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Freuden im Advent
ОглавлениеDer Ponyhof, unser Zuhause, liegt mitten im grünen Herzen Württembergs. Seine zweibeinigen Bewohner stammen aus Schlesien, die vierbeinigen, also die Hauptpersonen, die Ponys, aus Island und von den Shetlandinseln. Der Ponyhof ist kein großes Gestüt, sondern ein ganz, ganz kleines, viel kleiner, als bei uns in Schlesien ein »Hof« war. Aber das paßt sehr gut, die Ponys sind ja auch klein. Groß ist bei uns nur eins: die Geschwisterschar. Wir sind drei Brüder und fünf Schwestern, und da wir viel Besuch bekommen und immer Freunde und Freundinnen mitbringen dürfen, sind wir meist noch viel mehr.
Besonders im Sommer. Da kommen von allen Seiten und aus allen Ländern Gäste, manche für kurz, manche für länger, und beinah jeder sagt: »Ach, haben Sie es aber schön hier! Und so einsam ...«
Unser Häuschen liegt in einem Nebental der Rems, und man sieht ringsum nichts als Wiesen und Wald, »... nur müßte nicht so viel Besuch kommen«. Denn meistens trifft ja eine Familie, eine Schulklasse, eine Verwandteninvasion auf die andere.
Aber wir haben gern Besuch. In einer Etagenwohnung in der Großstadt, wo man rechts und links und drunter und drüber Nachbarn hat, kann man viel einsamer sein. Da kommt einen niemand besuchen. Außerdem hat man dort keine Ponys. Mit Ponys ist man nie einsam.
Im Ponyhof sind alle Jahreszeiten schön. Der Frühling, wenn die Abende sich dehnen, der Himmel messinggelb und die Luft, die am Tage schmeichelnd weich war, wieder herb wird und einem die Hände klamm macht, wenn man endlich, endlich wieder Zäune repariert, Mist auflädt und den Ponywagen einspannt, um noch ein Stück in den Wald zu fahren. Oder der Herbst. Da reiten wir morgens, in silberner Frühe, und der Wald ist jeden Tag anders gefärbt. Dann klecksen Hagebutten und Ebereschen ihr Siegellackrot gegen den funkelnd blauen Himmel, und es gibt Pilze und Schlehen, und wir zünden auf der Koppel Kartoffelfeuer an, zu dem die Ponys herankommen und die Nasen in die Glut stecken wollen. Und wir machen den Stall noch einmal richtig sauber vor dem Winter, stapeln Heu und fahren Stroh in die Ecke der Wiese unter die großen Bäume, dorthin, wo im Winter die Ponys schlafen. Denn unsere kleinen Pferdchen sind Tag und Nacht, Winter und Sommer draußen, nur vor der größten Hitze müssen sie sich im Stall schützen können. Deshalb lieben wir den heißen Sommer eigentlich am wenigsten. Bremsen und Schnaken setzen ihnen so zu, daß wir mitunter ganz verzagt sind: Was hat man eigentlich von seinen Rössern, wenn sie den ganzen Tag im Stall stehen müssen und nur nachts auf die Waldwiese dürfen? Nachts können wir nicht reiten.
Aber der Winter! Der entschädigt uns für alles.
Eigentlich ist der Winter die schönste Jahreszeit im Ponyhof, und das ist ganz natürlich, denn da ist Weihnachten. Weihnachten ist der Höhepunkt des Jahres.
Mutter denkt das ganze Jahr über an Weihnachten. Immer, wenn sie im Juni den großen Kalender umdreht, sagt sie: »Jetzt kommt das schönste halbe Jahr, jetzt sind es nur noch fünf Monate.«
Denn die Adventszeit beginnt bei uns schon eher als anderswo, nämlich am 11. November. Da hat unser Jüngster, Ben, Geburtstag, und das war schon immer ein großer Feiertag, als wir noch in Westfalen wohnten. Dort wird der Martinstag mit einem Laternenzug gefeiert, und die Kinder singen das Martinslied: »Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind ...«, die Geschichte von dem Reiter, der einem armen, frierenden Mann im Schnee seinen halben Mantel gab. Vor dem Laternenzug ritt ein größerer Junge, als Sankt Martin verkleidet, einmal war es Uli, unser Zweitjüngster, und er saß auf einem unserer Ponys.
Am Martinstag fällt der erste Schnee, denn Sankt Martin kommt auf einem Schimmel geritten. Ach, unser Ponyhof im Schnee! Nie ist er so winzig, so lustig bunt – wir haben das Haus schokoladenbraun gestrichen mit grünen Fensterläden und bunten Blumenkästen, in denen Tannengrün steckt –, so warm und heimlich wie im Schnee. Und die Ponys sind auch froh, wenn der Boden fest und nicht mehr schlammig ist, wenn der Schnee früh wie ein dickes Federkissen auf ihrem Rücken liegt – ihr Fell ist so dick, daß kein bißchen Nässe oder Kälte bis zur Haut vordringt –, wenn sie unterm Reiter oder vor dem Rodelschlitten durch den Wald toben dürfen, oder früh, ganz zeitig, wenn es noch dunkel ist, eingespannt werden, damit sie die Schulkinder im Pferdeschlitten zur Bahn fahren können. Mutter kauft dann auf dem Rückweg ein und lädt alles auf den Schlitten. Niemals vergißt sie dabei, gelbe Rüben mitzubringen und sie den Ponys zu geben, damit sie geduldig vor den Läden stehen und nicht, heidi!, mit dem Schlitten hinter sich, der keine Bremse hat, absausen, Richtung Heimat.
