Читать книгу Reni und die Ponys - Lise Gast - Страница 6
II.
Оглавление„Nein, Reni, heute nicht“, sagte die Mutter. Sie hatte sich über Mittag hingelegt. Draußen herrschte eine glühende Augusthitze. Das Heim war voll, eigentlich überbelegt. Reni stand in der Tür des Schlafzimmers und machte ein saures Gesicht. Die Mutter sah es trotz des Dämmerlichts, das hier herrschte. Sie hatte die Läden vor die Fenster geschlagen.
Sie seufzte ungeduldig. Ihre Mittagsruhe war nach Minuten bemessen. Den ganzen Vormittag hatte sie in der heißen Küche gestanden, und nachmittags wartete ein Riesenberg Mirabellen, der eingekocht werden sollte, auf sie. Und die Hitze nahm sie so schrecklich mit. Daß Reni das nicht verstand!
Freilich, Reni war jung, und das Wort „müde“ gab es in ihrem Wortschatz nicht. Mutter konnte zum Beispiel nie begreifen, wie es ihr und Erika möglich war, in der Stunde nach Tisch Schularbeiten zu machen. Zu einer Zeit, in der jeder Erwachsene unfähig ist, geistig zu arbeiten, ja, überhaupt zu denken, wie ihr schien.
„Nun maul nicht“, sagte sie heftiger, als sie wollte, als sie Renis Gesichtsausdruck sah, „kannst du dir denn nicht vorstellen, daß ich kaputt bin? Vielleicht können wir abends reiten.“
„Ach, abends! Da hast du ja auch nie Zeit.“
Mutter wollte etwas sagen, schwieg aber dann. Sie legte sich zurück und sah zur Decke hinauf. „Nicht aufregen“, hatte Vater gesagt, „nicht ärgern.“ Sie war aber nicht verärgert, das wußte sie im tiefsten, sie war gekränkt. Daß es Reni fertigbrachte, so häßlich zu sein! Sie hatte doch jetzt wahrhaftig alles, was sie sich je gewünscht hatte. Und was tat sie? Sie stand da und maulte!
„Gut, dann reiten wir auch abends nicht“, sagte sie jetzt zornig. „Ich hätte es möglich gemacht, aber wenn du so bokkig bist!“
„Dürfen wir denn nicht ein einziges Mal allein reiten?“ fragte Reni und gab sich Mühe, es so bescheiden und freundlich wie möglich zu sagen.
„Reni, ich möchte es nicht. Der Graf ist ein Hengst, und ein Hengst ist und bleibt ein Tier, das stärker, wilder und gefährlicher ist als ein anderes Reitpferd, auch bei Ponys. Du weißt ...“ Sie brach ab. Dann begann sie von neuem: „Hör, ich habe eine Idee. Spannt die Kutsche ein und fahrt ein Stück, Erika und du. Ja, fahren dürft ihr. Nehmt den Klaus Schmidthenner mit, er langweilt sich so in seinem Gehgips. Und meinetwegen auch sonst noch irgendein Kind, aber eins von den größeren, aus dem oberen Schlafsaal. Und daß mir nichts passiert, Reni, hörst du? Nicht so verrückt fahren!“
„Sollen wir nicht vom Schraderhof Heu holen? Wir müssen doch welches haben“, fragte Reni.
„Ja, fahrt hin und fragt, ob ihr heute schon eine Fuhre bekommen könnt. Zurück müßt ihr aber laufen. Nur den Klaus setzt drauf, aber das Heu gut packen, verstehst du?“
„Natürlich!“ Reni verabschiedete sich eilig. Sie hatte Angst, die Erlaubnis könnte sonst wieder zurückgezogen werden.
Mutter, die sich gefreut hatte, daß sie nun noch einigermaßen übereingekommen waren, sah ihr betrübt nach. Hätte ihr nicht Reni noch etwas Freundliches sagen können?
Es war ja klar, daß das Kind wegstrebte. Kein Mädchen in diesem Alter sitzt gern bei der Mutter, der es nicht gutgeht, und spricht ihr zu, während es draußen Ponys und Kameraden gibt. Aber daß sie so gar nichts fragte! Christian war da ganz anders.
