Читать книгу Die Haimonskinder - Lise Gast - Страница 6
ОглавлениеDer Tag war strahlend geworden und verschwamm jetzt in einen mattgoldenen Abend, als Ron die wacklige Treppe vom Oberboden herabgeklettert kam und in den Hof hinaustrat. Endlich! Es war bestimmt schon sechs durch. Sie hatten Tabak gefädelt. Er durfte nicht liegenbleiben, sonst wurde er heiß; jetzt hing er da oben an langen Fäden und konnte trocknen. Es war eine häßliche Arbeit, aber sie mußte sein. Jetzt nur schnell umziehen und fort. Sie war mittags nur auf einen Sprung im Chausseehaus gewesen und wußte nicht, ob Matthias noch dort war; sie hoffte es, er hatte es aber nicht versprochen. Vielleicht fürchtete sich Wolf doch ein bißchen, wenn er allein war. Ron fuhr schnell in ihr Dirndl und packte die Arbeitskluft unter den Arm. Nur fort, nur hinüber.
Auf der Dorfstraße traf sie Frau Struve, eine rundliche, blonde, immer freundliche Frau, bei der es manchmal etwas Magermilch gab, ohne daß Ron darum zu bitten brauchte. Sie hatte vom Schicksal der vier Haimonskinder gehört. Auch jetzt winkte sie ihr. Ron hielt inne und folgte ihr ins Haus. Wirklich bekam sie eine halbe Kanne voll. Sie strahlte.
„Nein, nichts zu danken, ich wollte nur fragen — könnten Sie morgen dreschen helfen?“ fragte Frau Struve freundlich. „Wir haben zu wenig Leute; Sie könnten gern mitessen, und ein paar Körner bekämen Sie auch dafür —“
„Natürlich, Frau Struve, gern — wann fangen wir denn an?“ fragte Ron, obwohl sie ja eigentlich für morgen genug Arbeit vorhatte. Aber Dreschen, und Körner, sie hätte auch zugesagt, wenn es nicht Frau Struve gewesen wäre. Dreschen brachte immer etwas ein, wenn es auch eine schreckliche Schinderei war.
„Von sieben an, aber höchstens bis eins; es ist nur der Weizen“, sagte Frau Struve und schob ihr noch ein halbes Brot unter den Arm, „nein, nehmen Sie nur, Sie bekommen morgen trotzdem noch was. Es ist eilig dies Jahr, weil wir sofort abliefern müssen —“ Sie standen zusammen im Hof, wo der Trecker eben die Maschine hereinschleppte, puffend und zitternd, begleitet vom Rufen und Schimpfen der Männer. Am Tor stand ein großer Junge, den Ron nicht kannte, er war schlank und trug eine abgewetzte, viel zu kurze Manchesterhose zu einem weißen Hemd; seine Haare waren dunkel und nach hinten gekämmt, nicht lockig, aber doch etwas gewellt. Frau Struve sah auch nach ihm hin.
„Anders will auch mithelfen, er ist heute erst nach Hause gekommen“, erzählte sie, „ja, Anders Wiemann, der Sohn vom Pastor — Sie kennen ihn noch nicht? So ein netter und gefälliger Junge —“
„Ich muß fort, Frau Struve“, sagte Ron und blieb noch einen Augenblick stehen. Vielleicht kam der junge Mann herüber um sie beide zu begrüßen; er sah so nett aus. Wirklich, er tat es. Er lächelte, während er ihr die Hand gab. Sie wechselten ein paar nichtssagende Worte, und er hob ihr das zusammengeballte Arbeitszeug auf, das ihr unter dem Arm weggerutscht war, als sie sich von Frau Struve verabschiedete. Sie hatte ja noch Milchkanne und Brot zu tragen.
„Danke, sehr freundlich — nein, ich kann es nicht hierlassen, Frau Struve, ich habe heute abend noch allerlei vor. Das heißt, beim Mohnschneiden macht man sich ja nicht schmutzig. Aber ich brauch es doch.“ Sie überlegte sich, daß sie es in der Nacht zum Zudecken nehmen könnte, wenn Wolf etwa fröre. Dabei ärgerte sie sich, daß sie so dumm daherquatschte. Trotzdem war sie froh und beschwingt, als sie über den Feldweg davonlief, im Trabe, um die vertrödelte Zeit wieder einzuholen. Vorhin war sie müde und zerschlagen gewesen, jetzt lief sie und spürte die Beine nicht. Wirklich nett sah er aus, dieser Anders, und es tat so gut, wieder einmal mit einem Menschen zu sprechen, der nicht diesen fürchterlichen, breiten und verschwommenen Dialekt der Gegend sprach.
