Читать книгу Die Haimonskinder - Lise Gast - Страница 8
ОглавлениеAber ich kann doch nicht so —“ sagte Ron. Ich werde wahrhaftig rot, dachte sie und ärgerte sich darüber. Sie sah an sich herunter, an der mitgenommenen Uniformhose mit dem verblichenen Pullover darüber, der, quergestreift, wie eine Sträflingsjacke aussah. „Sing-Sing“, nannte ihn Christine, wenn sie ihn wusch. „Ich seh doch aus wie —“ sie schwieg. Denn in diesem Augenblick fühlte sie, was jede junge Frau mitunter und mit untrüglicher Sicherheit fühlt, daß sie trotz ihrer Aufmachung in diesem Augenblick hübsch aussah, hübsch, was bei ihr im Grunde selten vorkam. Hübsch war in der Familie eigentlich nur Christine, Christine mit dem sanften und feinen Profil, mit dem hellen, ganz glatten Haar und den stillen Augen. Ulla war zum Hübschsein viel zu zerzaust, und Wolf — ach nein, ihn drückte die Schönheit auch nicht. Ron hatte sich nie viel Gedanken um ihre Schönheit gemacht, jetzt aber, unter Anders’ so herzlichem Blick, fühlte sie plötzlich, daß sie hübsch aussah, braun und kräftig und blühend, und daß es ihr stand, so im Räuberzivil zu sein, mit dem feuerroten Kopftuch über dem zerwehten Haar.
„Natürlich können Sie“, sagte er vergnügt, „ich habe Vater schon vorbereitet. Ich hab’ ihm gesagt, es kommt ein ganz besonderer Gast.“
Sie hatten in der Frühstückspause ein bißchen zusammen geschwatzt. Ron hatte sich bedankt für die Lebensrettung — ja, es wäre tatsächlich eine gewesen, denn wenn er nicht gekommen wäre, hätte sie sich bestimmt in die Maschine gestürzt; sie wäre schon nahe daran gewesen. Sie hatten im Hof auf der niedrigen Bank am Waschküchenfenster gesessen und ihre Schnitten gegessen. Anders beobachtete, daß Ron nur eine aß, ganz langsam, während sie die zwei andern neben sich auf der Bank liegen hatte. Als sie die Schnitten schließlich — er selbst sollte es wohl nicht merken, aber er achtete darauf — langsam in die ihm abgewandte Hosentasche stecken wollte, sagte er plötzlich — und da war es, als wäre er nicht zwei, sondern zehn Jahre älter als sie, denn er sagte es zwar lustig und wie im Spaß, aber sie fühlte seinen Ernst darunter sehr deutlich: „Essen Sie mal sofort die Schnitten selbst, Sie haben ja heute früh sowieso noch nichts im Magen.“
„Sind Sie Arzt — oder Gedankenleser?“ fragte Ron, wurde aber doch rot dabei.
„Ja, oder doch ein bißchen von beidem — jedenfalls möchte ich so etwas werden“, sagte er, und sein Gesicht beschattete sich ein wenig, „darüber müssen wir einmal sprechen, Sie und ich. Wenn Sie mögen, heißt das. Ja, essen Sie nun mal sofort weiter, bitte, ja? Ich verspreche Ihnen, daß Sie es nicht bereuen werden.“ „O nein, gut tun wird es mir sicher“, sagte Ron, ein bißchen beschämt, aber doch dankbar — es war kaum zu glauben, wie so ein richtiger Hunger einen um alle noch so guten Vorsätze bringen konnte. Ron konnte sehr schlecht hungern, sie wurde dann sofort matt. Kälte, Arbeit, wenig Schlaf, das alles machte ihr nichts aus oder doch wenig, aber Hunger — ohne Benzin fährt eben kein Auto, sagte sie sich dann immer zum Trost. Ihr wurde auch tatsächlich besser, als sie jetzt, gehorsam, die beiden dickgeschmierten Schnitten verzehrte. Sie hatte sie Wolf und Matthias mitnehmen wollen.
