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Steffis Alleinritt
ОглавлениеWarten aber gehört nun mal zur Weihnachtszeit. Ein Schritt vorwärts ist es ja schon, wenn wenigstens die Schule vorbei ist, und das war in dem Jahr, in dem sich die beiden ihre Alleinritte gewünscht hatten, relativ zeitig. Steffi wollte am neunzehnten Dezember in die Schule reiten, einem Samstag. Sie hatte alles bestens vorbereitet, vor allem die Unterkunft des Ponys in der fremden Stadt. »Fremd« ist ein bißchen übertrieben, Steffi ging seit zwei Jahren dort zur Schule, aber um ein Pony unterzustellen, braucht man mehr als eine gute Schulfreundin.
Sie hatte sich mit der Mühle in Verbindung gesetzt. Die gehört einer Dame, die auch reitet, Pudel züchtet und demnach in Ordnung ist. Sie lud Steffi ein, über den Sonntag bei ihr zu bleiben und erst am Montag zurückzureiten. Aber Steffi wollte nicht. Erstens mochte sie keinen Adventssonntag zu Hause verpassen, und zweitens hatte sie sich vorgenommen, sich einmal einen Tag richtig sattzureiten, wie sie sagte.
Sechzehn Kilometer wollten geritten sein. Um rechtzeitig in der Schule zu sein, mußte Steffi zu wahrhaft unchristlich früher Stunde aufbrechen. Es war eine jener pechdunklen Nächte, in der man nicht die Hand vor den Augen sieht und beim Reiten kaum die helle Mähne seines Fuchses, geschweige denn unsere kleinen Rappen. Steffi nahm Gloa, die schnellere unserer Isländerstuten.
Steffi hatte Gloa heimlich mit mehr Hafer gefüttert als die andern, genau wie Ben es insgeheim mit Winnetou tat. Früh um fünf fütterte Steffi noch mal, um sechs saß sie auf. Mutter war auch schon wach. Sie hockte meist in den frühesten Morgenstunden an der Schreibmaschine, weil ihr da noch was einfällt. Später am Tag werden alle Gedanken von unvorhergesehenen Ereignissen, von Besuch und täglichen Kleinkatastrophen zugeschüttet. Heute aber verzichtete sie aufs Tippen und schwang sich aufs Stahlroß. Steffi sah es mit Unbehagen.
»Du willst doch nicht etwa mit?« fragte sie mißtrauisch und guckte auf Mutter herunter.
»Gott bewahre, was soll ich denn in Schorndorf! Ich will nur –«
»Na was denn?«
»Sehen, wie hell es ist. Willst du nicht eine Taschenlampe einstecken?«
»Wozu denn das um Himmels willen? Es wird doch hell.« »Na, um beispielsweise einen zerfetzten Riemen zu reparieren.« Mutters Stimme klang schüchtern und beinah entschuldigend. Steffi klopfte sich im Schutz der Dunkelheit mit dem Zeigefinger an die Stirn. Mutter entging diese Bewegung nicht, obwohl sie sie nicht sah. Sie übersah sie aber.
Sie kam sich selbst etwas gluckenhaft vor. Wie oft ritten die Kinder allein aus! Aber es war wirklich mordsdunkel, und sie wußte, daß Steffi nicht die Straße reiten würde (und auch nicht sollte). Die Straße ist hart und auch frühmorgens voller Autos, die einen mit ihren Scheinwerfern blenden und knapp überholen. So war es natürlich das Gegebene, über die Wiesen zu reiten. Dort aber gab es eine Anzahl Gräben, sehr beliebt bei herbstlichem Querfeldeintoben, jetzt aber? Man sollte sich doch wenigstens überzeugen, ob man diese Gräben auch sah.
Man sah sie. Jedenfalls Gloa sah sie. Sie zog los wie ein D-Zug, als befände sie sich im Pulk anderer Pferde auf der Hubertusjagd. Mutter konnte, etwas oberhalb der Wiesen auf der großen Straße radelnd, kaum das Tempo halten, so kräftig sie auch in die Pedale trat.
Sie sah aber zu ihrer Beruhigung, daß die Islandstute bombensicher ging. Erster Graben – hopp – zweiter – hopp – Steffi quiekte halblaut und selig vor sich hin. Das sollte nun sechzehn Kilometer so weitergehen! Als Wiesenweg und Straße einander wieder näher kamen, rief Mutter den beiden zu, winkte sie zu sich heran und stieg ab. Sie tätschelte Gloas Hals ab und gab Steffi noch die üblichen Ermahnungen mit: höflich sein, sich schön bedanken, daß Gloa in der Mühle stehen durfte, pünktlich zurückkommen ...