Unsere Adventskinder, Ben, der eigentlich Martin hätte heißen müssen, und Steffi, die in der Woche vor dem ersten Adventssonntag Geburtstag hat, dürfen sich zu ihren Ehrentagen etwas Besonderes wünschen. Sie meinen, sie könnten sonst womöglich zu kurz kommen, weil Mutter dann schon die Geschenkschublade sichtet und sagt: »Ach, das lassen wir für Weihnachten – und das bekommen sie jetzt schon ...«
Die beiden haben also jedes Jahr einen Extrawunsch frei. Einen, der »nichts kostet und den man nicht sieht«. Als Ben noch kleiner war, wurde ihm das einmal zugesagt, und er wünschte sich prompt, sich acht Tage nicht waschen zu müssen. »Na, denkst du, das würde man nicht sehen?« fragte Lotte entrüstet. Sie ist die Älteste von uns – nur Arndt ist noch älter – und studiert Medizin. Deshalb ist sie natürlich sehr für die Sauberkeit, genau wie unsere Arzttante Titine, Mutters jüngere Schwester. Und die andern Geschwister behaupteten, man würde das nicht nur sehen, sondern auch riechen. Nein, diesen Extrawunsch bekam Ben nicht erfüllt.
So dachte er sich einen andern aus. Im Herbst verkaufen wir die Fohlen, die jedes Frühjahr geboren werden. Das ist immer traurig, sich von ihnen zu trennen, und Mutter überlegt den ganzen Sommer, wie sie es uns versüßen kann. Ein halbes Jahr springen unsere winzigen Ponykinder ums Haus, kommen neugierig ans Fenster oder auf den Sitzplatz, betteln um Brot und toben hinter uns her, wenn wir durch den Wald reiten. Nun sollen wir sie hergeben, an fremde Leute ...
Wir richten es immer so ein, daß sie zu möglichst netten Leuten kommen, die uns gefallen. Nicht als Spielzeug, sondern zu Kindern, die sie vernünftig behandeln und später reiten und fahren wie wir, oder zu andern Ponys. Ponys sollte man immer in der Mehrzahl haben, sie werden, allein gehalten, leicht schwermütig, und wir können ihnen das gut nachfühlen. Wir sind auch an die Herde gewöhnt, die uns umgibt, die uns wärmt und schützt.
In jener Adventszeit also sollte Hanko verkauft werden, ein süßer kleiner Rapphengst, Sohn von unserer Appelschnut, die wir auch schon als Fohlen besaßen. Hanko, ein Shetlandpony, etwa einen Meter hoch, kam glücklicherweise nach Murrhardt zu einem Arzt, der auch Isländer besitzt. Wir hatten ihn vorher besucht und uns alles genau angesehen, Stall und Weide, und vor allem die zukünftigen Gefährten unseres kleinen Hengstes. Murrhardt liegt zweiunddreißig Kilometer vom Ponyhof entfernt. Ben überlegte sich dies alles, und dann rückte er an seinem Geburtstag mit dem diesjährigen Sonderwunsch heraus:
Wir sollten Hanko erst am ersten Weihnachtsferientag, also kurz vor dem Heiligen Abend, verkaufen, und er wollte im Transporter mit ihm mitfahren, um ihn sicher hinzubringen. Nicht nur er, sondern auch Winnetou, sein kleiner weißer Hengst, sein Pony, auf dem kein anderer reiten kann, weil wir alle schon zu groß sind, so jedenfalls sagen wir. Er sagt, weil er keinen anderen auf seinem Rücken dulden würde, denn Winnetou ist ein Übermut und schmeißt mitunter auch Ben ab, so bockelt und hopst und tobt er. Winnetou also sollte auch mitfahren, und am nächsten Tage sollten die beiden, Ben und Winnetou, allein zurückreiten. Ben war damals zwölf Jahre alt und fand einen solchen einsamen Überlandritt im Schnee das Schönste, was er sich vorstellen konnte.
Gut, er durfte. Das aber ließ Steffi nicht ruhen. Sie, die vier Jahre älter ist, sollte so etwas nicht können? Sie grübelte und grübelte, und schließlich verkündete sie, sie wünschte sich zum Geburtstag, am letzten Schultag in die Schule reiten zu dürfen.
Das klingt vielleicht bescheiden und gar nicht großartig. Man muß aber wissen, daß das Städtchen, zu dem der Ponyhof gehört, keine höhere Schule hat und die Kinder mit der Bahn in die Kreisstadt fahren müssen. Steffis Schule also liegt sechzehn Kilometer weit entfernt. Wenn sie hin und zurück ritt, war es genauso ein langer Weg wie der von Ben von Murrhardt her.
Schön. Auch das wurde ihr genehmigt. Und diesmal kam Weihnachten vielleicht noch langsamer und noch heißer erwartet und ersehnt heran als sonst, so freuten sich die beiden auf ihre Ritte. Sie konnten es kaum erwarten.
Immer ist die Adventszeit herzbeklemmend erwartungsvoll. Da kommt die langersehnte Fahrt mit dem Dogcart – wenn der Schnee noch zu dünn ist – oder mit dem Pferdeschlitten in den Wald, um Tannengrün für den Adventskranz und Moos für die Krippe zu sammeln. Wochenlang haben wir schon bei unsern Waldritten nach gefällten Tannen ausgespäht, von denen wir gutes, wertbeständiges Tannengrün, am besten Weißtanne, bekommen können. Denn die Zimmer in unserm winzigen Häuschen sind sehr niedrig, und da wir es tüchtig warm haben wollen, nadelt so ein Kranz schnell, wenn er aus Fichte ist. Meistens gelingt es nach langen Erkundungsritten, doch noch »richtige« Tanne zu finden. Wenn wir den Förster treffen, dann fragen wir: »Dürfen wir von dem Baum an der Fuchsklinge – oder am Galoppweg – oder am Kreuzbühl – Tannengrün haben?« Erst guckt er grimmig und tut, als wollte er es uns verbieten. Und dann schmunzelt er und blinzelt uns zu und nickt ...