Aber die Mutter irrte sich. Reni dachte wohl an sie; sie hatte sie nicht vergessen, sobald sie die Tür hinter sich zugemacht hatte. „Mutter ist so anders jetzt“, dachte Reni, „und dabei sagt Vater doch, das Bein ist abgeheilt. Es ist beinahe, als gäbe es für Mutter jetzt wichtigere Dinge als die Pferde – und als die Tochter!“ Nein, das war häßlich gedacht. Aber es war doch wahr, immerfort sagte Mutter „nein“. Ein Wunder, daß sie heute wenigstens fahren durften!
Reni sprang zur Liegewiese hinauf. Erika lauerte schon. „Dürfen wir?“ fragte sie, als Reni atemlos anlangte. Reni nickte. „Fahren! Reiten nicht!“
Erika war enttäuscht.
Auch sie hatte Geschmack am Reiten gefunden. Freilich, sie ritt die Gräfin, und das war keine Kunst oder doch jedenfalls ungleich leichter und ungefährlicher. Die Gräfin war brav und willig und tat eigentlich alles, was der Graf ihr vormachte. Der Graf aber, „Egon der Faule“ – du lieber Himmel, wie man sich in einem Pferd doch täuschen konnte!
Reni hatte sich getäuscht, Mutter und die anderen übrigens auch. So etwas von Feuer und Temperament hatte keiner in dem kleinen Hengst vermutet, und Reni war oft drauf und dran gewesen, zu Mutter zu sagen: „Ich schaff es nicht. Wir wollen ihn umtauschen. Er ist mir zu wild.“
Sie hatte es aber doch nicht gesagt. Unzählige Male war sie heruntergeflogen, es gab keine Stelle an ihrem Körper, die nicht schon blaue Flecke gehabt hatte – zur Erinnerung an diesen frechen Ponyherrn. In letzter Zeit aber war es besser geworden. Reni hatte das Gefühl, als erkenne er sie jetzt an, als habe er begriffen, daß sie nicht nachgab. Und gerade jetzt durfte sie nicht weiterreiten! Bis morgen hatte er bestimmt alles vergessen, und der Hafer stach ihn wieder wie eh und je.
Ja, wahrhaftig, der Hafer. Sie gab ihm nämlich heimlich Hafer, obwohl das im Sommer angeblich nicht nötig war. Aber Hafer schadet doch nie, oder? Man sah es auch am Fell: der Graf spiegelte und glänzte, und seine Augen funkelten, wenn er stand und darauf wartete, daß sie aufsaß. Wenn er dann auch noch mit den vorderen Hufen scharrte, sah er wirklich wie ein kleiner Streithengst aus.
Auch jetzt. Als Reni pfiff, spitzte er die Ohren und sah ihr entgegen, aufmerksam und erwartungsvoll. Reni konnte es sich nicht versagen, fix mal auf seinen Rücken zu rutschen. Hier auf der Wiese, ohne Trense, das galt nicht als Reiten. Sie hatte sich eine Gerte vom Zaun gebrochen und versuchte, den kleinen Hengst damit zu lenken. Er ließ es sich ein Weilchen gefallen und kratzte dann die Kurve so eng, daß sie seitlich herunterflog. Lachend sprang sie ihm nach und nahm ihn um den Hals.
„Recht so, das tät ich auch! Aber warte nur, morgen, mit dem Zügel! Da wird gehorcht und das gemacht, was ich will.“
Sie zog mit den beiden Ponys ab, hinter dem Haupthaus herum, damit nicht alle Kinder sie sahen. Es war jetzt Ruhezeit, aber die meisten verbrachten sie nicht im Schlafsaal, sondern im Garten oder auf der Wiese in der Sonne. Das war erlaubt. Reni bat Erika noch, Klaus zu suchen, während sie selbst einspannte.
„Sonst nehmen wir aber keinen mit, das gibt nur Gezanke!“ bestimmte sie.