Tatsächlich, Matthias war noch da, und er schien sich mit Wolf sehr angefreundet zu haben. Sie hatten aus ein paar Brettern eine Art Karnickelbucht zusammengesetzt und Hans hineingetan — nun saß dieser vergnügt im Grase und wackelte mit seinen langen Ohren. Wolf sah gar nicht auf, als sie kam, so beschäftigt war er mit dem Tier; es würde wohl heiße Tränen geben, wenn sie es schlachten mußten, überlegte sie sich. Aber man konnte es vielleicht heimlich tun und den Kleinen sagen, Hans wäre verschenkt worden ...
„Ja, schön, daß Sie noch da sind, Matthias, nun müssen wir aber erst was essen“, sagte sie munter, „ich habe Brot und Milch. Nein, kommt überhaupt nicht in Frage, daß Sie jetzt gehen —“
Es wäre ihr im Grunde lieber gewesen, er wäre gegangen. Aber das war natürlich ausgeschlossen, jetzt, nachdem er ihr den ganzen Tag über den Mohn und den Jungen und nun auch noch das Karnickel gehütet hatte. Sie setzten sich neben Wolf ins Gras, und Ron bat sich Matthias’ Messer aus. Wolf strahlte, als er eine Schnitte nach der andern bekam, er strahlte eigentlich nur beim Essen. Er war solch unzufriedenes und schwieriges Kind, und, wenn man ehrlich war, eigentlich immer schlechter Laune.
Natürlich konnte das an der schlechten und einseitigen Ernährung liegen. An Kalkmangel, Mangel an Vitaminen und ähnlichem — Ron sagte sich das, um sich selbst zu trösten, ohne es wirklich ganz zu glauben. Schließlich war sie beispielsweise ja auch schlecht ernährt und nie muffig. Und auch sonst lag es weiß Gott nicht in der Familie. Vater war heiter und gütig gewesen. Ja, gütig, das war das Wort, das auf ihn paßte. Und Mutter tätig und fröhlich, von einer herzhaften und gesunden Weltläufigkeit. Das Stille und Besinnliche hatte Christine von der Großmutter, auf die sie sich beide noch gut besannen, und Ulla war ganz die Mutter, unbedenklich und einfach. Wem sie, Ron nachschlug, wußte sie selbst nicht, aber daß jemand in der Familie so bedauerlich veranlagt gewesen wäre wie Wolf, das hatte sie nie gehört. Vielleicht gab es sich noch mit der Zeit; vielleicht kam es auch daher, daß er eben der jüngste und der langersehnte Sohn war, dem alle stets und immer den Willen getan hatten, alles Gute aufgehoben, alle Steine aus dem Weg geräumt: nun hatte man das Produkt. Übrigens schien er sich mit Matthias gut verstanden zu haben; überhaupt war er, wenn man sich einmal Zeit für ihn nahm und ihn allein hatte, wesentlich erträglicher als sonst. „Ist’s fein hier, Heini?“ fragte sie kauend und freute sich, als er nickte. „Kommst du wieder mal mit raus? Aber heute abend müssen wir noch schrecklich fleißig sein, du und ich —“
„Und ich? Ich nicht?“ fragte Matthias etwas spöttisch. Ron wurde rot.
„Ich dachte, Sie wollten — es wäre natürlich schön, wenn Sie uns hülfen“, setzte sie rasch hinzu. „Aber ich kann doch nicht immerfort —“ Sie stockte. Er merkte es sofort.
„Was heißt immerfort. Haben Sie noch einen Dolch im Gewande?“
„Nein, natürlich nicht, ich bin doch so froh, daß Sie heute da waren. Es ist nur — ich hab’ versprochen, morgen bei Struves mitzudreschen.“
„Sie werden sich noch eines Tages kaputt machen“, sagte Matthias leise. Es klang diesmal gar nicht spöttisch, sondern warm und wirklich herzlich. Ron war erstaunt, und es tat ihr gut. Etwas wie Achtung, ja, wie Hochachtung klang aus den Worten.
