Читать книгу Reni und die Ponys - Lise Gast - Страница 5

I.

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Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, mein Liebchen ...

Reni fuhr in ihrem Bett in die Höhe. Die Sonne flutete golden zum Fenster herein und mit ihr der Gesang aus mindestens siebzig Kinderkehlen, so frisch und hell wie dieser Junimorgen.

Komm heraus da aus dem Haus da, komm heraus da aus dem Stübchen ...

Drüben im anderen Bett bewegte sich jetzt ein schwarzer Schopf, und Erikas vom Schlaf gerötetes Gesicht hob sich aus dem Versteck des gekrümmten Armes, in dem es bisher gelegen hatte. Es mußte noch sehr früh am Tage sein. Erika war sonst immer vor Reni wach.

Denn die Sonn’, denn die Sonn’, denn die Sonne ist da!

Reni kannte diesen Kanon natürlich, denn er war im Heim sehr beliebt. Heute aber klang er ihr noch netter, frischer und beschwingter als sonst. Freilich, heute bedeutete er auch etwas Besonderes. Er war ihr Geburtstagsgruß.

Sie war im Nachthemd ans Fenster gehopst und guckte hinaus. Wirklich, sämtliche Heimkinder standen unten und sangen. Jungen und Mädchen, alle ungefähr in ihrem Alter, so um zwölf Jahre herum. Tante Thea, die Turntante, dirigierte. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster, die Kinder mit dem Gesicht. Jetzt hatten ein paar von ihnen Reni erspäht. Sie winkten, Reni winkte wieder. Und da drehte sich auch Tante Thea mitten im Dirigieren um und winkte auch.

„Wir gratulieren!“ rief eines der Kinder, die anderen fielen ein, und der Kanon kam gewaltig ins Wackeln. Darüber mußte Tante Thea lachen, und so hob sie die Hand und ließ die Kinder, die gerade sangen: Ist daaa! ihren Ton aushalten, bis die nächsten und dann die übernächsten Stimmen auch so weit gekommen waren.

„Wir gratulieren unserer Reni!“ rief es darauf im Chor, und Reni lachte und winkte. Während sich unten der Gratulationsruf in ein lustiges allgemeines Geschrei und Geschwätz auflöste, fuhr Reni in aller Eile in ihre Kleider. Duschen konnte sie nachher noch. Jetzt mußte sie erst zu den Kindern.

„Reni!“ rief Erika hinter ihr her, aber Reni war schon losgerannt. Bei ihr ging immer alles im Schnellzugstempo.

So und nicht anders fegte sie auch der Treppe zu, um in den Hof hinauszurennen, aber an der Glastür der kleinen Wohnung fing sie jemand ab. Dieser Jemand war Tante Mumme.

Tante Mumme nahm Reni erst einmal in den Arm, um ihr zu gratulieren, und dann sagte sie etwas, was Renis Eifer, zu den Heimkindern im Hof zu gelangen, abbremste. Sie sagte:

„Aber Reni, die sind doch schon wieder weg! Die packen doch heute. Um zehn fahren sie allesamt ab. Hast du das denn vergessen?“

„Richtig!“

Reni lachte und hakte sich bei Tante Mumme unter, während sie miteinander in das kleine Familienwohnzimmer gingen. Dort war schon zum Frühstück gedeckt.

Sonst wurde draußen gefrühstückt, mit den Heimkindern zusammen. Zwischen den beiden Heimgebäuden lag der große Wohnhof, der an der dritten Seite von der niedrigen, langen Turnhalle abgeschlossen wurde. Diese Turnhalle lief von einem Haus zum anderen, und hinter ihr begann die Liegewiese, die sacht den Hang hinaufstieg. Im Wohnhof unter den drei dicken Kastanienbäumen standen ein paar eingerammte Tische. Hier wurde gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen, wenn es das Wetter irgend zuließ, und zwar saßen hier alle durcheinander, die jeweiligen Heimkinder, die Tanten, die sie betreuten, und die Familie – Renis noch ziemlich neue Familie, in der man sich nicht zurechtfand, wenn man sie nicht erklärt bekam: Da war Reni, ihre Mutter und ihr neuer Vater, der gleichzeitig der Onkel Doktor des Heims war. Dann gehörten noch Tante Mumme dazu, Vaters Schwester, die dem Heim vorstand, ebenso Christian, Vaters Sohn und Renis neuer Bruder, und schließlich Erika Niethammer, Renis Freundin, die für ein ganzes Jahr sozusagen ihre Schwester sein durfte. Diese merkwürdige und zusammengewürfelte Familie verteilte sich mit an den Tischen der Heimkinder, damit überall jemand saß, der Bescheid wußte und auf Ordnung hielt. Bei jedem Kinderschwung, der mit Geschwätz und Lachen ankam, mit großen und kleinen Sorgen und neuen Liedern, Spielen und Dummheiten, bei jedem dieser Kinderschübe machte Reni eine neue Tischordnung. Und dort, wo am ehesten Unfriede zu erwarten war, bei den größeren Jungen zum Beispiel, dort setzte sie Vater hin oder auch Christian. Vater konnte wunderbar ausgleichen, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, mit seinem trockenen Humor, seinen kleinen Geschichten, mitunter auch mit einer überraschenden Strenge. Und Christian, der schon sechzehn war, ähnelte in dieser Beziehung seinem Vater sehr.