Den Wagen hatte ihnen Vater geschenkt. Auch ausgesucht – man merkte es. Da hatte ihn einer gründlich übers Ohr gehauen. Vater verstand von Autos etwas und von Krankheiten und Patienten sehr viel, gewiß mehr als irgendein anderer Arzt, aber von Ponywagen hatte er keine Ahnung. Reni fand es richtig nett, daß er damit so hereingefallen war, irgendwie liebenswert. Und sie verteidigte den Wagen immer heftig: er war eben schön und gut, weil Vater ihn ausgesucht hatte.
Nett anzusehen war er ja auch: gummibereift und sehr niedrig. Aber er war nicht kippsicher. Die Vorderräder drehten nicht unter, wenn man wendete, und auf diese Weise hatten sie es schon fertiggebracht, den an sich sehr flachen Wagen umzukippen. Passieren konnte dabei so leicht nichts, man lag eben nur irgendwo im Gras oder im Graben oder auch auf der Straße. Angst hatten die Kinder natürlich nicht um sich, sondern nur, daß den geliebten Ponys etwas geschehen könnte.
Alle im Heim waren wie verrückt auf die kleinen Pferde. Und alle, die es wollten, durften reiten, jedenfalls auf der Gräfin. Reni drehte es manchmal buchstäblich das Herz im Leibe herum, wenn sie zusehen mußte, wie manche Kinder aufsaßen. Richtig allein reiten durften nur die wenigsten, und auch die nur kurze Strecken. Christian führte die Ponys, und die Kleinen saßen drauf und waren stolz.
Mittlerweile war Reni beim Einspannen. Das war nicht ganz einfach, wenn man allein war, aber sie wußte sich zu helfen. Sie legte jedem der kleinen Gesellen eine Runkelrübe vor die Nase, an der sie dann knabberten, und währenddessen konnte man in aller Gemütsruhe Stränge anmachen, Zügel durchziehen und Karabinerhaken schließen. Als Erika mit Klaus ankam, war sie gerade fertig.
„Los, Abfahrt! Klaus, du kommst hier neben mich. Wir sollen Heu holen. Nein, kutschieren muß ich, wenigstens bis auf die Straße.“
Es ging hier bergab. Klaus sah ihr auf die Finger, und Reni war stolz. Auf der Straße knallte sie mit der Peitsche.
„Hoho, so fahren die Kosaken!“ und los ging es im Karacho. Der Hof, wo sie das Heu holen sollten, war nicht sehr weit entfernt. Es war aber nur die Großmutter zu Hause. Die anderen seien im Heu. Die Kinder könnten doch gleich dorthinfahren und von der Wiese aus aufladen, was sie brauchten.
Reni wendete also den Wagen im großen, vorsichtigen Bogen und fuhr den Weg entlang, den die Großmutter ihr beschrieben hatte. Sie fanden auch gleich die Wiese, wo die Leute damit beschäftigt waren, aufzuladen. Reni wollte eine Gabel haben und mithelfen, aber der Bauer meinte freundlich, das mache er lieber selber. Das Heupacken sei nicht so einfach, wie es aussähe. Reni ließ ihn werkeln und spannte ihre Pferde aus. Und nachdem sie sie ein Weilchen hatte fressen lassen, schnallte sie eben doch den Trensenzügel ein. Nur ein bißchen, nur hier auf der Wiese! Mutter erfuhr es ja nicht.
„Los, Erika!“
Auch Erika konnte nicht widerstehen. Sie saßen auf, und Reni ließ den Hengst erst ein paarmal rund um die Wiese laufen, einerseits, um ihn munter zu machen – Ponys müssen immer erst warmgeritten werden – ‚ andererseits, damit er nicht allzu übermütig wurde. Er merkte dann gleich, daß sie ihn dressierte und nicht nur laufen ließ.
„Springen sie auch?“ fragte der Junge des Bauern, der natürlich keinen Blick von den kleinen Pferden ließ. Reni war bisher erst einmal gesprungen, als sie sich plötzlich vor einem Graben gesehen und nicht mehr den Entschluß aufgebracht hatte, den Hengst abzustoppen. Es war wirklich leicht gegangen.