Ach, der Tag, an dem es in unserer kleinen, holzgetäfelten Küche nach Harz und bitterem Tannenduft riecht und wir, heimkommend, Mutter auf einem niedrigen Schemel hokkend vorfinden, den Kranz windend, nicht ohne Gestöhne und die übliche, sich immer wiederholende Frage: »Wird er auch rund? Ich weiß nicht ...«
Immer ist der Reifen weg, um den der Kranz gewunden werden soll, immer, nachdem er uns das ganze Jahr über in Werkstatt und Sattelkammer im Wege war. Eines Adventstages erfanden wir, den Kranz um einen alten Reifen vom Ponywagen zu winden. Unser Dogcart läuft gummibereift, und die Räder haben grade die richtige Größe. Wir empfehlen das allen Leuten, es geht wunderschön. Wer keinen Ponywagen hat, nimmt einen Motorradreifen, es ist dieselbe Größe.
Nun hängt der Kranz. Auch die Ponys bekommen einen. Sie machen sich nicht viel daraus, aber wir finden es hübsch. Und mindestens zweimal in der Woche muß eins von ihnen nachmittags in die Stadt tackeln und Päckchen auf die Post bringen. Mutter packt und packt. Diese Fahrt nehmen wir ihr gern ab, denn wir bringen nicht nur Päckchen auf die Post, wir holen auch welche. Fast immer sind welche für uns da, und die werden beguckt, berochen, begrübelt – wer schickt sie, was mag drin sein, wen werden sie betreffen? Manchmal kann man es aus dem Absender erraten. Manchmal aber tappt man ganz im dunklen.
Wir haben eine unermeßlich große Schar von Freunden, die in allen Teilen Deutschlands – und auch im Ausland – sitzen und zu Weihnachten an uns denken. Daher die vielen Päckchen, die vom Ponyhof aus in die Welt hinausfliegen. Ach, es ist eine geheimnisvolle, eine selige Zeit – und uns fällt es jedesmal wieder schwer, diese Päckchen ungeöffnet in den Sack zu stecken, der im Flur hängt und immer dickbäuchiger wird, immer mehr kantige Auswüchse bekommt. Er darf erst nach der Bescherung geöffnet werden, das gibt dann immer eine zweite Bescherung.
Noch aber ist es nicht soweit, noch lange nicht! Jetzt kommt erst die Weihnachtsbäckerei. Da wir immer mit vielen Weihnachtsgästen rechnen müssen, backen wir Stollen wie für ein Regiment Soldaten. Der Tag, an dem es kein Mittagbrot, sondern Kartoffelkuchen aus Stollenteig zu Mittag gibt, ist ein besonderer Festtag.
Meist richtet es Mutter so ein, daß die Zinkwanne, die sonst anderen Zwecken dient, mit dem Riesenklumpen Teig darin, am späten Vormittag in die Stadt zum Bäcker muß, damit sie uns, wenn wir aus der Schule kommen, mit heimnehmen kann. Dann wartet sie am Bahnhof, füttert die Ponys mit Brot oder Möhren, damit sie Geduld haben und stehenbleiben, obwohl sie kalte Hüfchen bekommen, und lädt uns alle in den Schlitten, auch unsere Freunde, die denselben Weg haben. In irgendeiner Ecke des Schlittens liegt dann eine Plastiktüte mit einem Teigrest, der nach Mandeln, Rosinen, Hefe und Zitronat schmeckt. Während der Streit tobt, daß jeder ein möglichst gleichgroßes Stück davon erwischt, fahren wir schon los. Wer keinen Platz im Schlitten findet, hockt hinten auf. Da haben wir quer über die Kufenenden ein Brett genagelt, darauf können noch zwei, sogar eventuell drei stehen. Sie halten sich an der Rückenlehne fest. Pferdeschlitten fährt man im Karacho. Vor dem Wagen dürfen die Pferde nicht galoppieren, wohl aber vor dem Schlitten. Das ist ein Gefühl, da hinten zu stehen und zu balancieren! Manchmal muß man auch bremsen. Wenn der Kutscher schreit, springt man ab und läßt sich in der Hocke, die Hände an den Schlitten geklammert, hinterherziehen. Das bremst etwas, nicht sehr. Rock’n’Roll-Schuhe sind dazu nicht geeignet, auch keine mit hohen Absätzen. Wohl aber Ski- oder Reitstiefel. Mutter findet, wir könnten im Winter ruhig gestiefelt in die Schule fahren, jeder weiß doch, daß wir außerhalb wohnen. Sie findet immer solche Sachen, mit denen wir nicht so sehr einverstanden sind. Keiner außer uns tut so was ... Freilich, zum Zurückfahren im Ponyschlitten ist es praktischer, und im Grunde stellen wir ja unser ganzes Leben auf Ponys ein ...