Reni bewunderte sowohl den Vater als auch den neuen Bruder. Bis vor einem Vierteljahr hatte sie nur eine Mutter gehabt; Renis richtiger Vater war früh gestorben. Ein paar Wochen vor Ostern aber hatte sie den Onkel Doktor als neuen Vater bekommen und gehörte nun samt ihrer Mutter ganz und gar hierher, in das von ihr so heißgeliebte Heim am Berge. Hier war sie unter Tante Mummes Pflege aufgewachsen, das einzige Kind im Heim, das blieb. Tante Mummes und Onkel Doktors Dauerheimkind.

Renis Mutter war früher Gutssekretärin bei Erikas Eltern gewesen und nur selten ins Heim zu Besuch gekommen. Sie hatte sich immer nach ihrer kleinen Tochter gesehnt, und eines Tages war sie gekommen, um Reni zu sich zu holen. Erika, die ohne Geschwister aufwuchs, hatte sich so sehr eine Freundin gewünscht. So luden ihre Eltern Reni ein.

Erika war ein lieber und netter Kerl. Die beiden Mädel verstanden sich sofort. Aber Reni konnte das Heim und vor allem den zärtlich geliebten Onkel Doktor nicht vergessen. Sie sehnte sich, je länger desto mehr, nach beiden zurück und erreichte es schließlich, daß sie, mit Erika zusammen, für eine kurze Zeit wenigstens wieder zu Besuch dorthin fahren durfte.

In diesen Tagen geschah das Unglück. Renis Mutter stürzte mit dem Pferd und verletzte sich so, daß sie viele Wochen liegen mußte. Alle bangten um sie, Reni am meisten. Frau Jahnecke wurde nicht wieder richtig gesund. Reiten jedenfalls würde sie nie mehr können.

Das war eine ganz schreckliche Geschichte. Zum Glück kümmerte sich der Onkel Doktor um Mutter, und sein Wunsch, sie zu sich als seine Frau ins Heim zu holen, ging nun in Erfüllung. Reni bekam damit den besten Vater der Welt.

Sie besaß nun also alles, was ihr bisher fehlte. Sie, die bisher ein Heimkind gewesen war, stand mit einemmal mitten in einer Familie, die ihr gehörte. Das war so wunderbar, daß sie manchmal früh aufwachte und es nicht begreifen konnte.

Freilich, ein bißchen anders als in anderen Familien ging es hier schon zu. Das brachte der Betrieb des Heims einfach mit sich. Sechs Wochen verlor sich die so mühsam entstandene Familie des Doktors sozusagen ganz im Schwarm der Heimkinder, um dann für drei oder höchstens vier Tage allein zu sein. Das dauerte so lange, bis ein neuer Pulk mit Kindern anrückte. Reni kannte das nicht anders und war im großen und ganzen auch damit einverstanden. Nur manchmal fand sie es doch etwas störend.

Heute aber klappte es gut. Heute war ihr Geburtstag, und da rückten die Heimkinder gerade wieder ab. Man bekam noch das Geburtstagsständchen gesungen, man würde sicherlich dies oder jenes kleine Geschenkpäckchen zugesteckt bekommen, dann aber fuhren sie weg. Endlich konnte man in der Familie feiern. Morgen war nämlich außerdem Pfingsten. Reni hatte ihren Geburtstag mit Bedacht ausgewählt!

„... und daß du immer gesund bleibst und mich liebbehältst!“ schloß Tante Mumme ihre Ansprache. Reni hatte nicht ein Viertel davon gehört. Sie guckte gespannt auf ihren Platz am Kaffeetisch: kein Geschenk? Wirklich keins?

Ein Kuchen stand da, auch ein Lichterkranz, natürlich noch nicht angezündet. Auch Blumen, und die Tasse mit dem goldenen Rand, die nur an Festtagen benutzt wurde. Sonst nichts?

„Wann kommen denn die anderen?“ fragte sie und sprang von einem Bein auf das andere. Nur ein wenig, damit Tante Mumme nicht nervös wurde. Aber stillstehen konnte man nun einmal am Geburtstag nicht. „Und frühstücken wir wirklich hier? Bei uns?“

„Bei uns“ hieß die kleine Wohnung, die seit Mutters Einzug sogar eine Glastür bekommen hatte, damit sie richtig abgeschlossen werden konnte. Sie lag im Wirtschaftsgebäude des Heims, während sich drüben im anderen Haus die Schlaf- und Aufenthaltsräume für die Heimkinder befanden. Hier aber wohnten jetzt Vater und Mutter, ein Zimmer hatte Christian bekommen, und Reni teilte das, was sie von jeher innegehabt hatte, für dieses Jahr mit Erika. Dann gab es noch das Kaminzimmer. Reni fand, dieses sei das schönste von allen – und das kleine Wohnzimmer mit dem großen, breiten Glasfenster, an dem es so herrlich blühte. Seit Mutter keine Pferde mehr betreuen konnte, hatte sie ihr Herz für die Blumen entdeckt. Denn etwas mußte sie immer pflegen, außer den Kindern natürlich, die sie auch betreute, ihre drei „eigenen“, Christian, Erika und Reni, und die sechzig oder siebzig anderen, die alle sechs Wochen wechselten.