»Jajaja«, sagte Steffi und nahm die Zügel auf. Mutter kehrte um. Sie hatte zu Hause genug zu tun und war auch völlig beruhigt. Die beiden kannten einander und kamen gut miteinander aus. Eine Kateridee, ihnen einreden zu wollen, daß man wenigstens eine Taschenlampe brauchte. Was sollte passieren?
So sagt man. Und so würden auch die meisten Mütter denken, deren Kinder von klein auf auf Pferderücken sitzen. Es geschah aber doch etwas Unvorhergesehenes, keine drei Kilometer hinter der Stelle, wo man sich verabschiedet hatte. Steffi blieb in der Dunkelheit mit dem Bügel an einem Zaunpfosten hängen. Der Bügelriemen riß. Steffi parierte durch und sprang ab.
Erst dachte sie, der Bügel sei nur ausgehakt. Dann aber merkten ihre tastenden Hände, daß der Riemen noch dran war, nur der Bügel war weg. Er mußte, vom durchgerissenen Riemen abgefallen, im Schnee liegen und leicht zu finden sein. Steffi suchte. Sie suchte sehr lange und leider vergeblich.
Die Uhr konnte sie nicht erkennen. Daß es aber allmählich Zeit wurde, weiterzureiten, das hatte sie im Gefühl. Kurz entschlossen schlug sie den zweiten Bügel hoch und ritt ohne weiter. Wir reiten oft und gern ohne Bügel, und jeder gute Reitlehrer bestätigt einem, daß man dadurch nicht dümmer wird, tiefer in den Sattel kommt und besseren Knieschluß lernt.
Freilich, bei Distanzritten? Isländer reiten sich nackt, also nicht nur ohne Bügel, sondern auch ohne Sattel, phantastisch gut, sie stoßen fast gar nicht. Mit Sattel und ohne Bügel aber, die ganze Zeit also ausgesessenen Trab, das ist schon etwas anderes.
Natürlich trabte Steffi nicht die ganze Zeit. Sie galoppierte auch, wo die Bodenbeschaffenheit es zuließ, und durch die Ortschaften ritt sie Schritt. Diese beiden Gangarten sind für den Reiter sehr schonend. Allmählich wurde es hell. Gloa hatte Reif an Brust und Barthaaren, als sie in Schorndorf einritten, und Steffis Backen brannten vor Kälte.
In der Mühle nahm man die Ponystute freundlich auf. Sie kam in eine Boxe, die bis in Kniehöhe voll schönstem, trockenem Stroh lag, und die Krippe war auch nicht leer. Genießerisch wühlte sie sich hinein; gewöhnt, draußen zu kampieren, genoß sie die Verwöhnung aus vollem Herzen und begann sofort zu fressen. Steffi nahm ihr den Sattel ab, hängte ihn weg und gab Gloa einen abschiednehmenden Klaps auf die Kruppe.
»Ruh dich schön aus, Alte!« Und nun fix die paar Schritte in die Schule.
Jetzt erst fiel ihr ein, daß sie ja nichts zum Umziehen mitgebracht hatte. In Reithosen in die Schule? Schön war das nicht. Ein Blick auf die Uhr zeigte, daß es noch Zeit war. So rannte sie zu einer Klassenkameradin, die in der Nähe wohnte. Ob sie ...
Klar! Sie bekam, was sie wollte, einen dicken Rock und einen Pullover. Vergnügt zogen sie gemeinsam los. Am letzten Schultag vor den Ferien wird nicht allzuviel verlangt. Steffi fand, daß Schule auch erholsam wirken kann. Mittags sollte sie bei besagter Freundin mitessen. Aber nein, danke vielmals, es zog sie zu Gloa. Sie wechselte also nur die Kleider und lief zur Mühle. Gloa stand und wieherte ihr entgegen. Jetzt war es hell, und man konnte nach der Uhr reiten. Gloa ging ab, als wollte sie einen olympischen Rekord brechen. Heimzu laufen alle Ponys wie der Wind.
Steffi genoß den schnellen Ritt. Als sie an der Stelle ihrer morgendlichen Panne angekommen war, saß sie ab und guckte sich noch mal im Schnee um. Kein Bügel. Der konnte sich doch aber nicht in Luft aufgelöst haben? Wo – aha, dort! Da hing er oben am Zaunpfosten, deshalb hatte sie ihn heute früh nicht gefunden! Immer nur waren ihre Hände tastend über den Schnee auf dem Boden hingefahren. Wer sollte auch so was vermuten! Tja, mit einer Taschenlampe ...