Einmal hatte Ben in der Adventszeit ein Bein gebrochen. Das kommt bei dem besten Reiter vor, Ben ist einer unserer Besten. Kunststück, er kam sehr früh aufs Pferd, während wir andern schon größer waren, zum Teil sogar schon zu groß für die Ponys, jedenfalls für die Shetlandponys, mit denen wir anfingen. Später kaufte Mutter die Isländer, mit denen man reiten kann, bis man Großmutter ist. Ben hatte also das Bein gebrochen und sah fürchterlich blaß aus, wie eine Spitzmaus. Mutter sagt dann immer im kläglichsten Ton: »Schpitzmaus!«, als sei er noch ein Baby, und wir alle machen es so lange nach, bis Ben voller Wut mit Kissen oder Büchern nach uns wirft. Er lag im Krankenhaus und hatte diesmal nur den einen Sonderwunsch, nach Hause zu dürfen. Trotz allem geschwisterlichen Hohn verstanden wir das. Mutter sprach mit dem Arzt. Der machte Ben ein »Zuckerbein« – einen Gipsverband, verabschiedete ihn mit einem liebevollen Klaps auf den Körperteil, der dem Reiter nächst dem Herzen der wichtigste ist, und sagte:
»Aber nicht heute schon wieder aufs Pferd, junger Mann, verstanden? Sonst holen wir dich zurück.«
Ben nickte. Er kann dann ungeheuer brav und scheinheilig aussehen, fast alle Erwachsenen fallen darauf rein. Er lag in Welzheim, einem Städtchen etwa zwölf Kilometer vom Ponyhof entfernt. Wir haben ihn mehrmals mit den Ponys dort besucht, ihm und seinen Zimmergenossen Pfefferkuchen und Äpfel und Nüsse gebracht und bei ihm gesessen, damit es nicht gar so langweilig für ihn war. Die freundliche Schwester Marie erlaubte uns sogar, daß wir ihn mit in den Hof hinunterschleppten, damit er die Ponys begrüßen und streicheln konnte. Meist kamen wir zu mehreren, zwei auf den Islandstuten Gloa und Eyglo, zwei auf Rodelschlitten, die hinter Appelschnut oder Winnetou hersausten. Sogar Arndt, unser Ältester, fand diese Art der Fortbewegung lustig und bemerkenswert. Er ist sonst derjenige von uns, der ein bißchen auf die ganze verrückte Ponybegeisterung heruntersieht und sagt:
»Betüdert euch nur nicht.«
Er behauptet auch, unsere Pferdchen käuten wieder, wenn sie mal auf der Wiese in der Sonne liegen. Dann sprängen wir ihm am liebsten ins Gesicht vor Wut. Wiederkäuen, das tun doch nur Rinder! Und wo, bitte schön, sind denn die Hörner bei unsern Ponys?
Auch diesmal hatten wir Ben besucht. Wir saßen an seinem Bett, unterhielten uns mit ihm und seinen Zimmergenossen, knabberten alle zusammen Baseler Leckerli und Spekulatius und erzählten. Als es dämmerig wurde, verabschiedeten wir uns und gingen hinunter. Da guckten wir aber! Kein Pony zu sehen! Und wir hatten sie doch sorgfältig angebunden, denn im Schnee, wenn sie nicht weiden können, spazieren sie eben doch manchmal davon.
Ponys sind Meister im Aufknüppeln von Knoten, Durchnagen von Riemen und Herausschlüpfen aus Stallhalftern. Sie sind ja viel klüger als Pferde. Das aber wissen wir seit Jahren und handeln danach. Jetzt aber waren sie wirklich weg. Was nun?
Es wurde schon dunkel. Wir gingen ein Stück die Straße entlang, die nach Hause führt, fragten einen Tankwart an der VW-Tankstelle. Nein, nichts vorbeigekommen, er hätte es gesehen. So trödelten wir wieder zurück und ein Stück zur Stadt hin; das Krankenhaus liegt am Stadtrand. Und da trafen wir auf Leute, die uns anscheinend ansahen, was wir suchten.
»Ihre Ponys? Die sind dort hinunter, der Oberarzt reitet das eine große, und die Schwestern sitzen auf dem Schlitten ...«
Aha! Da konnten wir suchen. Denn wenn jemand im Krieg einen Araber geritten hat, einen so feurigen, daß nicht einmal der Regimentskommandeur ihn bändigen konnte – darunter tut es niemand, der unsere Ponys sieht und vom Krieg zu erzählen beginnt; es ist erstaunlich, wie viele Araber es im Krieg gegeben haben muß –, der kommt so bald nicht wieder. Wir gingen ins Krankenhaus zurück und setzten uns wieder zu Ben. Nur einer bezog Posten am Fenster. Schließlich erschienen die Ausreißer.
Der Arzt, noch ziemlich jung, dürr wie Ghandi und braun wie eine Haselnuß, war Bayer. Er hatte sich, wie er ging und stand, aufs Pony »geworfen«, mit Mantel und Hut. Jetzt, da er uns am Fenster entdeckte, sprengte er ums Krankenhaus, jodelte zu uns herauf und winkte. Sein Hut flog in den Schnee. Wir sausten die Treppe hinunter und hinter ihm her.
»Hab Dank, du liebe Gute!« hörten wir grade noch. Er war abgesessen und umhalste Gloa zärtlich. Die Schwestern, die mit wehenden Hauben auf dem Rodelschlitten erschienen, hatten noch nicht genug von diesem Sport. Sie baten und bettelten, nur noch mal ein kleines Stück in die Stadt fahren zu dürfen.
So wurde es richtig dunkel, ehe wir aufbrechen konnten.
Ponys finden jeden Weg zum Stall zurück, den sie ein einziges Mal gegangen sind. Wir hatten also keine Bedenken. Nur auf Hanko mußten wir aufpassen, der lief frei neben seiner Mutter her – manchmal auch nicht; kleine Pferdesöhne bummeln genau wie kleine Menschenkinder, die immer an Mutters Hand bleiben sollen –, und wir hatten noch ein ganzes Stück Fahrstraße vor uns, ehe wir in den abkürzenden Feldweg einbogen. Da haben wir trotz der Schneekälte mächtig geschwitzt. Immer wieder, wenn ein Auto sich ankündigte, mußte einer von uns vom Schlitten oder Pony herunter und Hanko erwischen, damit er nicht ins Auto lief. Steffi kann das am besten, aber manchmal mußten auch die andern ran, Katrin oder Angela oder auch Mutter. Schneeausflüge sind keine Erholungsfahrten.