Zur Familie gehörte auch Tante Mumme, Vaters Schwester. Aber sie wohnte nicht hier. Sie hatte sich ganz mit Absicht und mit dem Starrsinn, den nur ganz kleine Kinder oder ältere Leute aufbringen, ein Zimmer außerhalb der Wohnung ausbedungen. Freilich lag es gleich neben der Glastür, dort, wo auch die Tanten und die Küchenmädchen wohnten, außer derjenigen Tante, die Dienst hatte und für eine Woche im anderen Haus schlief. Dort gab es ein helles, kleines Zimmer für die Nachtwächterin, und eine der Tanten hauste dort immer acht Tage lang, um gleich zur Hand zu sein, wenn eins der Heimkinder einmal schlecht träumte, nach der Mutter rief oder nachts plötzlich krank wurde.

Im Nachtwächterheim wurden auch manchmal lustige Feste gefeiert. Feste, zu denen man ganz heimlich im Schlafanzug erschien, und bei deren üppiger Bewirtung einen dann der Doktor überraschte, höchst erstaunt, drohend und brummend und schließlich auf den allgemeinen Spaß eingehend. Bei jedem Kinderkurs wurde dieser Jux gemacht, und es war furchtbar lustig zu beobachten, wie die jeweiligen Kinder sich benahmen, wenn der Doktor hereinschneite. Manche versteckten sich, andere machten sich gar nichts draus, wieder andere verstummten vor Schreck. Immer aber endete das Ganze mit einem großen, befreienden Gelächter, wenn der Doktor zugab, daß alles nur gespielt war und sich bei jedem Kinderkursus wiederholte.

Reni hatte sich diesmal zu ihrem Geburtstag gewünscht, daß es ein Geburtstag ganz „in Familie“ würde. „Ganz unter uns! Weiter wünsche ich mir nichts!“ hatte sie immer wieder gesagt. Und so war also der Frühstückstisch an Mutters Blumenfenster gedeckt und nicht wie sonst im Wohnhof.

„Wann kommen denn die anderen? Geht es nicht bald los?“ fragte sie neugierig. Tante Mumme schüttelte den Kopf.

„Aber Reni! Wenn drüben gepackt wird! Denkst du wirklich, da hat Mutter Zeit und Ruhe?“

Freilich, es war eine dumme Frage gewesen. Reni sagte sich das selbst und bemühte sich, kein saures Gesicht zu machen. Es gelang nicht ganz.

„Früher wurde immer ganz frühzeitig beschert“, murrte sie, „vor dem Frühstück sogar. Früher ...“

„Möchtest du denn, daß es noch so wäre wie früher?“ fragte Tante Mumme leise. „Daß du Mutter nur alle Vierteljahre einmal sehen könntest, und sie arbeiten müßte, weit von dir, bei anderen Leuten?“

„Ach wo. Das möchte ich nicht. Nie mehr möchte ich das!“ rief Reni eilig und sich selbst genauso überredend wie Tante Mumme. „Dann frühstücken wir eben erst um zehn. Wenn ich bis dahin nicht tot umfalle vor Hunger oder vor Spannung platze.“

„Spannung? Worauf denn? Ich denke, du hast dir nichts sehnlicher gewünscht als einen Geburtstag unter uns?“ fragte Tante Mumme scheinheilig.

„Selbstverständlich! Gerade deshalb soll er zeitig anfangen!“ rief Reni bestimmt. „Eigentlich ist es ja gemein: Um sechs wird man durch ein Ständchen geweckt, und dann muß man bis wer weiß wann hungern!“

„Komm, hier!“ Tante Mumme öffnete sogleich eine bunte Blechdose und schob Reni einen Keks in den Mund und ein paar weitere in die Hand. Sie zerfloß immer vor Mitleid, wenn man klagte. „Vielleicht kriechst du noch einmal ins Bett?“ riet sie. Reni lachte.

„Nein, Tante Mumme, das kann ich nicht. Aber ich weiß was: Ich renne jetzt hinüber, drüben wird doch jetzt gewogen. Aufschreiben, wieviel jedes Kind in den letzten sechs Wochen zugenommen hat, das kann ich genauso gut wie Mutter. Und da vergeht die Zeit schneller. Außerdem kann Mutter inzwischen etwas anderes tun. Meinst du nicht?“

„Ja, Reni, das ist ein guter Gedanke.“ Tante Mumme sah der davonlaufenden Reni liebevoll nach. Mitten im Hof stoppte diese übrigens plötzlich ab und drehte um. Tante Mumme wunderte sich. Dann aber lachte sie, denn gleich darauf hörte man es im Badezimmer rauschen. Reni holte das vorhin verschobene Duschen nach. Und Reni duschte immer so ausgiebig und heftig, daß das ganze Badezimmer schwamm.

„Nein, hier! Du magst doch keine Jagdwurst“, rief Reni und hielt den Jungen, der schon beinah an ihr vorbeigeschoben war, am Ärmel fest. „Da, Schweizer Käse. So, aber die Wurstbrote gib wieder!“

Die Kinder sahen jetzt, stadtfein gemacht, ganz anders aus als all die Wochen vorher. Sonst waren sie barfuß in Spielanzügen oder Shorts herumgesprungen, jetzt hatten sie Dirndlkleider und Schuhe und Strümpfe an, die Jungen Lederhosen und Joppen, manche sogar richtige Anzüge.