„Sie kommen trotzdem nicht leer nach Hause“, sagte Anders in diesem Augenblick, als habe er tatsächlich ihre Gedanken gelesen, „fragen Sie nur nicht gleich weiter. Ich esse meine ja auch!“ Er lachte. Sie unterhielten sich weiter, bis er plötzlich, noch ehe die Frühstückspause zu Ende war, behauptete, er habe noch rasch etwas zu erledigen, und fortging. Ron sah ihm ein bißchen bedauernd nach.
Und nun stand er vor ihr, gerade als sie ihr Mittagessen gefaßt hatte, einen großen Hängpott voll fetter, gelber, herrlicher Nudelsuppe mit „was drin“. Ein kleiner Schalk saß in seinen Augen, sie sah es genau. Er hatte bis zu diesem Moment gewartet mit seiner Einladung. „Könnten Sie nicht, ich meine, wenn Sie nun bei uns zu Mittag essen, ja, Großmutter rechnet mit Ihnen, ich sag es Ihnen ja, hätten Sie niemanden, dem Sie das Essen hier mitnehmen könnten?“ Er sagte es so nett und lachte dabei. Auch Frau Struve mußte lachen. Und da lachte Ron erleichtert mit — nun dachte Frau Struve also nicht, daß es ein abgekartetes Spiel sei. Sie lachten alle drei, und die rührende runde kleine Frau lief geschwind noch einmal ins Haus und kam mit einer weißen Bluse wieder.
„Da, Fräulein Ron, die wird Ihnen schon passen. Einen Rock kann ich Ihnen nicht dazu geben, er würde Ihnen bestimmt nicht passen —“ sie lachte und klopfte sich auf die runden Hüften.
„Aber die Hose sieht man ja nicht, wenn Sie am Tisch sitzen, und guten Appetit!“
Sie winkte den beiden nach. Anders hatte Ron den Suppentopf abgenommen und trug ihn vorsichtig und sorglich. Es sah ein bißchen komisch aus bei dem großen Jungen und auch ein wenig rührend. Ron ging neben ihm her, die Bluse in der herabhängenden Hand schlenkernd, fast so groß wie er und breitschultrig mit schmalen Hüften, die man auch in der alten und häßlichen Hose gut erkennen konnte. Frau Struve lächelte. Schreckliche Zeiten kommen, Kriege fegen über das Land und entlauben es, Brände legen Städte und Dörfer in Asche, Hunger und Typhus gehen um. Aber mitten aus dem Schutt blüht ein Holunder, und darauf singt ein Vogel, und durch die wildesten und dunkelsten Zeiten gehen zwei junge Menschen, die sich am Tag zuvor noch nie gesehen hatten, und merken nichts von all den Verheerungen um sie her, weil sie selber jung sind wie ein blühender Baum und voller Fröhlichkeit und Sorgenferne wie ein Vogel —
Es muß hier gesagt werden, daß Frau Struve mit ihrem freundlichen Herzen und ihren poetischen Anwandlungen — sie las im Winter mitunter ein Buch, jedenfalls Sonntags — — nicht ganz ins Schwarze traf, wie das manchmal vorkommt. Ron und Anders waren an diesem sonnigen Sonntag zwar jung und froh, aber so ohne Sorgen, wie das von außen schien, waren sie nicht. Ron dachte: ‚Verflixt, wie kommst du in die Bluse hinein, du kannst doch einen dir gestern noch völlig fremden Mann, dessen Eltern dich freundlicherweise zum Essen aufgefordert haben, nicht als erstes nach dem stillsten Gemach dieses gastfreien Hauses fragen. Du hättest diese Verschönerung deines Äußeren bei Struves vornehmen sollen; aber dort warst du aus irgendwelchen Gründen anscheinend geistig umnachtet und nicht voll zurechnungsfähig. Auf deutsch: du hast dich saublöde benommen, und nun ist’s zu spät. Aber den „Sing-Sing“ kannst du unmöglich an die pfarrherrliche Tafel bringen — was also tun?‘
Ja, und Anders, der von diesen Beklemmungen seiner Begleiterin nichts ahnte, dachte seinerseits: ‚Schrecklich nett von Großmutter, daß sie mir das vorschlug. Aber der Himmel gebe, daß sie heute mal nicht Jungchen zu Vater und Schnuck zu mir sagt. Sie wird es zweifellos doch tun. Und das nette Mädel da neben mir wird sich darüber erheitern oder gar mokieren, und es wird nicht merken, wie schwer in Ordnung meine alten Herrschaften im Grunde sind.‘ Es ging steil hinauf zur Pfarre, so steil, daß man abwärts mit dem Rad nicht fahren konnte, sondern absteigen mußte. Anders erzählte davon. Und dann ging es ein Stückchen zwischen Kirche und Lehrerhaus geradeaus. Über dem Gartenpförtchen wölbte ein Tausendblütiger Apfelbaum seine Zweige. Ron erkannte ihn sofort als solchen und vergaß für einen Augenblick ihren Kummer.