„Wenn wir heute abend den Mohn fertig brechen, kann ich gut gehen“, sagte sie dankbar, „nein wirklich, ich kann. Aufschneiden und ausschütten ist doch eine Erholung —“
„Dann werden Sie sich morgen dieser Erholung hingeben, und ich werde für Sie dreschen“, sagte Matthias jetzt und legte die Hand auf ihren Arm. „Keine Widerrede, Fräulein Ron, ich tue es gern. Dreschen ist doch Männerarbeit.“
„Aber wieso denn — alle Arbeitsfrauen bei uns dreschen mit, und es gibt doch dabei auch leichte Sachen; Spreu wegtragen oder aufschneiden oben auf der Maschine oder — nein, nein, ich gehe selbst“, sagte Ron rasch und verwirrt. Es war das erstemal, daß Matthias ihr so etwas anbot, und es war ihr peinlich, gerade jetzt, wo er den ganzen Tag für sie geopfert hatte. „Und ich bekomme auch etwas. Frau Struve versprach es mir. Ich kann Sie doch nicht einfach für mich hinschicken“, stolperte es aus ihr heraus.
Matthias sah sie prüfend an, dann senkte er die Augen. Ron ärgerte sich über seinen Blick, es war, als habe er etwas gesehen, was sie selbst nicht sehen wollte.
„Klar geh ich selber“, sagte sie, stand auf und schüttelte ihr Kleid zurecht. „Und jetzt wird der Mohn fertiggemacht. Komm, Heini, ist gar nicht schwer. Sieh mal, wie schön trocken er ist, er bricht sich ganz von alleine, wir brauchen kein Messer. Wieviel meinen Sie, daß wir herausbekommen?“
Sie arbeiteten nebeneinander, jeder vier Reihen, wie auf dem Feld. Ron plauderte und lachte ununterbrochen, es war ja kein Wunder, daß sie gute Laune hatte, sonnabends und bei einer so schönen, eigenen Erntearbeit!
„Ich bekomm morgen wieder Essen“, erzählte Ron strahlend, „und von unserm Brot ist auch noch was da. Am liebsten würde ich noch einen Mohnkuchen backen, als Erntedankfestkuchen — aber wo? Können Sie nicht morgen noch schnell einen Backofen bauen?“ fragte sie Matthias.
„Viel verlangt, aber ich habe —“ Er machte ein geheimnisvolles Gesicht. Sie wurde aufmerksam.
„Was haben Sie?“
„Ich habe was mit — ich wußte doch nicht, daß Sie uns so überreichlich mit Essen versorgen werden, da dachte ich —“
„Na?“ drängte sie gespannt.
„Ich hab’ Nudeln mit, es sind graue, wie man sie jetzt auf „Nährmittel“ bekommt, Sie wissen ja. Eigentlich wollte ich sie heute kochen, aber — wenn wir sie morgen in meinem Kochgeschirr kochen und essen Mohnsoße dazu — mit Milch —“
„Wunderbar!“ rief Ron entzückt, „fehlt uns nur der Zucker. Aber den bettle ich bei Frau Struve heraus — und dann essen wir das als Nachtisch nach dem Dreschmenu. Na, wird das ein Sonntag? Freust du dich, Heini?“
Der Kleine nickte. Er hatte eine von Ullas Schürzen um, die Ron ihm mit beiden Zipfeln hochgebunden hatte, und sammelte eifrig Mohnköpfe darein. Wenn man ihn helfen ließ, war er am nettesten. Ron freute sich eine Minute lang an seinem jetzt gar nicht mehr so blassen Gesicht, das im Grunde ganz hübsch gewesen wäre, nur leider wurde es durch große, blasse und etwas abstehende Ohren — Krautblätter nannte Ulla sie und brachte ihn damit zu Wuttränen — ziemlich entstellt. Und in ihrer Herzensfröhlichkeit begann sie vor sich hinzusingen.
Es war ein altes Wanderlied, mit einer leichten, eigentlich leichtsinnigen Melodie, nichts Besonderes, aber gerade das, was jetzt zu ihrem Sinn paßte. Erst als sie zum Kehrreim kam, ging ihr auf, warum ihr gerade dies Lied eingefallen war.