Heute gab Reni den Reiseproviant aus. In zwei großen Waschkörben lagen handliche kleine Päckchen, in Pergamentpapier verpackt, und die Kinder zogen zu zweit vorbei, während Reni verteilte. Sie hatte im Lauf der letzten Kursuswochen beobachtet, was der eine gern aß und der andere nicht mochte. Deshalb konnte sie den einzelnen manches empfehlen. Manchem, der frech gewesen war oder überhaupt grundsätzlich am Essen mäkelte, gönnte sie es, wenn er einen Aufstrich erwischte, den er nicht mochte.

Schließlich waren alle Abfahrenden im Hof versammelt und sangen das Abschiedslied:

Wahre Freundschaft soll nicht wanken,

wenn sie gleich entfernet ist,

lebet fort in den Gedanken,

und der Treue nicht vergißt ...

Das große Gepäck war schon verfrachtet, der Wagen bereits aus dem Hof gerollt; Tante Thea stand, im Kostüm, die Wandertasche über der Schulter, bereit. Sie begleitete den Kurs und kam erst morgen wieder. Die anderen Tanten hatten frei bis nach Pfingsten.

„Na, wer von euch möchte einmal wiederkommen?“ fragte sie, als der letzte Ton verklungen war.

„Ich, ich, ich!“ rief es von überall, und die Mädchen drängten sich an sie heran. Reni stand ein wenig abseits und lächelte.

So leicht kam keins der Kinder wieder. Mitunter schon, aber selten. Wirklich wiedergekommen war eigentlich nur sie, Reni.

Sie dachte daran, wie es früher gewesen war, wenn die Heimkinder abgefahren waren. Dann standen das große Haus und der geliebte Wohnhof leer, Tante Mumme suchte Zuflucht in der Küche und braute sich als Trost einen extra starken Kaffee. Wenn Reni allein vom Bahnhof zurückkam, fragte Tante Mumme, was für einen Pausenkuchen sie sich diesmal wünsche. Und Reni hatte dann die Tage gezählt, manchmal sogar die Stunden, bis die nächsten Kinder kommen würden.

Jetzt war das anders. Auch wenn nicht Geburtstag war, fieberte sie immer der Zeit entgegen, in der sie „in Familie“ lebten. Nein, traurig war sie nie mehr, wenn die Heimkinder abfuhren, so nette auch manchmal darunter waren.

„Ja, ich schreib dir, Inge“, versprach sie eifrig, während sie ringsum Hände schüttelte. „Ihr müßt aber auch schreiben! Ja, die Fotos bekommt ihr noch, das macht diesmal Christian, da geht es schnell. Ja, ich habe eure Anschriften!“

Endlich waren sie fort. Die letzte winkende Hand war um die Ecke verschwunden, man hörte das Schwatzen leiser werden, bis es verstummte. Reni faßte Erika an den Händen und wirbelte sie im Kreis herum, mitten im Wohnhof, aus lauter Lust am Dasein.

„Wenn es jetzt aber immer noch kein Frühstück gibt, verlange ich das Beschwerdebuch!“ rief sie, als Tante Mumme in der Tür des Wirtschaftsgebäudes erschien. Die lachte.

„Brauchst du nicht! Es kann sofort losgehen. Aber wollen wir nicht noch umdecken? Es ist so schön draußen. Da ist ja auch Erika – guten Morgen, du Langschläfer!“

Erika lachte und half den Tisch unter der alten Kastanie decken. Reni schleppte schon das Tablett mit den Tassen heran, Christian trug den Kuchen heraus, Tante Mumme die Kaffeekanne, und Mutter brachte den Lichterkranz und rief nach Vater.

„Ich zünde an! Jetzt geht endlich der Geburtstag richtig los!“

Nun saßen sie also allesamt um den verspäteten Frühstückstisch, Reni obenan auf dem Ehrenplatz, und aßen und tranken. Im Augenblick wurde kein Wort gesprochen, sogar Renis Mund, die „Klappermühle“, wie Christian sagte, schwieg. Das war kein Wunder. Denn tatsächlich: nur der Kuchen, der Lichterkranz und die Blumen prangten vor dem Platz für das Geburtstagskind. Sonst nichts. Kein Buch, keine Tafel Schokolade, nichts zum Anziehen. Reni versuchte, so zu tun, als wundere sie das gar nicht. Aber es gelang ihr nicht richtig. Alle lachten, Christian am meisten.

„Nun weine mal nicht, wir wollten so gern sehen, wie ein Mensch aussieht, dem der größte Wunsch in Erfüllung gegangen ist“, grinste Christian.

„Ich weine ja gar nicht“, sagte sie und verspürte die größte Lust, ihm die Zunge herauszustrecken, so lang sie war. Große Brüder hatten auch ihre Nachteile, das wußte sie nun schon. Aber sie tat es nicht, nein, nun gerade nicht. Sehr beschäftigt bot sie Kuchen an und gab Milch und Zucker herum, und dabei war sie im Innersten ganz fest davon überzeugt, daß noch was kommen mußte. Sie kannte doch ihren Doktoronkel – ihren Vater vielmehr! Während sie das dachte, mußte sie so lachen, daß er ganz erstaunt aufsah.

