Читать книгу Der alte Trostdoktor - Lise Gast - Страница 7

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Manchmal forderte der Doktor Jörg auf, mit ihm auf Patientenbesuch zu fahren. Nicht oft. Jörg kam nicht dahinter, woran es lag, ob er mitsollte oder nicht. Blitz durfte immer mit. Sobald der Doktor sich rüstete, loszufahren, überkugelte sich der kleine Hund vor Begeisterung und sauste wirklich wie ein Blitz in den Wagen hinein, wenn man die Tür öffnete.

Der Doktor besaß einen auch für die damalige Zeit ziemlich schäbigen Viersitzer, den eraber sehr liebte, mit «Sie» ansprach und «Graf» titulierte. Jörg fand, daß dies Sparsamkeit am falschen Platze sei, sagte freilich nichts. Aber allein der Anblick, wie sich der dicke und große alte Herr mit seinem halbsteifen Bein ächzend hinter das Steuer des kleinen Wagens schob, war für Jörg ein Greuel.

«Warum kaufen Sie sich denn keinen bequemeren?» entfuhr es ihm einmal, eigentlich gegen seinen Willen. Der Doktor war eben auf dem Fahrsitz gelandet, nahm die Brille ab, putzte sie und setzte sie wieder auf.

«Nu ja, Junge, du hast schon recht», brummte er, «die Mutter sagt es auch immer. Aber ich finde, es gehört sich nicht.»

«Was gehört sich nicht?»

«Na, hier elegant und bequem vorzufahren bei Leuten, denen das Kreuz wehtut von sechzigjahrelanger Arbeit.»

«Sie arbeiten wohl nicht?» fragte Jörg hitzig. Er verstand wohl, was der Alte meinte, fand diese Einstellung aber übertrieben. «Außerdem leben die Leute hier ja gar nicht mehr von der Landwirtschaft oder vom Holz oder so. Wer schlau ist, richtet sein Haus schön ein und nimmt Sommergäste.»

«Nu freilich, freilich. Aber es gibt auch andere.»

«Ach, niemand erkennt das an», murrte Jörg. «Ich meine, so eine Ansicht, wie Sie sie haben – oder Heidel. Daß man sich immer in die andern versetzt – und Rücksicht auf sie nimmt.»

«So? Findest du?» fragte der Doktor, schaltete und fuhr los. Er sah Jörg nicht an. Der blickte auch geradeaus.

«Genau. Ich finde das», sagte er. Es klang angriffslustig. «Kein Mensch auf der Welt gibt Ihnen was, wovon er sich nicht selbst einen Vorteil verspricht. Alle fragen und denken nur: Was hab’ ich davon? Was krieg’ ich dafür? – Oder nicht?»

«Meinst du?»

»Ja. Sie vielleicht nicht – und Ihre Frau auch nicht – und Heidel meinetwegen», gab Jörg widerwillig zu. Er merkte, wie ernst der Doktor dieses Gespräch, das von ungefähr angefangen hatte, jetzt nahm. «Aber Sie sind Ausnahmen. Ich bin viel herumgekommen, hab’ Lehrer kennen gelernt und Jungen und die Eltern von diesen Jungen – nun, so allerhand Menschen eben –» er brach ab. Der Doktor zog den Wagen geschickt durch eine enge Rechtskurve. Birken und Lärchen leuchteten golden zwischen dem Nadelholz. Es roch nach bitterm Tannenduft und Harz. Jörg sog den Geruch ein, immer vermeinte er ihn später zu spüren, wenn er an dieses Gespräch zurückdachte.

«Es gibt aber einen, der alles gegeben hat für die andern, sogar sein Leben», sagte der Doktor leise und ernst. «Weißt du das nicht?» Und als Jörg verbissen schwieg, fuhr er ebenso leise fort: «Keiner hat mehr Liebe denn der, so sein Leben gibt für seine Brüder. – Weißt du nicht, wer das gesagt hat? Und danach gehandelt?»

«Doch. Natürlich weiß ich das.» Jörg sagte es laut und hart. «Mit solchen Sprüchen wird man ja gefüttert. Schön, gut. Er wollte die Menschheit erlösen. Das war sein Ziel. Dafür tat er es.»

«Er tat es für uns. Für die anderen. Für seinen Nächsten», erwiderte der Doktor.

«Na ja», gab Jörg zu, «aber wir, wir! Ich will die Menschheit nicht erlösen, ich könnte es doch nicht. Warum soll ich da –», er schwieg. Der Doktor schwieg auch. Schließlich sagte er, und es klang ein wenig anders als vorhin, als er ernst gesprochen hatte, – mehr wie sonst, verschmitzt und hinterhältig: «Du hast vorhin gesagt: Was hab’ ich davon. Ich –» er betonte dieses Wörtchen ein wenig stärker als sonst – «ich habe immer gefunden, daß man sehr wenig davon hat, wenn man immer was davon haben will.»

Jörg mußte gegen seinen Willen ein bißchen lachen.

«Ach, das klingt witzig –»

«Meinst du? Ich weiß nicht. Man sollte es ausprobieren. Auch seinen Nächsten zu lieben, muß man erst praktisch versucht haben, ehe man darüber zu urteilen vermag.»

Jörg schwieg. Nach einer langen Zeit sagte er leise, aber fest:

«Solche Liebe, wie Sie meinen, gibt es gar nicht.»

«Hm. Und die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern?» fragte der Doktor behutsam. «Glaubst du, daß dich deine Mutter liebt, auch wenn sie dich nicht bei sich hat?»

Er war sich bewußt, daß dies eine gefährliche Frage war. Einmal aber hatte er sie stellen wollen, schon lange. Jörg sah durch die Windschutzscheibe geradeaus.

«Nein», sagte er. Es klang kurz, knapp, trocken, wie ein Peitschenhieb. Von da an schwiegen sie beide, die ganze folgende Fahrt lang.

Der alte Trostdoktor

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