Steffi brach diesen Gedankengang ab. Sie fädelte den Bügel wieder auf den Riemen. Wenn man den kürzer schnallte, also das abgerissene Stück sozusagen ausklammerte, ging es, und sie saß wieder auf. Ach ja, Bügel sind doch eine gute Erfindung, sie konnte es nicht leugnen. So ritt sie wenigstens die letzten Kilometer ihres Distanzrittes im leichten Trab und genoß das sehr.
Zu Hause wartete schon das Mittagessen. Steffi futterte ihren Teller im Stehen leer, keiner fragte sie, warum. Wir mußten uns beeilen, heute war Reitstunde in Gmünd. Eyglo stand schon gesattelt bereit, und Ben saß auf Winnetou, während Mutter und Uli den Dogcart fertigmachten. Bis zur Reithalle rechnen wir eine reichliche Stunde. Los!
Wir kamen zur Zeit an. Steffi bekam in dieser Reitstunde den Farnese, ein nicht leicht zu reitendes, etwas nervöses Pferd, bei dem man beständig aufpassen muß. Mutter hatte die Elfi, die sozusagen eine Lebensversicherung darstellt, noch dazu mit Ausbindezügeln, und Ben und Uli saßen auf Peter und Gotenliebchen. Die »Familienstunde«, wie unser lieber Reitlehrer grinsend sagt, nahm ihren Verlauf.
Natürlich reiten wir Kinder lieber in anderen Abteilungen, in denen, wo schon gesprungen wird oder auf zwei Zirkeln galoppiert, aber manchmal klappt das eben nicht. Mutter war auch ziemlich kleinlaut, als sie mit ihren fortgeschrittenen Kindern Schritt halten sollte, sie reitet zwar schon lange ihre Isländer, aber Stunden nimmt sie erst seit kurzer Zeit. Erst, seit Ben einmal energisch sagte: »Mutter, es wird Zeit, daß du dich mal um die Grundlagen des Reitens bemühst. So wird das ja doch nie etwas Gescheites.«
»Vielleicht geh ich da zunächst in die Voltigierabteilung?« fragte sie scheinheilig, aber doch etwas gekränkt. In der Voltigierabteilung fangen die Kinder mit drei oder vier Jahren an. Ben blieb ernst und sachlich.
»Du kannst ja an der Eyglo versuchen, ob du raufkommst« – und er machte es sofort wahr. Eyglo wurde ausgebunden und an die Longe genommen, und nachdem Uli und Steffi ein paarmal im Trab oder Galopp auf- und abgesprungen waren, mußte Mutter ran. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen – sie ging los mit Todesmut und allen Kräften, um sich nicht zu blamieren – kam sie wirklich auf Eyglo, sowohl im Trab als auch im Galopp, was ihr Selbstbewußtsein ungemein stärkte. Als sie später unser erstes Enkelkind bekam – Christine hatte inzwischen einen jungen Freund unseres Hauses, einen Schlesier geheiratet –, feierten wir dieses Ereignis auch mit einer Voltigierstunde, und Uli hielt die voltigierende Großmutter sogar im Bild fest.
Diese vorweihnachtliche Reitstunde ging also ohne Komplikationen vorbei, und dann verabschiedeten wir uns herzlich und mit guten Festwünschen vom Reitlehrer. Mutter saß schon im Dogcart, Uli neben ihr. Ben hatte Winnetou erklettert, und für Steffi stand Eyglo bereit. Da, als sie den Fuß in den Bügel hob und aufsitzen wollte, hielt sie inne.
»Ja, was gibt’s denn?« fragte Mutter. Sie hatte Steffi zufällig zugesehen.
»Ach, Mutter, wenn es dir nichts ausmacht ... vielleicht reitest du heute die Eyglo und ich fahre? Ich meine nur ...« Dreißig Kilometer ohne Bügel auf dem Pferd, dann acht weitere im Sattel, darauf eine Reitstunde, in der man weidlich gewalkt wird – Mutter stieg sofort vom Dogcart und auf Eyglo. Steffi stopfte sich einen Arm voll Heu unter die Sitzfläche, ehe sie die Zügel aufnahm. An diesem Tag war sie, wie sie sich vorgenommen hatte, sattgeritten.