Hier muß ich etwas einschalten: Alle Autofahrer, eigentlich ohne Ausnahme, benehmen sich, wenn wir mit unsern winzigen PS daherkommen, auf das liebenswürdigste und netteste. Sie steigen sofort vom Gaspedal herunter und vermindern ihre Geschwindigkeit und damit die Gefahr für unsere kleinen Bummelanten. Das tun sie freilich auch, um die Ponys zu sehen, aber außerdem auch aus Rücksicht. Es wird so viel über Rücksichtslosigkeit der Autofahrer erzählt. Wir können da nicht einstimmen. Allein viele Lastwagenfahrer finden es lustig, ganz nahe neben unsern Reitponys ihre entsetzlich lauten, nerventötenden Hupen ertönen zu lassen, wahrscheinlich versprechen sie sich davon, daß wir vor Schreck herunterfallen werden. Wir tun ihnen diesen Gefallen nicht, und auch die Ponys sind an sich autosicher. Freilich erschrecken sie jedesmal sehr, und das, finden wir, ist kein Witz. Tiere zu erschrekken und sich darüber lustig zu machen, das ist so häßlich, so herzensroh –, vielleicht aber nur unüberlegt. Vielleicht hilft dieses Buch ein kleines bißchen mit, diesen Unfug zu steuern, wir sind ja nicht die einzigen Ponyreiter in Deutschland.
»Holen Sie Ihren kleinen Sohn lieber nicht mit dem Rodelschlitten ab«, hatte der behandelnde Arzt geraten. »Er war jetzt längere Zeit im zentralgeheizten Zimmer und holt sich womöglich eine Erkältung.«
Ben ist dünn und war als kleines Kind oft krank – er erblickte das Licht dieser Welt, als wir noch keine Ponys und auch sonst so gut wie nichts hatten, Mutter jedenfalls kein Bett. Wir andern hatten zu zweit oder dritt je eins – oder ein Sofa –, wie das eben damals so war. Über ein Jahr lebte Ben ausschließlich von Mutter, wir bekamen kein Gemüse, kein Obst, keine Milch, keine Butter. Wenn Mutter ihn nicht hätte stillen können, wäre er verhungert. Auch so blieb er zart, und seine Beine bogen sich nach außen, als er anfing zu laufen, daß man einen Fußball hätte durchschießen können. Wir größeren Kinder bewiesen das mit der Tat und fanden es herrlich lustig, Mutter weniger. »Die typischen Reiterbeine«, sagte sie manchmal, aber es klang eher betrübt als anerkennend. »Wann jemals«, so dachte sie wehmütig, »wird dieser arme kleine Kerl mal aufs Pferd kommen!«
Aber hier wie überhaupt
kam es anders, als man glaubt.
Ben saß nicht nur schon mit sieben auf dem Pony, seine Beine hatten sich inzwischen gestreckt und sind heute kein bißchen mehr krumm. Was beweist, daß der Mensch, viel, viel mehr aushält, als man gewöhnlich annimmt.
So ging es auch mit der Heimfahrt vom Krankenhaus. Mutter und Christine, die damals zu Hause war, holten ihn zweispännig mit dem Pferdeschlitten ab. Der ist geräumig und leicht, und wir haben ihn himmelblau angestrichen. Er wurde mit Stroh gefüllt, und wir legten heiße Ziegelsteine hinein, an denen man sich die Füße wärmen kann. Für oben gibt es Decken, Mäntel und Handschuhe. Pelze haben wir nicht, eigentlich gehören sie zum Pferdeschlitten wie die Kerzen zum Christbaum. Aber, wie gesagt, wir haben mehr verloren als Großvaters Fahrpelz ...
Ben wurde von fürsorglichen Schwestern die Treppen hinuntergetragen und in den Schlitten gesetzt. Er bedankte sich nach allen Seiten hin, steckte Abschiedspäckchen ein und strahlte pflichtschuldigst. Wir auch. Immer wieder rührt uns die Liebe, mit der man überall unsern unnützen, verdreckten, schulfaulen und verwöhnten Kleinen begegnet. Wir schieben das auf die Ponys. Keiner widersteht deren Charme, und jeder überträgt seine Liebe automatisch auf unsere Kleinen. Ein Wunder, daß sie nicht noch fauler, frecher und anmaßender werden. Wahrscheinlich sind das wiederum die Ponys, die sie davor bewahren. Denn Ponys, genau wie alle Pferde, verlangen, anständig behandelt zu werden; man darf beim Reiten weder launenhaft noch faul, weder jähzornig noch verwöhnt sein, sonst erreicht man nichts. Und da unsere Kinder nicht nur zum Vergnügen auf den Ponys sitzen, sondern sich auch redlich und ernsthaft um ein richtiges, echtes Reitertum bemühen, so hat es ihnen wohl noch nicht grundsätzlich geschadet, daß man sie überall so verwöhnt. Obwohl es manchmal so aussieht ...
Kaum hatten wir das Städtchen hinter uns, da verlangte Ben stürmisch, »aus dem ollen Kasten« rauszudürfen.
»Aber der Doktor hat doch gesagt, reiten wäre für dich noch verboten, solange du das Gipsbein hast«, sagte Mutter, die auf Gloa saß. Sie verspürte wenig Lust, ihr Pferd herzugeben; selten genug kam sie in dieser Vorweihnachtszeit darauf. Meist mußte sie backen, Briefe schreiben oder Besorgungen machen, und reiten taten die Kinder. Eine Strecke wenigstens wollte sie im Sattel bleiben.
»Nein. Aber hinten dranhängen!«
Ben hatte gesehen, daß im Pferdeschlitten vorn unser kleiner Rodelschlitten lag. Der war im Städtchen repariert worden, nachdem Winnetou, der ungestüme kleine Schimmel, ihn einmal samt Uli an einen Baum geschmettert hatte, daß die Kufen krachten.
