen, und die Jungen rauchten, daß man schon gar nicht mehr hindurchgucken konnte.
„Im Kino wird nicht geraucht“, protestierte Petra, „wir sind nicht in England.“ Ihr Bruder Helmut hatte einmal erzählt, wie er sich geärgert hatte, als er in London den Film „Romeo und Julia“ in hervorragender Besetzung ansah und bei der süßen Szene ‚– bist du schon wach? Der Tag ist ja noch fern, es war die Nachtigall und nicht die Lerche –‘ eine alte dicke Lady vor ihm sich eine Brasil anzündete.
„Nicht nur mit einem lauten ‚Ratsch!‘ anzündete, sondern später den Rest auch noch auf dem teppichbelegten Fußboden austrat!“ hatte er gesagt.
„Es hat ja noch nicht angefangen“, sagte Frieder gemütlich, „Marcell ist höchstwahrscheinlich im Schnee steckengeblieben.“ Petra hatte auch schon ähnliches befürchtet, da aber ging die Tür, und der Erwartete trat ein, dick beschneit, von allen Anwesenden mit Lachen und nach Studentenart mit Klopfen und Füßetrampeln begrüßt.
„Natürlich komme ich, wenn ich es versprochen hab’“, sagte er und winkte dem Radau ab wie ein beliebter Schauspieler, „damit wir uns alle miteinander in den sonnigen Süden versetzen können.“
Es wurde ein sehr schöner Abend.
Petra hatte mit Vorbedacht einen Projektor für Dias gekauft. Viele der Studenten knipsten, mit eigenen oder geborgten Apparaten, und wollten dann ihre Aufnahmen bewundern, die wenigsten aber hatten einen Projektor. Da Petra ihren nicht verlieh, kamen sie alle zu ihr, und auf diese Weise sah sie sehr viel. Sie behauptete immer, sie wäre im Geiste schon in ganz Europa zu Hause.
Auch heute machte es ihr Spaß, zu erraten, was die neuen Bilder zeigten: ob den Zeustempel oder den des Apoll, ob das Kloster Daphni oder Hosios Lukas. Durch ihr Interesse und ihr sehr gutes Gedächtnis traf sie häufig das Richtige, und im Dunkel des Zimmers wurde sie rot vor Stolz, als Marcell sie lobte:
„Richtig, als ob du dort gewesen wärst. Jetzt aber – sieh genau hin! Was ist es?“
„Olympia!“ rief Petra enthusiastisch, und alles lachte. Petra verstand nicht, warum.
„Nun, das war wahrhaftig nicht schwer. Man sieht ja die Startschwelle der Läufer mit den Einkerbungen“, brummte einer neben ihr. Dann kam, was Petra am meisten liebte und worauf sie immer wartete: das Theater von Epidaurus.
„Dort möchte ich mal sein, ganz allein, Hitze und Stille, nur die Zikladen zirpen“, sagte sie halblaut vor sich hin.
„Ganz allein – hast du eine Ahnung!“ lachte einer aus der letzten Reihe, „man fällt dort über Menschen, hört schwäbisch, sächsisch und Berliner Dialekt. Jeder, der kann, fährt ja nach Griechenland.“
„Na und? Warum nicht?“ fragte Marcell scharf. „Wer die Antike nicht kennt, kann überhaupt nicht mitreden.“
„O ja, gut ist das schon“, sagte Frieder jetzt, es klang verträumt und eigentlich so, als spräche er für sich allein. „Immerhin, ich kenne einen Mann, der ist achtzig und war nie dort. Aber der weiß alles. Der könnte einen herumführen und würde sich nie, nie irren. Vom Grab des Agamemnon bis – nun, mir fällt nichts Ungewöhnliches ein. Der weiß, was für eine Haarfarbe Odysseus hatte und ob Nausikaa Dauerwellen trug – im übertragenen Sinne, meine ich –, und wie die Geschichte mit der Königin Arete eigentlich zusammenhing. Denn das wird aus der Odyssee keineswegs ganz klar ...“
