Читать книгу Der alte Trostdoktor - Lise Gast - Страница 8
ОглавлениеDer alte Trostdoktor wurde nicht nur für die Leiber seiner Patienten bemüht. Nachdenklich las er zum wiederholten Mal den Brief aus Hirschberg.
«... Und weil Sie das Mädel von klein auf kennen, wend’ ich mich nun heute an Sie. Vielleicht reden Sie mal mit ihr?
Seit ich nach Hirschberg gezogen bin, hat sie gebettelt, nach Krummhübel zurückzudürfen, und als sie dann dort die Stellung als Sekretärin fand, hab ich’s halt erlaubt. Die Kinder werden groß und müssen auf eigenen Füßen stehen. Und über den Sonntag kam sie ja auch zu mir, wenigstens manchmal. Aber glücklich ist sie nicht, das merkt eine Mutter doch. Und da tauchte nun neulich ein alter Bekannter wieder auf, das heißt, alt – er ist genau zehn Jahre älter als Hermi. Früher mochte sie ihn immer recht gern, und inzwischen ist er auch was geworden. Er möchte sie vom Fleck weg heiraten, aber sie sagt nicht ja und nicht nein, und wenn ich sie frage, rennt sie aus der Stube, und ich höre sie heulen. Lieber Herr Doktor, Sie können doch so gut mit Leuten reden, würden Sie sich Hermi mal vornehmen? Ich wäre Ihnen so dankbar! Wenn man keinen Mann mehr hat, ist es oft schwer, die Kinder richtig zu behandeln, und Sie waren immer wie ein Vater zu ihr. Ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar.
Ihre ...»
«Hermine Roland», sagte der Doktor und schob die Brille, die er beim Lesen vorn auf der Nasenspitze getragen hatte, wieder zurück und ließ dann die Hand ein wenig über den Augen, während er den Ellbogen aufstützte. Hermi Roland, wie die Mutter, so hieß auch die Tochter, er hatte ihr selbst zur Welt geholfen. Was für ein nettes Mädel war sie geworden! Oft war sie hier im Haus gewesen, damals, als Jorg noch hier war ...
Jorg. Der Doktor atmete ein wenig tiefer als sonst, vorsichtig, als fürchtete er, sich Schmerzen zu bereiten. Wie lange war es her, daß er nun dort lag, in Breslau in der Universitätsklinik, betreut von den besten Ärzten, sicherlich, trotzdem wie in einem Jenseits, weit, weit fort. Seit Mai, vier Monate also. Dr. Bruckmann wußte das genau, auf den Tag, sein Herz zählte jeden, jeden Tag ...
Noch war Hoffnung, behaupteten die Kollegen. Wirklich? Bestand noch welche? Glaubte er selbst noch daran? Mit einem Ruck stand er auf. Das Wartezimmer war leer, er konnte fort, Besuche machen. So viele warteten auf ihn. Plötzlich erschien ihm kein Besuch bei Kranken so dringlich wie der bei diesem jungen Mädel, das gesund war. Gegen seine Gewohnheit nahm er nicht den Wagen, sondern ging die paar Ecken zu Fuß. Die Luft tat ihm wohl, er sog sie durstig ein. Dieser Sprechstubengeruch, man merkte ihn schon gar nicht mehr, aber er war scheußlich. Mehr hinaus müßte man, hinaus, hinauf.
Das hatte Jorg auch immer gesagt. Immer hatte es ihn zu den jungen Menschen gezogen, den Gleichgesinnten, die hinaufstrebten in die Höhe zum Segelfliegen. Und dann war das Unglück geschehen. Er lebte noch, freilich. Ob er aber jemals wieder leben würde, wie man es richtig versteht?
Das war das Haus. Der Doktor läutete. Vielleicht war Hermi gar nicht da, ein junges Mädel geht abends gern mal aus, vielleicht –. Doch. Sie öffnete selbst, und einen Augenblick lang leuchtete ihr Gesicht. Dann riß jähes Erschrecken ihre Brauen hoch. «Herr Doktor, was ist? Kommen Sie –?»
«Ich komm’ bloß zufällig mal vorbei, erschrick doch nicht –» sagte er beruhigend und hielt ihre Hand ein wenig länger fest als gewöhnlich, «darf der alte Trostdoktor nicht auch mal zu einem gesunden jungen Mädel zu Besuch kommen? Na siehste. Und hübsch hast du es hier, so hübsch und gemütlich!» Er setzte sich schwer und ein wenig ächzend auf das alte, mit einem modernen Stoff reizend bezogene Sofa und zog sie neben sich. Dann sah er sie an, freundlich, liebevoll – und plötzlich wußte er alles. «’s is der Jorg, gell ja?» fragte er leise. «Deine Mutter hat mir nämlich geschrieben, daß du den – nun, den andern eben, den von vorher, nicht magst. Und ich sollte mal mit dir reden. Ich sag dir das lieber alles, wie es ist. – Also der Jorg.»
Sie nickte, die Tränen verschluckend. Er klopfte leise und beruhigend auf ihre Hand: «Ja, was soll man da groß sagen. Wenn ich nicht selbst mal jung gewesen wäre, würde ich dir jetzt Zureden: Vergiß ihn, nimm den andern. Aber –»
«Und das raten Sie mir nicht?» fragte sie in jäh aufbrechender Hoffnung. «Ist etwas – geht es demjorg besser?»
Er lachte trübe. «Du darfst mich nicht mißverstehen. Es geht ihm unverändert. Leider. Gehimquetschung – da ist alles drin, alles Böse – freilich auch Gutes, auch Hoffnung, meine ich. Doch, das auch. Und er ist in den besten Händen. – Ja, Mädel, so ist das nun. Da sitz’ ich und sollte dir abreden – und mir fällt nichts ein. Ich bin doch ein rechter Trottel ...» «Herr Doktor!» Sie lachte und weinte. Er nahm ihr Gesicht an seine Schulter. «Nana. Ist gut, wein’ ein bissel – und dann lach’ wieder ein bissel. Ob ich es mal – ich meine, da oben – ob ich es da werd’ verantworten können, wenn ich dir jetzt nicht sag’: Nimm den andern – das weiß ich nicht.»
«Sie haben also noch Hoffnung?» fragte sie, schnupfend, und sah durch den Schleier ihrer Tränen zu ihm auf, gläubig, bittend, schon wieder bereit, glücklich zu sein.
«Ich weiß nicht. Ja. Doch, ja. Wenn ich dich anseh’, Hermi, Mädel ...»
Als er etwas später heimstapfte, schüttelte er immerzu den Kopf über sich selbst. Diesem jungen Kind Hoffnung zu machen, dort, wo er selbst noch kaum eine Möglichkeit sah – es war sonst wahrhaftig nicht seine Art. Warum also? Weil es sich um seinen eigenen Sohn handelte?
Nein. Er wußte, daß er hier eher kritischer geurteilt hätte als zu optimistisch. Es war die bedingungslose, die schrankenlose Liebe, die aus den jungen Augen leuchtete, und die glauben wollte und glaubte. Hieß es nicht, daß der Glaube Berge versetzen könnte?