„So vergnügt habe ich dich ja noch an keinem Geburtstag gesehen“, sagte er. „Von jetzt an gibt es nie mehr etwas anderes als einen ungestörten Tag in der Familie!“

„Von mir aus!“ lachte Reni und blinzelte ihm zu. „Wann fahren wir denn?“ Sie hatte gesehen, daß der Wagen schon draußen stand, Vaters alter grauer Doktorwagen.

„Hast du es doch schon verraten, du Bengel!“ sagte der Doktor ärgerlich. „Du bist doch das reinste Waschweib, Christian. Ich sage nie wieder etwas.“

„Was habe ich denn verraten?“ fragte dieser empört. Er sagte es absichtlich in einem möglichst frechen, schnippischen Ton.

„Daß wir zu den Ponys fahren wollen“, sagte sein Vater aufgebracht. „Ich finde, man muß auch den Mund halten können. Wenn es schon nichts anderes als diese einzige Überraschung zum Geburtstag geben soll, dann muß es auch eine bleiben.“

„Zu den Ponys? Vater, wirklich? Ist das wahr?“ jubelte Reni und fiel dem neben ihr sitzenden Doktor so stürmisch um den Hals, daß seine Brille verrutschte. „Kaufen wir sie schon? Oder wollen wir sie nur ansehen? Vater, ist es weit? Und fahren wir jetzt gleich?“

„Ich glaube, Paul, jetzt hast du dich selbst verplappert“, sagte die Mutter trocken. Alle lachten. Der Vater schlug sich auf den Mund.

„Hab ich? Aber wenn Christian doch ...“

„Ich habe keine einzige Silbe gesagt!“

„Du hast gesagt ...“

„Ich habe gar nichts ...“

„Nun zankt euch nicht, sondern eßt“, mahnte Tante Mumme und schob dem Vater ein zweites Stück Kuchen auf den Teller. „Verraten ist es nun einmal, und ich finde, Reni kann sich auf der Hinfahrt noch ein bißchen vorfreuen, wenn sie schon sonst nichts bekommt, das arme Kind.“

„Das arme! Nur ein lebendiges Pony oder zwei!“ höhnte der Doktor und schob das Kuchenstück fast auf einmal in den Mund. „Wir bekamen zum Geburtstag ein Lineal, als wir so alt waren, oder ein Schreibheft! Und jetzt heißt es: ‚Nur ein Pony. Oder zwei! Oder drei!‘“

„Wer spricht denn von dreien“, sagte die Mutter schnell, „übertreib doch nicht so mörderisch! Außerdem habt ihr euch um meinetwillen die Ponygeschichte ausgedacht oder etwa nicht? Reni wird sowieso nur vorgeschoben, damit du deine Frau verwöhnen kannst, ohne daß es zu sehr auffällt.“ Sie sagte das lustig, aber man hörte den zärtlichen Ernst dahinter. Der Doktor winkte ab.

Aber es war so. Er und Reni hatten sich ausgedacht, für Mutter ein oder zwei Shetlandponys zu kaufen, weil sie nach ihrer Beinverletzung nie wieder würde reiten können und Pferde doch so sehr liebte. Bisher war man noch nicht dazu gekommen, diesen Plan auszuführen, nur gesagt hatten sie es ihr. Der Doktor war von jeher unfähig gewesen, eine Überraschung bei sich zu behalten, und so hatte er es ihr noch vor der Hochzeit verraten. Jetzt aber war es Mutter gewesen, die auf diesem Plan bestand. Und es war ihre Idee, ihn heute, an Renis Geburtstag, zu verwirklichen. Ach, das war wahrhaftig ein Geburtstagsgeschenk, wie es Reni nie bekommen, ja, niemals auch nur erträumt hatte!

„Wann fahren wir denn? Jetzt gleich?“ drängte sie schon wieder, und der Vater meinte, er würde sich nie wieder solch eine ewig quälende und ungeduldige Tochter anheiraten.

„Nicht einmal in Ruhe frühstücken läßt sie einen!“ stöhnte er. Dabei kam sein Frühstück heute wahrhaftig nicht zu kurz!

Ein langgestrecktes Gebäude, niedrig, daneben ein zweites, dem man ansah, daß es nichts als Ställe enthielt: Sie waren da. Vater bremste, und Erika und Reni purzelten fast aus dem Wagen, so eilig hatten sie es, auszusteigen. Sie standen schon am Tor und hopsten vor Aufregung von einem Fuß auf den andern, als die Erwachsenen endlich nachkamen.

Eine freundliche Frau öffnete ihnen und begrüßte sie. Sie war sofort im Bilde. Vater hatte ihr schon geschrieben. Sie sah die beiden Mädchen an und lachte.

„Ja, ihr werdet schon lieb mit unseren Kleinen sein, nicht wahr“, sagte sie erleichtert, als sie die vor Begierde und Glück brennenden Augen der beiden gesehen hatte.

