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Unsere Michaels

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Michael ist ein schöner Name. Nicht nur Erzengel heißen so, sondern seit Jahrzehnten auch Menschenkinder. Es ist ein sehr verbreiteter Name, der sich immer mehr durchsetzt. Fast in jeder Familie gibt es einen, so auch in unserer. Und trotz der Mode bereue ich es nicht, daß wir unsern zweiten Sohn so genannt haben. Mein Mann wünschte es sich, und mir gefiel er auch immer. Inzwischen haben wir in unserer weitläufigen Familie viele Michaels, ich habe eine Menge „Beinahe-Söhne“, das ist so, wenn man viele Kinder hat, weil jedes von ihnen Freunde oder Freundinnen mitbringt.

So viele Erzengel gleichen Namens um sich zu haben ist freilich etwas mühsam und gibt Anlaß zu vielerlei Mißverständnissen. So beschlossen wir irgendwann, jedem einen Spitznamen zu geben. Der eine nannte sich Pfaffenlümmel, was mir nicht gefiel. Er ist Pfarrerssohn, gewiß, aber da kann man sich etwas anderes ausdenken. Wir tauften ihn Dekan. Ein anderer, der im Gegensatz zu uns gern vornehm tut (wir sind keine sehr vornehme Familie), wurde dem Dekan entsprechend Baron genannt. Es paßt wirklich zu ihm. Ein weiterer, von mir angenommener Sohn, hieß schon, als er zu uns kam, seiner hellblonden Haare zufolge Schimmel. Mein eigener Michael, seit Jahren „auf der Insel“, also in England, Schottland oder Irland, wird von den Geschwistern Mike gerufen, ich selbst bleibe aber bei Michael.

Einer wieder heißt Misch, das kommt von Mischka, seiner bärenmäßigen Tolpatschigkeit wegen.

So weit, so gut. Jeder der großen Jungen, es sind eigentlich schon Männer, hat irgendeine oder mehrere Eigenschaften, die wir schätzen. Da wir ziemlich einsam in einem kleine Holzhaus zwischen Wiesen und Wald wohnen, sind wir oft direkt auf ihre Hilfe angewiesen, sei es zum Bauen oder Reparieren von Zäunen oder dem Durchstoßen einer verstopften Drainage. Seit einiger Zeit wohne ich ein paar Minuten vom Ponyhof entfernt, den inzwischen Tochter und Schwiegersohn bewirtschaften. Da heißt es „Deine Gäste — meine Gäste“, wir helfen einander mit vielem aus, auch mit der „Ausnützung“ der männlichen Arbeitskräfte.

So wollte ich einmal eine Gardinenschiene angebracht haben und bat den „Dekan“ um seine Hilfe. Er saß mit Freunden im Ponyhof und hatte anscheinend keine Lust, herüberzukommen. Ich hatte selbst Besuch und wartete sehnsüchtig auf ihn, um endlich einen wichtigen Vorhang anbringen zu können.

Da ging das Telefon. Erleichtert sprang ich auf, rannte zum Apparat und meldete mich ausnahmsweise nicht mit Namen, sondern rief glücklich und zärtlich hinein: „Dekan, Dekan, Dekanchen, kommste doch noch?“ Die Antwort ließ mich die Luft anhalten. Eine mir völlig fremde Stimme sagte gemessen:

„Ich bin noch nicht Dekan. Ich bin Ihr neuer Pfarrer und wollte fragen, wann ich bei Ihnen einen Besuch machen darf.“

Ich habe schon manche schwierige Situation durchgestanden, aber hier fuhr mir der Schreck doch in die Glieder. Was sagt man in so einem Fall? Erklärt man? Das macht alles noch schlimmer und komplizierter. Ich war im Augenblick ratlos, bereute meine spontane Art, die mir schon oft Schwierigkeiten eingetragen hat, und flüsterte schließlich betreten:

„Oh, Entschuldigung, ich erwartete — aber das ist nicht so wichtig. Das erzähle ich Ihnen später. Bitte kommen Sie doch gleich und bringen Sie Ihre Frau mit, und wir trinken auf den Schreck eine Flasche Wein zusammen. Ist Ihnen das recht? Nicht wahr, Sie kommen? Bitte!“

Er kam, und es wurde sehr gemütlich. Ich erklärte nun doch mein merkwürdiges Verhalten am Telefon, und wir lachten viel. Seitdem sind wir befreundet, und ich fühle mich in guter geistlicher Hut. Mitunter bringt auch eine spontane Dummheit positive Folgen.

Tiergeschichten vom Ponyhof

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