Читать книгу Die Haimonskinder - Lise Gast - Страница 4
ОглавлениеPaß auf, dort oben, wo die Chaussee einen Buckel macht, von dort aus sieht man schon die Bäume“, sagte Ron und nahm Wolf an die andere Hand. Der Rucksack war so schwer, daß sie immer wenigstens mit einer Hand hinter den Riemen greifen und ihn locker ziehen mußte, und an der anderen hing der Junge. Es war ja auch weit für seine kurzen Beine, immerhin, er war fünf. Und da mußte man endlich lernen, einmal die Zähne zusammenzubeißen.
Übrigens war es gar nicht klar, daß man von oben die Bäume schon sehen würde. Es war neblig heute und noch früh am Tage. Es wurde Herbst ... Ron fühlte eine quälende Ungeduld und legte unwillkürlich ein paar Schritte zu. Aber da jammerte Wolf sofort wieder, sie ziehe ihn so, und er sähe die Bäume ja immer noch nicht —
Sie mußte Geduld haben. Das ist, wenn man achtzehn Jahre alt und gesund und kräftig ist, sehr schwer, fast unmöglich. Zumal dann, wenn man etwas vor hat, was einen treibt wie die Peitsche das Pferd — wenn man sieht, spürt und riecht, daß der Herbst kommt, und man hat im Sommer noch so viel zu tun ... Sie hatten jetzt die Höhe der Chaussee erreicht und blieben einen Augenblick stehen. Hier bog die alte Straße ab, die ziemlich steil und gerade nach Langenbernsdorf hinunterführte, und die man später, wohl des steigenden Autoverkehrs wegen, umgeleitet und sanfter geführt hat. Der alte Teil der Straße war verwahrlost und verlottert, ausgefahren und überwachsen, und nicht einmal Obstbäume an seinen Seiten konnten einen verlocken, ihm zu folgen. Obstbäume standen an der neuen Straße, schon kräftig und gut gepflegt, an der alten aber gab es nur Birken, und auch diese nur an einer Seite. Trotzdem fühlte Ron ein seltsames, starkes und gleichzeitig schmerzhaftes Heimatgefühl ihr Herz weiten, während sie mit Wolf diesen Weg einschlug.
Heimat — es war keine Heimat hier. Obwohl die Landschaft immerhin in manchem ähnlich war wie zu Hause; obwohl sie nun schon über drei Jahre hier wohnten; obwohl sie, was einem in Büchern immer anempfohlen wurde, die erdnächste Arbeit tat, die es gab, die Arbeit des Bauern — es war keine Heimat. Aber heute, an diesem nebligen und schon kühlen, sehr frühen Augustmorgen fühlte Ron, daß es vielleicht einmal Heimat werden könnte. Und es ging eine Ahnung über ihr Herz, daß alles auf dieser Welt, was kostbar ist, sehr teuer bezahlt werden muß, alles — auf jeden Fall aber das Gefühl des Daheimseins. Daß dies unzählige Schweißtropfen und viele verschwiegene Tränen kostete, die, ob geweint oder verbissen, bitterlich brannten ...
„Siehst du, nun sind wir gleich da“, sagte sie hastig, als könnte sie mit ihren Worten dieses Bewußtsein zudecken, „nun ist es wirklich nicht mehr weit. Und dann kannst du dich schön ausruhen, bis Mittag, wenn du willst. Du kannst dich auf den Heusack legen. Aber ich glaube, die Sonne kommt doch noch raus, und da bleibst du draußen und sonnst dich wie ein Kater —“
Die Straße ging jetzt steil bergab und auf ein Wäldchen zu, das bei den Leuten „das Lindicht“ hieß und hinter dem eine neue Bodenwelle das Dorf verdeckte. Vor dem Lindicht, links von der Straße, stand das kleine Haus, das halbe Haus richtiger gesagt, das früher das Chaussee- oder Zollhaus gewesen war. Das halbe — die eine Hälfte war in der Kampfzeit zerschossen worden; ein Treffer hatte genügt. Das, was noch stand von dem Häuschen, war bis in Brusthöhe mit Trümmern und Steinen, Mörtel und Dreck gefüllt gewesen, und da das ganze Gebäude nie sehr groß gewesen war, hatte man es damals wohl kurz und bündig mit „zerstört“ bezeichnet. Der Holunder, der daneben wucherte, bedeckte das zerrissene Dach so sanft und mitleidig —
Ron fühlte wieder, wie jenes seltsam schmerzliche Gefühl über ihr Herz ging. Zu Hause — ach ja, hier würde sie das vielleicht einmal denken können. Zu Hause — sie lief die letzten Schritte im Trab, ohne es zu wissen, und blieb dann aufatmend stehen. Der Mohn war noch da, er war nicht gestohlen!