„Hallo! Hansjörg! Günter!“ rief sie, und dann steckte sie die Knöchel von Zeige- und Mittelfinger der rechten Faust zwischen die gerundeten Lippen und pfiff.

Nicht sofort, doch bald trudelten zwei Jungen heran, etwa acht- und zehnjährig, die die Frau als ihre Söhne vorstellte. Auch sie sahen die Mädchen mit abschätzenden Blicken an, die mehr ihrer Größe als ihren Augen galten.

„Der kann aber nicht mehr drauf reiten“, sagte der Kleinere grollend und zeigte mit dem Daumen auf Christian. Seine Mutter gab ihm einen kleinen Puff in die Seite.

„‚Der‘ sagt man nicht, und zur Kundschaft schon gar nicht“, verwies sie ihn. Dann gingen sie alle miteinander los.

Sie betraten keine glatten, gepflegten Koppeln, auf denen nur Gras wuchs. Eher war es eine kleine Wildnis, mit Heidekraut, halbhohem Gebüsch, einem kleinen Bach, der sich an einer Stelle zu einem flachen Becken verbreiterte, mit Bäumen, vor allem Birken, und einem steilen kleinen Hügel. Die Frau pfiff noch einmal.

Dann kamen sie heran, nickende, dickbebuschte kleine Köpfe, runde Rücken, glänzende, aufmerksame Augen. Reni und Erika hatten Mutter natürlich unzählige Male gefragt, wie Shetlandponys aussähen, wie groß oder vielmehr wie klein sie seien, und sie hatten sich unwillkürlich kleine Pferde darunter vorgestellt. Jetzt waren sie eigentlich im ersten Augenblick enttäuscht, zum mindesten verblüfft.

Erstens waren die Ponys zwar klein, viel, viel kleiner als Pferde natürlich, aber sie wirkten nicht klein. Das kam daher, daß sie so außerordentlich stämmig waren, breit, mit prallen Kruppen und kräftigen, runden Rücken. Sie hatten komische, kurze Beine, an denen allerdings die niedlichsten Hüfchen saßen, mit einer kaum handtellergroßen Fläche. Doch, sie waren reizend! Nur komisch, ein bißchen verbaut, beinahe verkrüppelt sahen sie aus, wenn man an richtige Pferde gewöhnt war. Aber das war nur der erste Eindruck.

„Sieh nur, das dort! Eine Schecke! Und das braune mit dem dunklen Streifen auf dem Rücken! Und das ...“, Reni und Erika waren sich gar nicht bewußt, daß sie beinahe schrien. Auch Mutter und Tante Mumme tauschten laut und aufgeregt ihre Meinungen aus. Nur der Doktor und Christian, die sich sehr ähnlich waren, sahen ihren Frauen wohlwollend und belustigt zu.

„Dürfen wir uns wirklich eins aussuchen?“ fragte Reni schließlich erschöpft, nachdem sie ihren ganzen Zucker verfüttert, alle Nasen der kleinen Tiere gestreichelt und an sämtlichen Hälsen geklopft hatte. Auch Erikas Augen hingen gespannt an Vaters Mund. Der sah seine Frau an.

„Zwei sogar, nicht?“ sagte er leise. „Deshalb haben wir ja keine Hochzeitsreise gemacht, damit wir uns die Ponys leisten können. Aber wählt mit Verstand, hört ihr?“

Die Schecke war hübsch gezeichnet, schwarzweiß, mit einem dunklen Kopf, an dem ein schwarzes und ein weißes Ohr saß. Das bestach natürlich. Erika war entzückt von ihr, gleich anfangs, und Christian meinte, als er schließlich auch um seine Meinung gefragt wurde, sie sähe Erika ähnlich. Merkwürdigerweise störte sich niemand an diesem Ausspruch, denn irgendwie hatte er sogar recht. Nicht nur hatte Erika schwarze Zöpfe und sehr helle und klare Haut, auch in den Augen sah Christian eine Ähnlichkeit.

„Können wir denn da auch noch drauf reiten?“ fragte Reni atemlos. Die Frau sah sie an und lachte.

„Freilich, ein, zwei Jahre schon. Zwölf bist du? Wenn du nicht gar zu schnell wächst und schön schlank bleibst ...“

„Ich eß von jetzt an ...“, sprudelte Erika,

„... überhaupt nichts mehr“, vollendete der Doktor vergnügt. „Das hab ich mir immer gewünscht. Wo du uns doch immer die Haare vom Kopf gefuttert hast!“ Erika durfte ein Jahr lang im Heim bleiben, weil sie zu Hause einen so schrecklich schlechten Appetit hatte und sich rote Backen anessen sollte. Jede Woche fragte ihre Mutter besorgt und liebevoll an, wieviel ihre kleine Tochter zugenommen habe.

„Welches Pony würdest du denn aussuchen?“ fragte Vater jetzt leise und sah Mutter an.

„Den größeren Schwarzen dort“, antwortete sie ohne nachzudenken. Dabei wies sie auf ein Pony, das eigentlich gar nicht auffiel. Schwarz, ohne Abzeichen, stämmig und ruhig stand es da und rupfte Gras vom Boden.

„Warum?“ wunderte sich der Vater.

„Der trägt die Mädchen noch eine Weile“, sagte Mutter.