„Du kannst nie ernst bleiben“, sagte Marcell, ärgerlicher als nötig, wie die andern fanden. „Reisen gehört nun einmal zur Bildung. Man muß sich an Ort und Stelle eine Vorstellung machen können, an Ort und Stelle. Alles andere ist Ersatz, und zwar ein lückenhafter.“
„Stimmt, aber nur bedingt“, sagte jetzt einer der älteren Studenten. „Ich habe ein ähnliches Beispiel wie Frieder auf Lager. Meine Großmutter – ja, lacht nur ruhig, auch Großmütter waren mal jung und hatten vielleicht eine umfassendere Bildung als unsereiner – meine Großmutter also war ein Goethenarr, wie ich keinen zweiten erlebt habe. Sie hatte alles, aber auch alles über Goethe und Weimar gelesen und war nie dort. Ich habe sie mehrmals aufgefordert, mit mir hinzufahren. Wenn man wirklich will, kommt man schon hin. Sie hat sich standhaft geweigert. ‚Das wäre, als wenn ein gläubiger Katholik am Ende seines Lebens nach Rom pilgerte, oder doch so ähnlich‘, sagte sie einmal und lächelte mich an. Ihr Gesicht glich dem von Goethe ein wenig, nein, ihr könnt ruhig lachen, so etwas gibt es. Dieselben länglichen Wangen, dieselbe hohe Stirn. ‚Ich würde mich in Weimar zurechtfinden, als wäre ich dort geboren und in die Schule gegangen. Aber ich möchte nicht enttäuscht werden. Verstehst du? Das ist es. Manches ist schön, auch wenn man es nicht an Ort und Stelle sieht.‘ Ich dachte an den russischen Soldatenfriedhof, der ganz nahe an Goethes Gartenhaus liegt, und schwieg von da an. Könnt ihr das verstehen?“
„Ist eine Auffassung, gewiß“, gab Frieder zu, „aber vielleicht eine sehr persönliche. Und eine für alte Leute. Ich möchte Weimar sehen – so, wie es war, und so, wie es ist. Und Griechenland. Und Peru – und –“ er brach ab. Die andern schwiegen. Dann sagte Marcell:
„Ich glaube, wir sprechen von verschiedenen Dingen. Ich meinte nicht, daß man reisen sollte, um – nun, um das zu sehen, worum Gefühle und Gedanken ein Leben lang kreisten. Wie bei deiner Großmutter etwa. Ich meine keine sentimentalen Reisen. Sondern solche, die Wissen vermitteln und den Horizont weiten.“
„Ich glaube, es gibt noch einen dritten Grund, warum man reist“, sagte jetzt Frieder, als die andern schwiegen. „Nämlich den, weshalb wir früher als Buben unsere Rucksäcke packten und losgingen, um in Zelten zu frieren, Asche ins Essen wehen zu lassen und uns Blasen an die Füße zu laufen. Wir hatten es zu Hause viel besser, und kein äußerer Grund sprach für diesen Unsinn in Anführungsstrichen. Denn wirklicher Unsinn ist das nicht. Wir wollten uns vor uns selbst bewähren, das war es. Ein absolut anzuerkennendes Motiv. In fremden Verhältnissen seinen Mann stehen und durchkommen, das macht erwachsen und gibt Selbstbewußtsein. Und das suchten wir.“
„Ich habe diesen romantischen Unfug nie mitgemacht“, sagte Marcell ablehnend. „Durch die Wälder ziehen, womöglich noch singend – danke verbindlichst. Eine Fichte sieht in Norddeutschland genauso aus wie im Süden. Deshalb brauche ich nicht durch den Wald zu laufen.“
„Du verwechselst –“
„Ich weiß genau ...“
Nun ging es los. Die Meinungen prasselten aufeinander, keiner hörte mehr den andern. Petra kannte das. Sie versuchte, sich Gehör zu verschaffen, schließlich drängelte sie sich durch die Reihe der improvisierten Sitzgelegenheiten hindurch und bat Marcell, mit seinen Dias fortzufahren.
Er tat es. Ruhe trat ein.
Aber es war nur eine äußere Ruhe.
Petra jedenfalls fand keine, auch als alle gingen. Sie begleitete Marcell bis zur Haustür.