„Genau wie zu Hause. Das muß im Frühling eine Pracht sein. Sonst sieht man diese Bäume gar nicht mehr, das müßte Christine sehen, oder Ulla. Meine Schwestern, wissen Sie, sie sind beide jünger als ich. Doch wir haben auch noch einen Bruder, einen kleinen; aber der macht sich aus Apfelbäumen nur etwas, wenn sie tüchtig tragen, und das kann man ja von so einem nicht erwarten.“
Sie traten ein, Anders zog das Türchen hinter sich zu. „Ich dachte mir gleich, daß Sie Geschwister haben“, sagte er leise, und Ron fragte ein bißchen scheu, als er abbrach:
„Sie nicht?“
Er schüttelte den Kopf. Und dann traten sie miteinander in den fliesenbelegten, hellen Flur des Pfarrhauses, beide, ohne das ausgesprochen zu haben, was sie bedrückte.
Es dauerte noch einen Augenblick bis zum Essen, und so konnte sich Ron im Wohnzimmer umsehen. „Es ist unser einziger Raum tagsüber, wir haben, noch drei Flüchtlingsfamilien im Haus“, hatte Anders gesagt, als sie eintraten. Ron nickte. Natürlich. Trotzdem fand sie vom allerersten Augenblick an das Zimmer großartig. Es war wie ein Mensch, dem man sofort gut sein muß, vielleicht, weil er einen halb unbewußt an einen andern sehr lieben Menschen erinnert.
Es war ein großer, niedriger, langgestreckter Raum, und man sah sofort, daß er mehreren Zwecken dienen mußte, aber das störte in keiner Weise. Wohn-, Eß- und Studierstube, Musikzimmer und Arbeitsraum für die Hausfrau: gutgelaunt ist dies alles zu vereinigen. Besonders gut gefiel Ron die eine Ecke; sie war durch das Klavier, das mit der Schmalseite an der südlichen Fensterwand stand, an einer Seite, durch einen niedrigen Tisch von der Zimmermitte her, abgeteilt. Das Klavier war an der Rückwand mit grünem Rupfen bespannt und mit ein paar hübschen Bildern behängt, und auf dem Klavier, auf dem Tischchen und der Fensterbank grünte und blühte es von Zimmerpflanzen, so daß der Pfarrer, der dort zweifellos an dem runden, polierten Tisch seine Predigten schrieb, ganz im Grünen saß, den Blick durch das Fenster hindurch übers Dorf hinweg nach den sanftblauen Höhen jenseits des Waldes gerichtet ...
„Hier muß man wundervoll arbeiten können“, sagte Ron tiefatmend, „hier möchte ich gleich sitzen.“ „Ja?“ fragte Anders lächelnd. Da aber entdeckte sie die Ofenecke und geriet in ein noch größeres Entzücken.
Ein Ofen — welchem Menschen unserer Zeit ist dies noch etwas anderes als ein notwendiges Übel, das Platz wegnimmt und im Sommer von rechtswegen hinausgeworfen gehörte, im Winter eigentlich auch, denn in ein ordentliches Haus gehört Zentralheizung. Dieser Ofen aber war etwas anderes, er war sozusagen die Seele des Zimmers. Ron hatte noch nie einen solchen gesehen.