»Bitte, bitte, ich möchte so gern!«
Christine unterstützte seine Bitten. Sie ist selten zu Hause, weil sie schon berufstätig ist – Buchhändlerin in München –, und ziemlich sinnlos verliebt in ihre kleineren Geschwister.
Gegen das Betteln von zweien kam Mutter nicht auf. Sie sprang also vom Pferd, nahm den Rodelschlitten heraus und band ihn hinten an den Pferdeschlitten. Ben legte sich bäuchlings drauf. Nun ging es los.
Der Pferdeschlitten ist ein Zweispänner. Von Welzheim zum Ponyhof geht es im großen und ganzen bergab, manchmal steiler, manchmal sanfter, manchmal auch geradeaus auf glattgefahrener Bahn. Es war genau das richtige für solch einen Anhänger. Der Rodelschlitten sauste und schleuderte, daß es eine Lust war. Ben steuerte erst mit dem gesunden, dann mit dem Gipsbein. Das hatte sogar mehr Wucht als das andere. Daß die Zehen nackt und rotgefroren aus dem Gips herausguckten, hatte Mutter zum Glück nicht gesehen. Ben störte es nicht, er mußte sehr aufpassen. Es war pfundig.
Von da an besserte sich Bens Aussehen täglich. Mittags, wenn bei uns Ruhe herrscht (oder herrschen soll), packten wir ihn in Decken und legten ihn auf den Liegestuhl auf der Veranda. Von da aus kann man die Ponys sehen, deshalb blieb er auch brav liegen. Einmal kam sein Arzt ihn besuchen. Wir hatten Glück, Ben hing gerade nicht am Pferdeschlitten, sondern lag draußen in der blassen Wintersonne, dick verpackt. Der Onkel Doktor äußerte sich ungemein lobend.
»Wie gut der Junge sich erholt! Das macht die richtige Behandlung. Sie haben hier ja auch eine bezaubernde Winterfrische!«
Dieses Jahr kam bei uns wieder einmal der Nikolaus, und zwar zu Roß. Er war sonst ein paar Jahre lang nicht mehr erschienen, da unsere Kinder allmählich aus dem Nikolausalter herauswachsen und er zu jüngeren gehen muß. An diesem sechsten Dezember aber polterte es abends an die Tür, die wir nie abschließen, und wir wunderten uns. Besuch steht meist schon in der Küche, ehe wir begreifen, daß einer im Anrücken ist. Deshalb ging Uli erstaunt hinaus. Gleich darauf kam er zurückgesaust.
»Der Nickel, der Nickel!«
In Schlesien wird der Nikolaus so genannt und ein bißchen als komische Figur behandelt. Man sagt ihm alberne Sprüche auf und stolpert, wenn man über seinen Sack springen soll. In Westfalen kam er mit Mitra und Krummstab, und niemand hätte daran gedacht, sich frech zu benehmen.
Dieses also schien ein schlesischer Nickel zu sein. Er polterte und schalt, trieb uns alle in eine Ecke, bedrohte uns mit der Rute und verlangte, Ben zu sehen. Ben lag zum Glück in der Wohnstube auf der Couch, wie Mutter auf die Frage des Nickels hin berichtete.
»Soso. Das wollen wir uns doch mal ansehen«, brummte er und folgte ihr, die kopfschüttelnd voranging. Ben lag da und las in einem Pferdebuch. Er nützte die Zeit, sich wenigstens theoretisch weiterzubilden, wenn er nun doch mit dem Reiten aussetzen mußte. Die »Richtlinien für Reiten und Fahren« lagen immer neben seinem Kopfkissen.
»Na, nun zeig mir mal dein Gipsbein!« verlangte der Nickel, und Ben streckte es gehorsam aus dem Bett. Es sah etwas mitgenommen aus, schmutzig und um die Zehen herum schon etwas abgebröckelt, denn für Rodelschlittenfahrten war es eigentlich nicht gedacht. Der Nickel betrachtete es eingehend und genau. Das Datum, an dem es abgemacht werden sollte, stand, wie üblich, mit Tintenstift daraufgeschrieben.
»Na, da wollen wir es mal glauben«, brummte er und rückte Brille und Bart wieder zurecht, »ich habe nämlich von deinem Lehrer gehört, daß du manchmal ein Bein brichst, wenn es gerade so paßt.«
Ben wurde rot, Mutter dazu. Sie wußten beide, worauf der allwissende Himmelsbote anspielte. Im Herbst hatten die Jungen, die beide ins selbe Gymnasium gehen, die Hubertusjagd mitreiten wollen und Mutter inbrünstig gebeten, ihnen schulfrei dazu zu erbitten. Mutter kratzte sich am Kopf.
»Ich weiß nicht, Kinder, ich weiß nicht.«
Reiten gehört noch nicht wieder zu den Pflichtfächern der höheren Schule. Leider! Früher lernten die jungen Männer Reiten, Tanzen und Fechten. Wäre es nicht besser in der Welt bestellt, wenigstens die beiden ersteren Künste wieder als Pflichtfach einzuführen?
Mutter hatte schließlich zwei Entschuldigungen geschrieben, ihre Söhne hätten Halsschmerzen gehabt. So waren sie doch in den Genuß der Hubertusjagd gekommen, auf Islandponys. Auch Steffi hatte sie einmal mitgeritten. Damals ging sie noch in unserem Städtchen in die Schule, und an dem betreffenden Tag gab es Zeugnisse. Es war unmöglich, da zu fehlen. Deshalb stand nach Schulschluß Mutter mit beiden gesattelten Isländern vor der Schultür, und Steffi, die sich auf einem verschwiegenen Ort in die Reithose hineingehangelt hatte, ließ Schulkleid und Mappe beim Hausmeister und saß vor der Schule auf. Im eiligen Trabe ging es los, denn wir haben bis zum Reitverein acht Kilometer zurückzulegen, und von dort aus startet erst die Hubertusjagd. Unsere Ponys, die an sich schon kürzere Beine haben als ihre großen Kollegen, müssen also an diesem Tag der Bewährung noch zusätzliche sechzehn Kilometer traben, keine kleine Leistung ...