„Mit meinen nächsten Lichtbildern komme ich nicht wieder her“, sagte er zum Abschied und lächelte ein wenig verzerrt, „du kannst nichts dafür, aber diese Banausenbande ...“
„Das sind sie im Grunde gar nicht“, verteidigte Petra schwach. „Bestimmt nicht. Manchmal kommt man in eine Stimmung und steckt die andern an ...“
„Ach – –“ Marcell stand da und drückte seine Mappe mit den Dia-Kästen an sich, als seien sie Kinder, denen man weh getan hat. Auf einmal fragte er heftig:
„Und du? Warum reist du? Auch aus solch blöden Gründen? Um dich zu bewähren oder Selbstbewußtsein zu bekommen oder wie – na, wie besagte goetheähnliche Großmutter?“
„Ich reise ja gar nicht, ich komme nie dazu“, dachte Petra erschrocken, sagte es aber nicht. Sie konnte es gar nicht sagen, denn plötzlich hatte Marcell sie umfaßt und an sich gepreßt, daß ihr der Atem ausging.
„Niemand versteht mich, niemand“, flüsterte er. „Alle sind so – so ... Petra, verstehst du mich? Du bist so freundlich mit allen, gehst auf jeden ein, und mich – mich –“
Er schwieg. Petra war so verwundert über diesen Ausbruch, daß sie im Moment kein Wort fand. Da sprach er schon weiter, leise, aber heftig, leidenschaftlich.
„Niemand kann mich leiden, hast du es gemerkt? Alle sind gegen mich. Alle haben andere Ansichten und verteidigen sie. Du auch? Sag, Petra, du auch?“
„Ich – –“ Petra wußte überhaupt nicht, wie ihr geschah. Marcell hatte sie umfaßt, Marcell flüsterte auf sie ein, wild, verzweifelt, so, wie man ihn gar nicht kannte. Marcell, der es weiter gebracht hatte als irgendeiner von ihnen, war unglücklich, verzweifelt, außer sich und bettelte um Verständnis. Marcell, vor dem sie alle klein und unbedeutend schienen, alle, noch im Werden, im Suchen, – die andern und sie schon gar ...
„Natürlich hat du recht, wenn du sagst, Reisen bildet“, setzte sie an, als er weiter schwieg. Und da er auch da noch nichts sagte, fuhr sie fort, tastend, unsicher: „Ich hab’mal gelesen: ‚Die Welt ist ein Buch, und wer zu Hause hinterm Ofen hockt, liest nur eine Seite darin.‘ Und Goethe sagt: ‚Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.‘ Oder so ähnlich.“
„Genauso“, sagte Marcell. Es klang düster, auch irgendwie abweisend. Er hielt seine Arme noch um Petra gepreßt, schien aber in Gedanken weit weg zu sein. Dann plötzlich drückte er sie wieder an sich, wild und unkontrolliert.
„Einer muß an einen glauben, einer muß das gutheißen, was man tut. Ich habe niemanden – niemanden – seit ... Glaubst du an mich, Petra?“ fragte er wild. „Oder hältst du zu den andern, den –“ er brach ab. Petra wollte etwas sagen, kam aber nicht dazu.
„Entschuldige!“ stieß er hervor und ließ sie los, „ich muß fort. Gute Nacht –“ und weg war er. Petra stand da, mit hängenden Armen, völlig durcheinander.
Marcell. Marcellus Marcus – nie hätte sie vermutet, daß es so in ihm aussehen könnte. So verzweifelt, so verstört. Sie hatte immer in dem Glauben gelebt, er wäre mit sich und seinem Vorwärtskommen zufrieden, ja, sogar ein wenig eingebildet darauf, was man gut hätte verstehen können. Aber er litt–und klammerte sich an sie, die doch gar nichts vorstellte, gar nichts geleistet hatte bisher ...
Sie ging ins Haus zurück, merkwürdig schwindlig und benommen. Im Flur traf sie Frieder, er schien auf sie gewartet zu haben. Er sah sie verstohlen an.
„Weckst du mich morgen früh? Um sieben?“ fragte er. Es klang gleichmütig, und sie nickte ihm zu.
„Klar. Schlaf schön ...“
Sie selbst konnte nicht einschlafen, obwohl es später war als sonst. Ihre Gedanken liefen und liefen. Es war die erste Nacht in Petras Leben, in der sie keine Minute schlief.–