„Und im Sommer da blüht der rote, rote Mohn, Und ein lustiges Blut kommt überall davon, Schätzel ade, ade —“
Schon beim zweitenmal sang Wolf mit, er war sehr musikalisch. Das war eigentlich die einzige, wirklich positive Eigenschaft von ihm. Seine Stimme war klar und er sang wirklich rein, sie hatte das schon beobachtet, wenn er als ganz kleiner Kerl auf seinem Thrönchen saß und selbstvergessen vor sich hinsang, meist ein einziges Wort als Text benützend. So erinnerte sie sich noch, wie er als Anderthalbjähriger das Wort „Klavier“, das er soeben gelernt hatte, durch einen ganzen Vers „Geh aus mein Herz und suche Freud’“ hindurchgesungen hatte — gerade bei solch einer Sitzung. Sie hatten so darüber gelacht, als sie es den Eltern erzählte.
„Nochmal von vorn, Heini“, sagte sie jetzt, als sie merkte, daß er die Melodie erfaßt hatte, — „los, ich sing die zweite. Und morgen da müssen wir wandern —“
„Gefällt Ihnen das Lied so?“ fragte Matthias, als sie beide nebeneinanderstanden beim Ausleeren der Mohnkapseln. Ron sah erstaunt auf, sie hatte für eine Viertelstunde alles andere vergessen gehabt unter diesem leichten, sommerseligen und glücklichen Daseinsgefühl.
„Ja, ich mag es gern“, sagte sie jetzt, „ist etwas damit?“
„Würde es Ihnen so leicht fallen, von einem Schätzel zum andern zu wandern?“ fragte er verhalten. Sie hatte das Gefühl, als wische eine graue Hand über ihre rosenrote Stimmung.
„Ach wo“, sagte sie, „das ist doch nur ein Lied. Und Lieder sind — nun ja, es gibt so komische Texte, grade bei Volksliedern. Man singt sie aus einer Stimmung heraus. Wir können aber auch gern ein anderes singen, Wolf kann schon eine Menge“, sagte sie dann, absichtlich ablenkend. Sie hatte wahrhaftig heute genug von seinen Anspielungen. „Kennen Sie: ‚Wohlauf in Gottes schöne Welt?‘ Das brachte Ulla neulich mit.“
Sie sangen es. Ron die zweite, Wolf allein und ganz sicher die erste Stimme. Es wirkte, wie oftmals, ausgleichend, beruhigend. Zum Schluß brummte Matthias auch mit. Und dann hatten sie, als es so dunkel war, daß man kaum noch etwas sehen konnte, tatsächlich die „Ernte“ bewältigt. Ein tüchtiger Sack war voll. Ron hob ihn schätzend mit einem stolzen und glücklichen Gesicht an.
„Jetzt aber schleunigst ins Körbchen, Heini!“
Der Junge war todmüde, hätte das aber nie zugegeben. Sie schenkten sich das Waschen und packten ihn auf den Heuhaufen, mit einer Decke als Unterlage und einer als Zudecke. „Ich tu dann auch noch mein Arbeitszeug dazu, und außerdem kann ich ihn ja wärmen“, sagte Ron, als Matthias etwas zweifelnd fragte, ob das genügen sollte. „Es geht schon mal, die eine Nacht ...“
Sie hatten auf der Flucht ganz andere Nächte zugebracht, auf Bahnsteigen, durch deren zertrümmerte Dächer es regnete und schneite — und damals war Wolf ja außerdem noch viel jünger gewesen. „Schlaf nur schnell, sonst wirst du bis morgen nicht fertig damit.“
Sie ging noch mit Matthias hinaus, um sich zu verabschieden — es war jetzt ganz dunkel. Sollte sie fragen, ob er morgen wiederkäme? Eigentlich hatte er es ja als selbstverständlich hingestellt.
„Gute Nacht, und Dank für heute“, sagte sie deshalb nur schnell, sie brachte es so frisch wie möglich heraus und schüttelte ihm die Hand kräftig. Er hatte den Kopf gesenkt, beinahe — aber nein, so verrückt würde er doch wohl nicht sein, daß er ihr einen Handkuß hatte geben wollen, ihr, die tagsüber beim Bauern die geringste Arbeit tat, Kartoffeln grub oder Mist streute. Ja, auch beim Miststreuen war sie dabei gewesen, Anfang des Jahres.
„Gut nach Hause“, rief sie ihm noch nach, drehte sich dann hastig um und klappte die Tür hinter sich zu. Wolf war noch wach. Sie kroch neben ihn zwischen die Decken und nahm ihn dicht an sich heran. Gut, daß er da war, der kleine Unglücksrabe, das arme Wurm, — gut, daß morgen —
Im selben Augenblick fielen ihr auch schon die müden Augen zu.