Trotzdem hielten sie durch und sprangen alle Hindernisse wie die anderen Pferde. Hinterher gestand Steffi, daß ihr an diesem Morgen hundeelend gewesen sei und sie das gute Frühstück, mit dem Mutter sie der Hubertusjagd wegen bedacht hatte, fröhlich wieder aufwärts gegessen hatte. Man könnte vermuten, das habe nicht, wie sie behauptet, am Lampenfieber gelegen, sondern an dem Zeugnis, das sie an diesem Tag bekam. Es war gottsjämmerlich schlecht, und Mutter bekam es so bald nicht vor die Augen. Wir glauben aber doch nicht, daß es Steffis Magennerven in Unruhe gebracht hat, Steffi ist Zeugnissen, jedenfalls Schulzeugnissen, gegenüber immer von einem staunenswerten, ja geradezu heldischen Gleichmut gewesen. Ihr Abgangszeugnis, das sie mit sechzehn Jahren bekam, ehe sie Pferdebursche auf einem Gestüt wurde, liegt heute noch vergraben unter Ausbindezügeln, Trensenringen und Turnierschleifen in ihrer Schublade, und keiner von uns durfte es beaugenscheinigen. Da Steffi nicht studiert, sondern Reitlehrerin werden will, ist das schließlich nicht so wichtig.
Der Nickel aber wußte, wie man sah, Bescheid über die merkwürdigen Halsschmerzen der Jungen, er hatte es wohl in seinem goldenen Himmelsbuch gelesen. Mutter wurde es schwül. Sie fragte ihn also ablenkend, ob er nicht eine Tasse Kaffee trinken und etwas Mohbabe essen wollte. Bei »Kaffee« schüttelte er noch den Kopf mit der riesigen Kapuze, bei dem Wort »Mohbabe« aber hörte das Schütteln auf. Man sah hinter seiner Brille die Augen groß und sehnsüchtig werden. Mutter gab Angela einen Wink, und die lief.
Mohbabe ist ein schlesisches Gebäck. Es besteht aus einem Teig, in den gemahlener Mohn hineingewickelt oder auch hineingebacken wird. Wer Weihnachten keinen Mohnkuchen ißt, hat das ganze nächste Jahr über kein Geld. Wir essen immer welchen, und so sehr viel Geld haben wir trotzdem nicht, aber immerhin ...
Der Nickel strahlte, als Angela mit dem Tablett hereinkam. Die Stimmung hob sich. Uli war inzwischen hinausgegangen und hatte sich um das Pferd des Nickels gekümmert. Es kam ihm recht bekannt vor, jedenfalls spitzte es die Ohren, als er schmeichelnd: »Elfi, Süße!« sagte. Die Jungen reiten ja jede Woche im Reitverein im Nachbarstädtchen, wo auch das Gymnasium ist. Und da sollte man sein Bahnpferd nicht wiedererkennen!
»Daß der Reitlehrer dir die Elfi gegeben hat, Nickel, das wundert mich aber«, sagte Uli treuherzig und hielt dem Nickel den Steigbügel, als der nach Beendigung des Besuchs wieder aufsaß. »Er ist doch sonst so zach. Wie hast du das denn fertiggekriegt?« Er genoß es, seinen Geographielehrer duzen zu dürfen, ohne daß der etwas dagegen unternehmen konnte.
»Reitlehrer? Ich komme vom Himmel«, brummte der Nickel und vertauschte seine Pelzhandschuhe mit ledernen, um die Zügel zu fassen. Uli grinste.
»Darf ich dich ein Stück begleiten?« fragte er in unnachahmlicher Höflichkeit. Sein Pony stand schon gesattelt bereit.
Der Nickel nickte, eigentlich wider Willen. Aber es war ihm lieb, einen Begleiter zu haben, der ihn zunächst über die Bundesstraße mit den vielen Autos und den Bahnübergang brachte, denn da war die Elfi unruhig und gar nicht von himmlicher Harmonie erfüllt gewesen. Unsere Ponys aber kennen diesen Weg, und Pferde kleben im Gelände aneinander wie die Briefmarken. So ging alles gut, und Uli ritt fast bis zum Reitverein mit. Dort machte er aus irgendeinem fadenscheinigen, aber taktvollen Grund kehrt.
»Nun findest du wohl allein weiter, lieber Nickel!« sagte er und hätte der Elfi am liebsten noch einen ermunternden Schlag auf die Kruppe geknallt. Jedoch Diplomatie ist der beste Teil des Mutes, und wer wußte, was noch nachkam!
Es kam nichts nach. Uli hatte sich aber noch am selben Abend über Atlas und Geographiebuch gesetzt und mindestens zwei Stunden lang gebüffelt, bis ihm der Kopf rauchte. Auch ein verärgerter Lehrer wird zwangsläufig entgiftet, wenn er jede Frage, die er stellt, prügelfest und sekundenschnell beantwortet bekommt.
Diese kleine Begebenheit ist übrigens ein Beweis dafür, daß Reiterei und Schule keineswegs in Gegensatz zu liegen brauchen, man muß es nur richtig anfangen.
Niemand möge annehmen, daß das Leben mit Ponys nur Vergnügen und Entspannung mit sich bringt. Es macht auch eine Menge Arbeit. So, wie jede Hausfrau vor Weihnachten die ganze Wohnung blitzblank scheuert, so werden dort Stall und Sattelkammer, Ein- und Zweispänner, Geschirr, Sättel, Trensen und Kreuzzügel blinkeblank gewienert. Im Stall konnte Ben dies Jahr nicht mittun, wie er grienend feststellte. Dafür schleppte ihm Steffi täglich ein anderes Geschirr ans Bett, und die Wohnstube roch penetrant nach Sattelseife, uns übrigens ein guter und lieber Geruch.