Rings um das Häuschen hatte einmal ein Gartenzaun gestanden; man sah es noch an den eingesunkenen und halbverfaulten Pfosten an den Ecken. Als Ron das erstemal hierherkam — sie war mit dem Rad unterwegs nach Langenbernsdorf gewesen, landete aber auf dem Plattfuß und mußte schieben, und da hatte sie die steile, aber kürzere Strecke gewählt, durch Zufall — da war der Garten ebenso voll wuchernden Unkrauts gewesen wie der einzige, halbwegs brauchbare Raum des Hauses voller Schutt. Jetzt war das nicht mehr so. Sie lachte und warf den Rucksack ab, aufatmend.
„Guck, unser Mohn. Da müssen wir aber sehr fleißig sein, mein Heini, damit wir damit fertig werden“, sagte sie mit demselben sorgenvollen Stolz, mit dem der Bauer die Dreschmaschine in einem guten Erntejahr für drei Tage statt für zwei bestellt — „und Weihnachten haben wir dann Mohnkuchen, richtigen, wie zu Hause — und an deinem Geburtstag auch —“ Der ganze kleine Garten stand dicht bei dicht voll der beinahe mannshohen, braunen Mohnstengel, die man hier in der Gegend fast noch gar nicht kannte. Hier wurde Mohn nicht feldmäßig angebaut. Ron dachte daran, wie wunderbar es ausgesehen hatte, als er blühte, weiß mit hellvioletten Streifen daran. Sie hatte gezittert in der Angst, ihr verborgener Garten könnte doch jemandem auffallen und in die Augen stechen. Jetzt war diese Angst vorbei, heute ging’s an die Ernte.
„Erst kommst du aber mal rein, und frühstücken mußt du auch, komm, komm. Siehst du, das hier wird mal das Wohnzimmer —“ sie zog einen Schlüssel vorn aus ihrer Bluse, wo er an einem um den Hals laufenden Bindfaden hing, und öffnete ein Vorlegeschloß, das die einzige, heilgebliebene Tür abschloß. Wolf trat mit ihr ein: ein kleiner, durch die geschlossenen Läden dunkler, niedriger Raum, aber sauber, von allem Schutt befreit und, als sie jetzt die Läden aufstieß, von blaßgrünem Licht durchflutet, doch sehr heimlich, anheimelnd, auch wenn man ihn zufällig betreten und nicht selber mit sauerem Schweiß gereinigt hätte.
An der einen Wand lagen zweimal vier Ziegelsteine aufeinander und darüber ein Brett, eine Bank. In der Ecke ein Haufen duftendes Heu. Ron ließ ihren Rucksack auf den Boden gleiten und schnürte ihn auf. Sie warf einen großen, groben Sack auf das Heu — „da, leg dich drauf und ruh dich aus!“ — und kramte nach Brot und Messer. „Komm, der Marsch hat dich bestimmt hungrig gemacht.“
Das stimmte, Wolf war überhaupt immer hungrig, er aß soviel wie sie selbst — und sie hatte weiß Gott einen unheimlichen Appetit — und manchmal das Doppelte wie Christine. Ron fühlte sich immer bedrückt, wenn sie sah, mit wie wenig Christine auskam. Und sie wußte doch, Christine sei der Ansicht, daß Ron mehr essen müsse als sie selbst, Ron sei doch der Verdiener und leiste die schwere Arbeit und sei den ganzen Tag an der Luft. Gewiß, aber ... Auch jetzt biß sie nur mit schlechtem Gewissen in die dicke, trockne Schnitte, nachdem sie Wolf eine ebensogroße gegeben hatte. Aber sie war schon wieder wie ausgeleert vor Hunger. Das würde bestimmt besser, wenn sie nun Mohn bekamen, Mohn, Fett, Öl — etwas, was wirklich vorhielt.
„Vor acht fangen wir nicht an auf dem Feld, jetzt, wo es doch schon etwas später hell wird“, sagte sie kauend, „und ich brauche, wenn ich durchs Lindicht lauf, kaum eine Viertelstunde. Da hab’ ich also noch etwas Zeit. Wirst du aber auch wirklich keine Dummheiten machen, Wolf?“ fragte sie gleich darauf, von neuer Unruhe befallen. „Am besten, du schläfst erst ein bißchen — ach nein, doch lieber nicht. Setz dich raus auf die Schwelle und ruh dich dort aus —“ Es konnte eben doch möglich sein, daß noch jemand kam und in den Mohn einfiel. Sie schluckte das letzte Stück Brot ungekaut hinunter und ging hinaus. Wenn sie sich sehr eilte — Mohn ist ja so schnell gebrochen ...