Reni hatte sich in ein Schimmelchen verliebt, das einen sehr schönen, gebogenen Schwanz hatte.

„Wie heißt es?“

„Schneeflocke“, sagte Günter. Renis Augen glänzten.

„Ich glaube, sie ist ein bißchen zierlich“, sagte Mutter zögernd. Sie konnte verstehen, daß jemand, der von Pferden nichts verstand, einfach nach der Farbe wählte. Sie sagte es der Besitzerin. Die lachte.

„Da wäre Ihre Kleine nicht allzu gut beraten! Im Sommer, ja, da ist sie ein Schneeflöckchen, aber im Winter sind Schimmel nicht so hübsch. Dann ist das Fell gelblich und wirkt schmutzig. Wenn man also nach der Farbe aussucht, muß man es schon richtig machen. Der Dunkle da, den Sie meinen, sieht im Winter sogar noch besser aus. Tintenschwarz und sehr schön.“

„Ein Hengst?“

„Ja. Und mit der Schecke nicht blutsverwandt. Wenn Sie also eine kleine Zucht beginnen wollen, wären die beiden das richtige. Die Schecke bekommt übrigens nächstes Frühjahr ein Fohlen. So wäre der Anfang schon gemacht.“

„Sagen Sie das den Mädeln nicht, das ist noch eine zusätliche Überraschung.“ Die Mutter hatte das ganz leise gesagt und lachte dabei in sich hinein. Die Frau nickte ihr zu. Nun hieß es also, Reni zu überreden.

„Ich finde aber die Schneeflocke viel schöner“, sagte Reni betrübt und ein bißchen beleidigt, wenn sie es auch nicht merken lassen wollte. Erikas Wahl war sofort gutgeheißen worden, und ihre? Dabei hatte sie doch heute Geburtstag!

„Aber siehst du denn nicht ein ...“

„Freilich, den Hengst zu reiten, dazu gehört schon etwas mehr Schneid als zu einem Schneeflöckchen“, sagte Christian in diesem Augenblick. Es klang abfällig und wie nebenbei gesagt. Reni aber hatte es wohl gehört.

„Meinst du, ich hätte Angst vor ihm?“ fragte sie gereizt. Christian zuckte die Achseln. Renis Augen blitzten.

„Darf ich mal versuchen?“ fragte sie die Frau. „Auf dem da, dem schwarzen Hengst! Wie heißt er?“

Er hieß Egon. Das war, wie die Mädchen fanden, eigentlich ein Grund, ihn nicht zu kaufen. Egon! Wie konnte man ein Pferd so nennen! Der größere der Jungen erklärte ihnen ein bißchen gekränkt, ein Hengst müßte nach seinem Vater heißen, jedenfalls den ersten Buchstaben des Namens mit dem Vater gemeinsam haben. Und außerdem könnte man ihn ja anders rufen.

Freilich, das blieb ihnen unbenommen. Reni ließ sich auf das kleine Pferd hinaufhelfen. Nein, Angst hatte sie wahrhaftig nicht!

Egon stand und ließ sich streicheln und in die Mähne fassen, und der Junge führte ihn ein Stück, während Reni sich um eine möglichst gute Haltung bemühte.

„Du hast recht, das Pferd ist stärker als die andern und wird auch von den größeren Kindern im Heim geritten werden können“, sagte Vater zufrieden. „Nun muß aber auch Erika noch mal auf ihre Schecke klettern. Die darf doch noch geritten werden, auch wenn sie ein Fohlen bekommt?“

„Bis Weihnachten ohne Bedenken“, sagte die Besitzerin, „und fahren kann man sie bis zum letzten Tag.“

Reni versuchte ihren Hengst ein wenig in Trab zu bringen, aber er schüttelte nur den Kopf und begann zu grasen. Das sah nicht sehr schneidig aus.

„Ich glaube, das ist Graf Egon der Faule!“ sagte sie und saß ab. „Aber warte nur, ich werde dir schon die Flötentöne beibringen!“ Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung wegen Schneeflöckchen nicht mehr anmerken zu lassen. Graf Egon war zwar auch hübsch, aber es pikte in Renis Herzen, daß Erika heute an ihrem Geburtstag etwas Schöneres bekommen sollte als sie selbst.

Lachte Christian? Wahrhaftig!

„Was grinst du denn?“ fragte sie verdrossen und gab ihm einen Stoß in die Seite.

„Ach, nur so. Heute früh bist du hochgesprungen, als du nur das Wort ‚Pony‘ hörtest, und jetzt ...“

„Ach, jetzt! Was ist denn jetzt! Quatsch!“ unterbrach Reni ihn schnell und beschämt. Wie recht er doch hatte!

„Ich freu mich so, Mutter. Und du findest ihn doch auch großartig, nicht wahr?“ fragte sie deshalb schnell und ein bißchen zu eifrig. „Darf ich ihn mir aussuchen? Und Erika die Schecke?“

„Ja, wir lassen sie übermorgen holen“, sagte der Vater.

So wurde es beschlossen, und die Erwachsenen gingen ins Haus. Die Mädchen aber und Christian blieben auf der Koppel. Sie konnten sich von der kleinen Herde nicht trennen. Und sie hatten so viele Fragen an die beiden jungen Gestütsbesitzer. Auch als sie nach Hause fuhren, waren sie noch ganz bei den Pferden. Ihre Münder standen nicht still, und sie warfen mit Fachausdrücken nur so um sich. Vater sah Mutter schmunzelnd im Rückspiegel an.