»Du kannst putzen! Da muß Muskelfett hinein, streng dich nur an, sonst verkümmert dein Bizeps.«
Ben fügte sich in sein Geschick. Manchmal spielte er den Elenden und legte sich zurück, um Mitleid zu erregen, wenn aber Steffi dann wieder mit vor Eifer roten Backen hereinkam und ihm flüsternd erzählte, daß sie Uli diesmal einen geflochtenen Reitzügel schenke, wurde er sofort wieder munter.
»Woher hast du den denn?« fragte er begierig.
»Den mach ich selber. Du wirst schon sehen!«
Steffi hat Ideen. Sie schnitt aus einer nicht mehr gebrauchten Einspännerleine ein Stück Zügel in der richtigen Größe heraus, versah es an beiden Enden mit einem Karabinerhaken und stach dann mit einer Ahle Löcher hinein, in regelmäßigen Abständen. Durch diese Löcher zog sie im Muster lederne Schnürsenkel, die sie für ein paar Pfennige gekauft hatte. Es war eine mühselige Arbeit, wurde aber Ulis schönstes Weihnachtsgeschenk. Uli reitet im Reitverein ein Pferd, das schwer am Zügel geht. Da ist ein geflochtener Zügel Gold wert, er rutscht einem nicht so leicht durch die Faust. Natürlich nimmt er ihn auch für seinen Isländer. Der Zügel war jedenfalls ein großer Erfolg, und Uli war selig darüber.
Meist bekommen wir auch etwas für die Ponys geschenkt. Den Dogcart zum Beispiel brachte das Christkind. Es hatte es damals schwer, ihn bis zum Heiligen Abend verborgen zu halten. Wir waren das erste Jahr im Ponyhof, der ja ganz einsam liegt, und hatten demnach keine Nachbarn und auch sonst fast keine Bekannten. Das Christkind überlegte und überlegte, schließlich stellte es ihn in die Garage eines Fahrradhändlers im Städtchen.
»Wir holen ihn dann am Heiligen Abend ab«, sagte Mutter und gab ein Trinkgeld. Aber der Verräter schläft nicht. Uli, derjenige von uns, der am besten schenken kann, noch dazu mit wenig oder gar keinem Geld, Uli hatte sich wieder einmal etwas Großartiges ausgedacht. Er wollte allen seinen Schwestern geputzte Fahrräder schenken, brachte also eins nach dem andern unter irgendwelchen Vorwänden in die Stadt, fragte beim Fahrradhändler, ob er sie dort stehenlassen dürfte, und putzte, ölte und schmierte. Eines Tages kam er aufgeregt heim.
»Es muß noch mehr Ponys in der Stadt geben«, erzählte er, »da steht ein Einspänner, ein ganz großartiges Gig, also ich sage euch ...«
Er fing an zu beschreiben. Mutter rutschte auf ihrer Eckbank hin und her. War er wirklich so harmlos?
Er war es. Die andern horchten zwar mit aufgerissenen Augen auf und ließen sich jede Einzelheit genau schildern, keins aber machte eine Bemerkung. Mutter stellte fest, daß man »noch nichts zum Abendbrot« habe, schmuggelte sich aus der Wohnstube und suchte sich ein Fahrrad. Auf diese Weise kam sie beinahe hinter Ulis Weihnachtsgeheimnisse, denn von den vier Rädern war nur noch eins da. Mit dem sauste sie in die Stadt und beschwatzte den Fahrradhändler so lange, bis er den Dogcart in die Scheune eines ihm befreundeten Bauern zu stellen und Uli auf Befragen grandios anzulügen versprach. Nur Mutters Aufregung über diese beinah eingetretene Panne hinderte sie daran, in der Garage auf alte, gummibereifte Freunde zu stoßen.
Solche Sensationen gehören zur Vorweihnachtszeit wie Blockflöte und Strickzeug, kreischende Laubsäge und überkochender Leim, zugesperrte Schubladen und angstvolles Suchen. »Ich hab es so gut versteckt, ich find’ es nicht wieder ...« Jeder hat entsetzlich viel zu tun, und trotzdem vergehen die Tage nicht. Die auswärtigen Kinder – unsere größeren Geschwister studieren oder sind gar schon im Beruf – schreiben oder rufen an, sie könnten erst im letzten Augenblick kommen, mit dem und dem Zug. Wir sehen im Kursbuch nach und merken, daß es den gar nicht gibt, rätseln herum und verlassen uns schließlich auf den sogenannten Anhalter. Wenn die Bundesbahn versagt, gibt es immer noch Autos, denen man winken kann, und kurz vor Weihnachten wird jedes arme Studentlein mitgenommen, das zu Muttern strebt.
In Westfalen ist es uns einmal passiert, daß Christine, damals noch Buchhändlerlehrling in Stuttgart, in Frankfurt den Anschlußzug nicht bekam. Er fuhr ihr vor der Nase weg. Sie rief an, sie käme erst nachts um eins. Das war ein langer Heiliger Abend! Die meiste Zeit davon saßen wir im Stall, fütterten die Ponys mit guten Bissen und erzählten uns Weihnachtsgeschichten. Unser Gutsherr war dann so rührend, Mutter in die Kreisstadt zu fahren und Christine dort vom D-Zug abzuholen, sonst hätte sie wiederum zwei Stunden auf Anschluß warten müssen. So standen die beiden doch »schon« um elf vor uns, und auf einmal war es soweit, wie man es seit einem ganzen Jahr wünschte. Das Christkind beeilte sich, die Kerzen anzuzünden – und alle Warterei war vergessen.