Sie knickte probeweise ein paar Stengel, gleich oben, unterhalb der Kapsel. Aber sie waren zäh von der nebligen Luft und widerstanden ihrer Mühe, sie mußte ein Messer holen und schneiden; das dauerte viel länger. Seufzend ließ sie davon ab.
„Wenn dich jemand fragt, dann sag, deine Schwester kommt gleich zurück“, gebot sie dem Jungen und lächelte ihn ermunternd an. Sie merkte, daß sie ihm nicht noch mehr gute Ratschläge geben dürfte, wenn sie ihn nicht völlig kopfscheu machen wollte. Den ganzen Weg her hatte sie ihm schon vorgeredet, was er alles tun und was er um Gottes und Himmels willen nicht tun dürfe. Er war so ein Unglückswurm, ein Pfeifenheini, wie Ulla einmal gesagt hatte; Ulla fand die treffendsten Namen für alle Welt, und sie hingen fest wie Kletten. So sehr sie sich mühten, Christine und sie, den alten schönen Namen Wolf durchzusetzen, der erstens Vaters Name und zweitens von zwei Eltern und drei Schwestern liebevoll ausgesucht worden war, als endlich der ersehnte Erbe eintraf, immer wieder kam „Heini“ durch, weil Wolf eben ein solch unmöglicher Kerl war. Jetzt wieder stand er vor ihr, blaß und ängstlich und unmutig, und es fehlte nur noch, daß er den Finger in den Mund steckte und natschte, wie man zu Hause sagte.
In diesem Augenblick ging ein Sonnenblitz über das Haus hin, der Nebel war zerrissen, und das Gras blinkte auf im Schmuck seiner bestrahlten Tautropfen. Ron reckte sich. Selbstverständlich konnte der Junge hier eine Weile allein sein, es gab doch keine kinderschlachtenden Räuber mehr im Wald. Wenn sie immer so entsetzlich ängstlich mit dem Jungen waren, würde er zeitlebens ein Waschlappen bleiben. „Drüben am Waldrand gibt’s Brombeeren“, sagte sie frisch, „du kannst davon essen, soviel du willst, und mittags komm ich wieder.“
Sie schüttelte eine große Mohnkapsel in der Hand, dicht vor ihrem Ohr — wie Silber rieselte es darin. Lauter Mohn, dunkelblauer, fetter und haltbarer Mohn, etwas für den Winter, etwas zum Schlecken, etwas zum wirklich Sattwerden ...
Wolf war zum Waldrand hinübergegangen — nicht gelaufen, wie andere Jungen laufen, sondern vorsichtig wie ein Storch im Salat, des nassen Grases wegen. Ron war schon wieder nahe daran, sich über ihn und diese seine Art zu ärgern; sie ging noch einmal in den Wohnraum und suchte etwas in ihrem Rucksack. Während sie so stand und kramte, verdunkelte sich das Zimmer, sie sah auf und nach dem Fenster, von dem her der Schatten kam. Gleich darauf fühlte sie ihr Herz anspringen, sie wußte nicht, ob aus Schreck oder aus Freude.
„Ach, Matthias, Sie sind also doch noch gekommen, ich dachte —“
Sie ging hinaus. In dem winzigen Flur, der hinter der Haustür zwischen den beiden ebenerdigen Zimmern gelegen hatte und jetzt zur Hälfte „Balkon“ war, trafen sie sich.
„Ich habe den Jungen mit, aber ein großer Schutz ist er wohl nicht — ich dachte deshalb, ich könnte lieber jetzt schon — nur, der Mohn ist noch ganz klamm, man bekommt ihn ohne Messer nicht ab“, sagte sie und merkte selbst, daß sie allzuviel sprach aus Verlegenheit und dummer Scheu. Aber das kam daher, daß er ihre Hand so lange festhielt; man gibt doch die Hand nur kurz, kurz und kräftig, wenn man sie überhaupt gibt. Mit ihren Arbeitskollegen tauschte sie nie einen Händedruck, das war doch nicht nötig ... „Schutz, wogegen?“ fragte Matthias und lächelte ein bißchen. Sein Lächeln war immer so, daß es einem weh tat. Bitter? Spöttisch? Sie wandte sich ab.