Er war breit wie ein indisches Grabmal, jedenfalls wie sie sich ein solches dachte, behäbig wie eine Matrone und braun wie ein Bunzlauer Topf. In halber Höhe verjüngte er sich, so daß dort ein Sims herumlief, und seine Kacheln hatten ihre Entstehung keiner Fabrik zu verdanken, das war jedem Laien klar. Sie waren quadratisch, nach innen gewölbt und trugen in der Mitte einen knallblauen Klecks. Schon um dieser Kleckse willen mußte man sich in den Ofen verlieben. Und erst recht wegen der Bank, die um ihn herumlief, weißgescheuert, durch jahrzehntelangen Gebrauch abgewetzt und mit ein paar bunten Kissen belegt.
„Nein, so was Nettes. Meinen Sie, daß man das lernen könnte? Ich meine, solch einen Ofen zu mauern, oder wird so etwas nicht mehr hergestellt heutzutage?“ fragt Ron voller Eifer. Sie sah im Geiste ihr kleines Chausseehaus vor sich. Natürlich, viel Platz wegnehmen tat solch ein Ding, aber wie schrecklich gemütlich mußte es sein! Diese eisernen Öfen, die nur solange wärmten, wie man sie füttert, und gefährlich waren sie auch, wenn man die Kinder alleinlassen mußte. Dagegen solch ein Dickbatz, der hielt die Wärme wohl den ganzen Tag und noch die Nacht dazu. Und wenn er einmal zugeschraubt war, konnte nichts passieren.
„Wollen Sie Ofensetzer werden?“ fragte Anders lächelnd, aber Ron kam gar nicht dazu, zu bemerken, daß er sie in diesem Augenblick ansah wie ein Erwachsener ein Kind; sehr, sehr liebevoll, aber auch ein klein wenig belustigt.
„Nein, das heißt, ja, jetzt am liebsten. Eigentlich kann das doch gar nicht so schwer sein, wenn man überhaupt mauern kann“, sagte sie. „Und mauern kann ich schon, ich habe es schon getan, nach Feierabend, ja, und nicht nur einmal. Es ist wirklich nicht so schwer, wie es immer heißt. Jeder Handwerker tut immer, als wäre das seine das schwierigste, und es ist ja im Grunde schön, daß er das tut, denn er meint eben, man müsse es richtig machen, und das finde ich in Ordnung. Nur keine Pfuscharbeit; ja, aber sehen Sie, um solch einen Ofen zu setzen, muß man sicher ganz firm sein im Handwerk — und mindestens drei Jahre gelernt haben, wenn das überhaupt reicht.“
„Nun, ihr jungen Scheunendrescher, habt ihr auch einen entsprechenden Hunger mitgebracht?“ fragte es in diesem Augenblick hinter ihnen, und Ron konnte gleich Anders’ Großmutter begrüßen, die eine große Suppenterrine auf den Tisch gestellt hatte und ihr jetzt die Hand schüttelte — kräftig wie ein Mann. Großmütterlich war an dieser Frau eigentlich nur das Haar, das grauweiß in lauter Locken um das frische und rotbackige Gesicht lag. Ron hatte mit dem Begriff Großmutter bisher immer etwas Stilles, Abgeklärtes verbunden, eben das, was ihre Großmutter gekennzeichnet hatte. Diese Großmutter hier schien noch mitten im Leben und keineswegs darüber zu stehen, so tatkräftig und sprühend wie sie war.
Gleich darauf kam auch Anders’ Vater, und sie setzten sich. Es gab eine wundervolle Suppe, und Großmutter Wiemann füllte den jungen Leuten unaufgefordert immer wieder auf: „Es kommt noch was nach, aber erst muß die Terrine leer sein!“
Ron hatte ganz vergessen, daß sie ihren „Sing-Sing“ noch trug — sie war gar nicht dazugekommen, sich deshalb zu entschuldigen. Und Anders stellte aufatmend fest, daß Ron in keiner Weise zusammenzuckte oder ein Lächeln verbiß, als Großmutter die ihm sonst vor Fremden recht peinlichen Kosenamen seinem Vater und ihm gegenüber gebrauchte. Ron verstand wie mit einem sechsten Sinn dies Zimmer und seine Bewohner. Anders fühlte eine aufschießende Freude, die ihm völlig neu war; und er wurde, entgegen seiner sonstigen Art, beinahe gesprächig. Es war ein wunderbares Mittagessen, eins, wie es Ron lange, lange nicht genossen hatte.