„Natürlich“, sagte sie deshalb.
„Komm, wir bauen was auf!“ Der Junge warf seine Heugabel weg und lief nach der Stange, die später über den vollen Wagen kommen sollte, um ihm Halt zu geben. Er legte sie mit dem einen Ende auf den Rand des Ponywagens, das andere Ende hielt er in derselben Höhe in der Hand.
„Los, versuch mal! Oder muß es höher sein?“
„Nein, laß mal so.“
Reni war nicht recht wohl zumute. Aber einmal mußte man es ja zum erstenmal tun. Wenn der Graf nur nicht verweigerte und sie das Hindernis, über seinen Kopf wegfliegend, allein nahm?! Sie hatte schon Bilder von Hindernisrennen gesehen, wo sich Pferd und Reiter auf diese Weise trennten. Ach was, ein Versuch schadete nichts.
Sie ritt vorsichtshalber so an, daß der Graf in Richtung Heimat galoppierte. Da war die Gefahr, daß er umkehrte oder ausbrach, nicht so groß. Alle Ponys gehen müde, wenn sie losfahren, und wie das Donnerwetter, wenn es nach Hause geht.
„Los, hopp!“ feuerte sie ihn an, fühlte, wie er sich zum Sprung zusammenzog, und klemmte die Knie an. Nur nicht ins Kreuz fallen beim Aufsetzen! Aber sie spürte das Aufsetzen gar nicht. Der Graf galoppierte in einem Zuge weiter, als wäre der Sprung nur ein etwas längerer und höherer Galoppsprung gewesen. Atemlos und mit vor Erregung trockenem Mund wendete Reni das Pony am Ende der Wiese. „Na?“
„Wunderbar!“ beteuerte Erika.
„Soll ich noch mal?“ fragte Reni. Sie war jetzt außer Rand und Band und hatte Mutters Verbot ganz und gar vergessen. Noch mal! Der Graf schien Geschmack am Springen zu finden und ging los wie das Donnerwetter, als sie ihn auf das Hindernis zu lenkte. Diesmal wäre sie fast ausgestiegen, weil sie nicht so konzentriert aufpaßte wie vorhin. Der Sprung war schlecht. Sie ärgerte sich.
„Gleich noch mal!“
„Willst du wirklich, Reni?“ fragte Erika. Aber Reni sah und hörte nichts.
Sie sprang noch dreimal. Zwei Sprünge davon gelangen leidlich, aber Reni, voller Ehrgeiz, wollte unter allen Umständen noch einmal einen solchen landen wie den ersten. Der Graf war schon ganz aufgeregt, warf den Kopf und trat hin und her.
„Los!“ kommandierte Reni wieder.
Sie hatte sich eine Gerte abgebrochen, weil die Fahrpeitsche zu lang war, und trieb das Pony damit an. Ponys haben ein dickes Fell, und ein paar darübergezogene Hiebe tun ihnen nicht weiter weh. Damit war Reni sonst sehr sparsam, vor allem deshalb, weil sie den Kindern im Heim kein schlechtes Beispiel geben wollte. Die droschen sonst unentwegt auf den geliebten Pferden herum.
Jetzt wischte sie dem Hengst eins an die Vorderhand, und als das nicht viel nützte, knallte sie ihm, um ihn in Galopp zu bringen, eins über die Kruppe. Dieser Schlag war vielleicht schärfer ausgefallen, als sie wollte. Der Hengst bockte, galoppierte dann aber doch an, aber so, als wollte er sagen: „Gut, wenn du es nicht anders haben willst!“
Reni hatte beide Zügel in der linken Hand, um die andere für die Gerte frei zu haben. Das tat sie manchmal, auch wenn die Mutter es nicht leiden konnte. Jetzt, als sie merkte, daß das Pferd ihr davonging, war es ihr Glück. Sie ließ die Gerte durch die Hand gleiten und griff in die Mähne. Da war schon das Hindernis. Der Graf wollte ausbrechen, sie gab Schenkelhilfe, aber nicht exakt genug, dazu ging alles viel zu schnell. Der Hengst, der vorhatte zu verweigern, mußte doch noch springen, aber er sprang schräg. Reni, die das geahnt hatte, war auf eine noch schrägere Richtung gefaßt gewesen und räumte den Sattel. Sie überschlug sich und fiel mit dem Kopf so gegen das eine Rad des Wagens, daß es ihr wild wie mit tausend Hummeln im Schädel brummte.