„Gegen Mohndiebe selbstverständlich“, sagte sie deshalb rasch. Sie wußte genau, worauf er anspielte, und daß er recht hatte mit seiner Anspielung. „Aber wenn Sie dablieben bis mittags — wir gehen heute nachmittag sicher nicht mehr aufs Feld, weil Sonnabend ist —, dann wäre ich beruhigt. Aber wenn Sie etwas anderes vorhatten —?“
„Ich habe doch nie etwas anderes vor“, sagte Matthias langsam. Ron schluckte.
„Um so besser“, sagte sie hastig und etwas munterer, als ihr zumute war. Ach, immer, immer die Muntere spielen! Bei Christine mußte sie es, bei Wolf, bei dem Bauern, dem sie half. Sie war abgestempelt und in diese Rolle gedrängt, ob sie mochte oder nicht. Wenn es ihr einmal schlecht ging und sie gab das zu, dann war die gesamte Umwelt beleidigt — „Sie und schlecht? Nein, aber das paßt doch gar nicht zu Ihnen!“ Gut denn, spielte sie eben ...
„Haben Sie etwas zu essen mit? Ich denke, ich bringe ein Kochgeschirr voll Suppe von meinem Bauern mit, er gibt mir immer ganz anständig. Jetzt, wo wir Frühkartoffeln herausmachen, braten wir uns zum Frühstück immer welche in der Asche. Da bin ich gar nicht ausgehungert ... Ich wollte überhaupt mit Wolf heute hier übernachten, um den Mohn fertig zu bekommen.“
Er hatte sich auf die Schwelle gesetzt und stopfte seine kurze Pfeife. Sie sah auf ihn herunter, gut sah er aus, wenn er so saß, lässig und trotzdem wie auf dem Sprung, trotz seiner Magerkeit gut und männlich. Und etwas erholt hatte er sich auch schon. Als sie ihn kennen lernte, gleich nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft, war er viel, viel elender gewesen.
Sie verstand selbst nicht, daß seine Gegenwart sie mitunter so verwirrte. Nicht immer. Manchmal fühlte sie nichts als eine warme und herzliche Zuneigung zu ihm, dem ganz Alleinstehenden. — Wie reich war sie dagegen, sie, die noch drei Geschwister besaß. Dann aber wieder machte er sie schrecklich unsicher und verlegen, wenn er sie so ansah oder eben wie vorhin ihre Hand nicht loslassen wollte. Dumm. „Komm, Heini, sag guten Tag — Ja, das ist Wolf, von dem ich Ihnen schon erzählte“, sagte sie, „und das ist Onkel Matthias. Er will mit dir unsern Mohn hüten, bis ich wiederkomme — lieb von ihm, nicht? Und dann bring ich schöne warme Suppe für uns alle drei. Ich muß aber jetzt schleunigst weg, werdet ihr euch auch vertragen, ihr beiden Männer?“
Sie lief quer durch den Wald; es war sicher später, als sie angenommen hatte. Daß ihre Uhr kaputt war ... Es war auch auf dem Feld sehr unangenehm, nie zu wissen, wie spät es war. Und sie mußte sich auch noch umziehen.
Sie erreichte den Hof des Siedlers, bei dem sie arbeitete, in letzter Minute. Der Wagen stand schon angespannt. Husch ins Haus und hinauf in die Kammer, wo ihre Arbeitssachen lagen; eine alte Militärhose und ein kurzärmeliger, quergestreifter Baumwollpullover, den einmal eins der selten eintreffenden, dann aber um so beglückter begrüßten Amerikapakete gespendet hatte. Dazu besaß sie noch eine dunkle Uniformjacke, die von der Luftwaffe stammte. In der ersten, wildesten Zeit im Straßengraben gefunden, gewaschen und seitdem täglich benutzt, erst beim Enttrümmern und jetzt bei der Landarbeit. Im Augenblick hatte sie das karierte Dirndl aus- und ihr Räuberzivil angezogen, dann fegte sie die Treppe wieder hinunter und sprang hinten auf den eben anrollenden Wagen.