„Nicht nur wegen der Suppe und der Äpfel im Schlafrock, genau so machte sie unsere Mutter“, beteuerte sie am Schluß, „sondern überhaupt. Ein gedeckter Tisch — und Blumen darauf, und das alte Geschirr.“ Es war das Strohhalmmuster, das sie auch zu Hause gehabt hatten, für den täglichen Gebrauch. „Wir tun wochentags auch keine Decke auf“, sagte Frau Wiemann in herzlich tröstendem Ton, „aber bei so nettem Besuch — und überhaupt, wenn der Schnuck da ist, ist bei uns Feiertag. So, aber jetzt mach’ ich meinen Sonntagsnicker, und wer mich stört, auf den wird scharf geschossen. Sind Sie um vier noch da, Fräulein Haimon? Da gibt’s Kaffee und sogar Kuchen, aber erst —“
„O nein, vielen vielen Dank“, sagte Ron und erinnerte sich erschrocken der anderen Welt, die ja doch die ihre war. Dies hier war eine frühere, eine für sie versunkene. „Ich muß zu meinem kleinen Bruder, schleunigst, bitte mir nicht übelzunehmen.“
Sie erzählte. Frau Wiemann nickte ihr zu.
„Also nehmen Sie den Kuchen mit. Nein, keine Widerrede, was ich sage, wird getan. Sorg dafür, Schnuck, verstehst du? Und wenn nicht heute, sehen wir Sie vielleicht ein andermal wieder, Fräulein Ron? Es würde mich freuen!“
Eine Viertelstunde später lief Ron mit langen Schritten und brennenden Backen dem Lindicht zu. Sie mußte immer wieder bremsen und sich in ein gesittetes Tempo zwingen, damit sie die inzwischen kalt gewordene Struvesche Suppe nicht verschüttete, aber es fiel ihr schwer. Wenn jetzt Matthias einigermaßen vernünftig war und nicht solche seltsame Anwandlungen bekam, wie manchmal, und wenn Wolf inzwischen nicht auf die Nase gefallen oder sonstwie verunglückt war, und wenn — ach, tausend, tausend Wenn’s. Aber sie konnten doch einmal wirklich eintreffen, diese tausend Wenn’s, und dann, ja, dann war es heute ein wirklich schöner Sonntag. Um dieselbe Zeit, in der Ron am Samstag abend so fröhlich und voll des Erlebens ihrem Chausseehaus zugestrebt war, saß Christine mit zitterndem Herzen und zusammengekrampften Händen an Ullas Bett. Es war so still um sie her, daß sie glaubte, ihr eigenes Herz klopfen zu hören. Aber je stiller es draußen wurde, desto wilder und verzweifelter war es in ihr. Es war, als habe sie den letzten Halt verloren.
Das lag an ihr selbst, wenigstens glaubte sie so und sie konnte sich deshalb um so weniger fangen. Sie hatte sich gestern nachgegeben, und das soll man nicht. Vater hatte immer gesagt: „Wenn es euch mal ganz schlecht geht, dann haltet euch an euerer Pflicht fest. Solange wir das tun, können wir nicht abgleiten.“ Sie, Christine, hatte dies Wort nie vergessen, aber sie hatte nicht danach gehandelt, gestern nicht. Und nun übermannte es sie.
Es war so verführerisch gewesen. Ulla war fortgelaufen am Morgen, und Ron und Wolf würden vor Sonntagabend nicht wiederkommen. War es wirklich nötig, daß sie, Christine, da im Morgengrauen aufstand und ihre Sklavenarbeit verrichtete, scheuerte, putzte, aufräumte, was niemand sah, was keinem Freude machte, was morgen und übermorgen wieder staubig und unordentlich sein würde?