„Bist du nun zufrieden?“ hieß dieser Blick. Mutter lachte. Es hatte sie immer ein bißchen gekränkt, daß Reni sich so wenig aus Pferden machte. Reni, ihre eigene Tochter! Jetzt aber schien mit einemmal der Knoten geplatzt zu sein, und das freute sie natürlich. Hoffentlich war es nicht nur ein Strohfeuer! Bei Mutter waren Menschen, die nichts für Pferde übrig hatten, eben keine oder nur halbe Menschen, mit denen es nicht lohnte, sich zu beschäftigen.

„Manche Kinder reiten schon mit vier oder fünf Jahren“, erzählte Mutter. „Es ist sogar gut, wenn man zeitig anfängt. Voltigieren tun Kinder manchmal schon mit drei Jahren!“

„Was ist denn voltigieren?“ fragte Tante Mumme. Sie wußte am wenigsten von Pferden und schien anzunehmen, daß dies etwas ganz besonders Grausiges und Gefährliches sei. Mutter lachte.

„Zum Voltigieren nimmt man ein dickes, gemütliches, nicht zu großes Bahnpferd, das die meisten Dummheiten seines Lebens schon hinter sich hat“, erklärte die Mutter ruhig. „Auch ein Doppelpony mit einem so richtig breiten Rücken eignet sich dafür. Es bekommt einen Gurt umgeschnallt, an dem oben zwei steife Griffe angebracht sind. Dann läßt es der Reitlehrer an einem langen Zügel, einer Longe, im Kreis galoppieren. Ja, guckt nicht so entsetzt, galoppieren kann auch eine sehr gemächliche Gangart sein, auf und ab, wie ein Schaukelpferd, und gar nicht schnell. Dann müssen die Kinder eins nach dem andern neben dem Pferd herlaufen, und, während sie sich an den Griffen festhalten, aufspringen.“

„Im Galopp?“ fragte Erika zweifelnd.

„Freilich im Galopp“, sagte die Mutter lächelnd, „das klingt vielleicht doll, ist aber nicht so schwer. Sonst würden es ja so kleine Knirpse gar nicht schaffen! Und die schaffen noch mehr! Sie schlagen im Reiten die Beine über, vorn, hinten, ein zweites Kind springt auf, manchmal sogar drei hintereinander. Und ich hab schon gesehen, wie kleine Jungen und kleine Mädel sich während des Reitens auf den Pferderücken stellten, die Jungen mit den Händen in den Hüften, die Mädel die kurzen Röckchen rechts und links angefaßt wie kleine Tänzerinnen. Ja, mit meinen eigenen Augen hab ich das gesehen! Und dann sogar, wie eins dieser Kinder einem andern auf die Schultern kletterte, mitten im Galopp, und sie so ein kurzes Stück weiterritten und dabei lachten, als wäre es gar nichts. Ich kann euch Bilder davon zeigen!“

„Tatsächlich, Mutter? Aber das können wir doch auf den Shetlands nicht?“ fragte Reni.

„Nein, dazu sind sie zu klein für euch. Vielleicht lernt es aber das eine oder andere kleinere Kind, das zu uns ins Heim kommt. Wir wollen ja die Pferdchen nicht nur für euch haben.“

„Oooch“, sagte Reni gedehnt. Der Vater drohte ihr mit dem Finger.

„Reni? Nicht schon wieder maulen!“

„Aber gehören tun sie doch uns?“ vergewisserte sie sich kleinlaut.

„Freilich. Und zunächst sollt ihr auch reiten, das ist klar“, sagte die Mutter. „Ich gebe euch Stunden. Ach, Paul, ich freue mich ja so! Endlich wieder Pferde, endlich wieder Fellgeruch und Wiehern und Hufgetrappel und Lederzeug!“

„Natürlich. Wir sind jetzt alle abgemeldet“, sagte der Doktor ergeben, „jetzt gibt es endlich was, das du bemuttern kannst. Was ist eine leicht wacklige Tante Mumme, was sind drei Kinder – jaja, Christian, du bist auch noch eins, auch wenn du heimlich rauchst, ich weiß das doch, mein Sohn – gegen zwei Ponys. Vom dicken, gichtbrüchigen, pflegebedürftigen Onkel Doktor gar nicht zu reden, geschweige denn von den Heimkindern, die nach einem verstehenden Mutterherzen verlangen!“

„Du bist unverschämt“, lachte Mutter. „Man kann doch außer für Menschen auch noch ein Herz für Pferde haben.“

„Na, weißt du, wenn du noch nie was Verkehrtes gesagt hast, das die Tatsachen völlig auf den Kopf stellt, dann eben jetzt!“

Die Mädchen lachten, Christian grinste, und Tante Mumme klopfte Mutters Hand. Aber all dies Hin und Her störte nicht den wundervollen Tag, der genauso schön weiterging, wie er angefangen hatte. Und übermorgen schon sollten die Ponys geholt werden – es war einfach nicht auszudenken!

Reni und die Ponys

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