„Was machen wir denn heute?“
„Tabak“, beschied sie ihre Arbeitskollegin halblaut; der Bauer sagte nichts. Es gehörte wohl zum Wesen des Bauern, den Mund nur im Notfall aufzumachen. Ron hatte sich oft darüber geärgert, wenn sie bei einer ihr bis dahin unbekannten Arbeit fragte, wie man sie denn anfinge, und erst dann eine Antwort erhielt, wenn sie, auf Schweigen stoßend, die Handgriffe auf eigne Faust, aber verkehrt, begonnen hatte. Tabak. Ach nein, schön war das nicht, jedenfalls lange nicht so lustig wie Kartoffeln buddeln, und man konnte außerdem nicht wissen, ob es nun nur vormittags oder ganztags werden würde. Wenn man mittags draußen blieb, konnte sie nicht ins Lindicht laufen. Aber es war ja Sonnabend! Da war doch vielleicht nachmittags frei. Und selbst wenn sie blieb — Matthias würde sicher warten, auch wenn sie erst abends kam, und sie brauchte sich um Wolf nicht zu sorgen. Dann aber bekamen die Männer kein warmes Mittagessen, und das hatte sie ihnen doch eigentlich versprochen —
Ron hatte verschiedene Eigenschaften, von denen sie nicht lassen konnte und auch nicht lassen würde, selbst wenn sie unter Eskimos oder Kannibalen gefallen wäre. Dazu gehörte, daß sie gegebene Versprechen hielt. Aber, wie oft konnte man sie einfach nicht halten, weil man nicht Herr seiner Zeit war!
Nun, man würde ja sehen. Der Tabak stand groß und stolz mit riesigen, breiten Blättern, Elefantenohren, die zu ernten eigentlich ein Vergnügen war. Nur bekam man dabei so seltsam harzige, kohlschwarze Finger, die überhaupt nicht wieder sauber werden wollten, wenn man kein Benzin hatte, sie zu reinigen, und das hatte man selbstverständlich nicht. Ron arbeitete schweigend in ihren zwei Reihen, während ihre Gedanken spazierenliefen. Zuweilen brach sie eine dicke, saftige Saudistel ab, die sich zwischen dem Tabak angesiedelt hatte und legte sie an den Rand des Feldes, um sie nachher wieder zu finden. Dabei fiel ihr ein, daß sie heute vergessen hatte, nach Hans, ihrem Karnickel, zu sehen. Unglaublich. Dabei hatte sie Wolf auf dem Weg davon erzählt. Nun, vielleicht kümmerte sich Matthias darum.
Dieser Gedanke war ihr gleichzeitig tröstlich und unangenehm. Tröstlich, weil dann Hans zu seinem Futter kam und Wolf ein bißchen vergnügt wurde, wenn er das Tier streicheln und füttern konnte, — unangenehm, weil es ihr nicht paßte, daß Matthias ihr half. Es war natürlich nicht der Rede wert, wenn er einmal nach dem Häschen sah, und Ron, die in den letzten drei Jahren wahrhaftig oft genug hatte danke sagen müssen, mehr als Leute in einer normalen Zeit ihr ganzes Leben lang, hatte es auch gelernt, gern und herzlich zu danken. Bei Matthias aber war es etwas anderes, etwas ganz Vertracktes, gerade weil er eigentlich freundlich half, wenn er half.
Er half nicht viel, eigentlich gar nicht. Sie kannte ihn jetzt ungefähr ein Vierteljahr. Ja, es war Ende Mai gewesen, als sie ihn das erstemal traf. Und zu Anfang hatten sie sich nur zufällig und oft nur im Abstand von vielen Tagen gesehen.
Ron schichtete die Tabakblätter sorgsam, wenn auch geistesabwesend aufeinander, während sie mit „Ja“ und „Nein, wirklich?“ auf die Fragen der neben ihr arbeitenden älteren Frau einzugehen schien. Erst als sie hörte, daß der Tabak noch heute aufgefädelt werden müsse, wurde sie ganz wach. Also nichts mit freiem Sonnabendnachmittag. Nun, etwas Mohn würde sie wohl auch noch nach Feierabend brechen können, und hinüberspringen mußte sie mittags, das war ganz unbedingt nötig.
In der Frühstückspause lief sie umher und sammelte noch mehr Futter, und dann legte sie sich in die Sonne, die linke Armbeuge über dem Gesicht als Schutz vor der jetzt warm und freundlich strahlenden Sonne, und schlief trotz aller Sorgen sofort und tief ein. Das war das Herrliche an der Landarbeit, daß man so im Gleichmaß blieb. Man aß, man schlief, und wenn man aufwachte, sah alles wieder anders und besser aus. Es mußten doch Kräfte im Boden stecken, die sich einem mitteilten, ohne daß man etwas dazuzutun brauchte. Ron glaubte ganz fest, daß dieses Schlafen in der Ackerfurche einen stark mache. Nie, nie war sie beim Enttrümmern so ruhig und beruhigt eingeschlafen wie hier jeden Tag, vormittags und nachmittags, wenn die ersehnte und nie ausbleibende Arbeitspause geboten wurde ...