Christine hatte von jeher gern geputzt. Ihr Stübchen zu Hause, das sie mit Ron zusammen bewohnte, war immer ein Schmuckstückchen gewesen, und das war ihr Verdienst, immer hatte sie es getan. Ron kam und ging, sie machte wohl ihr Bett selber, aber alles andere hatte sie, Christine, getan und wirklich immer gern und mit Liebe und Sorgfalt. Hier aber, in dieser engen, häßlichen und feuchten Bude, dem schlechtesten Zimmer der ohnehin schon schlechten Wohnung putzen? Ach, es war wie die Arbeit jener Verdammten, von denen sie einmal in der Schule gelesen hatten: die Wasser in ein durchlöchertes Faß schöpfen mußten, Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert. So kam sich Christine vor.
Nein, sie war nicht aufgestanden. Ron war draußen, sie hatte jeden Tag den Himmel über sich und konnte, wenn sie von der Arbeit aufsah, ins Land hineinschauen, das wenn auch nicht Heimat, so doch Deutschland war, schön und lieblich auch hier, wenn man gerecht sein wollte. Und heute hatte sie Wolf mit, sicher wurde es da ganz lustig, wenn sie ihm alles zeigte, wovon sie immer erzählt hatte. Und Ulla war zu ihrem geliebten Gärtner gelaufen, sie würde sich mit Erde und Wasser gründlich einschmieren, was sie ja nicht störte, sondern zu ihrem Wohlbehagen beizutragen schien. Die Sachen würde eben Tine wieder waschen. Niemand fragte nach ihr. So war sie im Bett geblieben.
Sie hatte sich noch einmal nach der Wand gedreht, noch einmal aufgeschluchzt und war dann sofort eingeschlafen. Als sie gegen elf erwachte, lag der ungewohnte Morgenschlaf wie Blei auf ihrer Stirn. Nein, sie konnte sich nicht aufraffen. Sie lag und dämmerte vor sich hin, nicht einmal etwas zu essen mochte sie sich holen. So lag sie zwischen Schlaf und Wachen, dachte an zu Hause und weinte viertelstundenlang, schlief dann wieder und lag wahrhaftig noch im Bett, als Ulla außer der Zeit ankam. Da aber wurde sie sehr schnell und sehr nachhaltig munter.
Ulla hatte nicht das übliche knallgesunde Aussehen. Sie war schmutzig wie meist, wenn sie von Herrn Jesumann kam, aber ihr Gesicht war blaß und verzogen. Trotzdem stutzte sie, als sie Christine im Bett antraf: „Bist du krank?“ fragte sie.
Christine rührte diese an sich doch naheliegende Frage der kleinen Schwester über alle Maßen. Sie setzte sich auf und schlang beide Arme um den Hals der Jüngeren, die sie erschrocken streichelte; als sie aber merkte, daß Ulla sich leicht zurückbog, ließ sie sie los.
„Was ist denn, ich glaube, dir geht’s nicht gut“, stieß sie in aufsteigender Beschämung hervor, „und ich sitze hier und heule, komm, Ulla, komm, schnell ins Bett, sag’, wo tut’s weh? Hast du Halsschmerzen oder —“
„Nein, bloß der Bauch“, sagte Ulla und überließ sich dankbar und ganz kleinkinderhaft Christines Händen. „Vielleicht kommt das bloß von den kalten Tomaten, die ich gegessen hab’, aber das tu ich doch immer, und deshalb tut mir der Bauch noch lange nicht weh.“
Christine zog ihr mit eiligen, ein wenig zitternden Händen die Sachen ab, suchte nach einem frischen Nachthemd — ach, sie hatte keins. Sie hatte ja heute waschen wollen, und es hätte bei dieser Sonne auch bestimmt herrlich getrocknet. Nun lag die gebrauchte Wäsche da und starrte sie an wie das schlechte Gewissen selbst.
„Du bekommst mein Nachthemd, das gute. Nein, es schadet nichts, wenn’s auch ein bißchen lang ist“, flüsterte sie erstickt, so sehr schämte sie sich. „Und ich mach Feuer und koch dir einen Tee. Tee schadet nie, sagte Mutter immer.“