Sie saß benommen im Gras. Erika erzählte ihr später, es habe nur eine halbe Sekunde gedauert, bis sie sich wieder aufgerichtet hatte. Ihr aber war, als läge der Sprung weit, weit zurück. Sie blinzelte und sah um sich. Der Junge hatte die Stange fallen lassen und war dem Hengst nachgerannt. Der stand schon wieder. Das war ja das Gute bei den Ponys, sie gingen nie weiter durch als bis zu ihrem Kameraden. Ein Pony allein wäre viel schwieriger zu behandeln gewesen.
„Hast du ihn?“ rief Reni halblaut. Dann rappelte sie sich auf.
„Hat’s weh getan?“ fragte Erika ängstlich.
„Ach wo – doch, ganz ordentlich“, verbesserte sich Reni und hielt sich den Kopf, denn das „Ach wo“ wäre eine heillose Lüge gewesen.
„Du blutest ja!“
Wahrhaftig! Reni hatte eine ganz schöne Wunde am Hinterkopf neben dem Ohr. Eine Platzwunde. „Gut, daß das Rad nicht eisenbereift ist! Da wäre dein Schädel wahrscheinlich noch etwas mehr mitgenommen“, sagte der Bauer, der auch herangekommen war. Erika gab ihr ein ziemlich sauberes Taschentuch, das drückte sie darauf. Dumm war nur, daß die Haare naß und dunkel wurden, denn die Wunde blutete ziemlich.
„Ich leg mich lang, bis der Wagen aufgeladen ist“, sagte Reni. „Das Blut wird die Wunde schon verpappen.“ Sie widerstand als Tochter ihres Vaters heldenhaft dem Drängen der Bauersfrau, die Wunde auszuwaschen. „Wunden wäscht man nicht aus“, hatte der Doktor ihr von klein auf eingehämmert, „man wäscht sonst nur Schmutzstoffe hinein. Das Blut schwemmt sowieso alle Schmutzteilchen heraus, die etwa drin waren. Außerdem verklebt es die Wundränder durch das Gerinnen luftdicht und sicher. Was damit nachher zu geschehen hat, entscheidet der Doktor: das bin ich.“
So lag Reni ganz still und hörte es in ihrem Kopf sausen und hämmern, sie ließ auch zu, daß Erika ihr ein nasses Taschentuch auf die Stirn legte, und allmählich ließ das Sausen nach. Als der Wagen vollgeladen war, stand sie auf und probierte ein paar Schritte. Es ging schon wieder. Also konnte man einspannen.
Klaus wurde auf das Heu gesetzt, nachdem die beiden Mädchen ihm alle Höllenstrafen angedroht hatten, wenn er petzte. Nein, er würde nichts verraten. Zufrieden zogen sie ab, Reni und Erika neben dem Fuder gehend.
„Ist dir auch wirklich besser?“ fragte Erika, kurz bevor sie in den kleinen Pfad zum Heim hinauf einbogen. Reni nickte. Natürlich brummte der Kopf noch etwas.
Reni achtete darauf, sich ja nicht von allen Seiten zu zeigen. Die Mutter merkte nichts. Seit Reni mit Erika zusammen in einem Zimmer wohnte, halfen sich die beiden Mädchen gegenseitig beim Kämmen. Es war sehr unangenehm, den dicken Schorf in den Haaren zu haben. Nach ein paar Tagen mußte Reni feststellen, daß die Stelle zu eitern anfing. Sie mochte Mutter nichts sagen und ging zu Vater.
„So was!“ sagte er nur. „Seit wann hast du denn das?“
„Seit ein paar Tagen.“
„Beim Reiten passiert?“
Reni nickte.
„Ist Mutter dabeigewesen?“
Sie schüttelte den Kopf. So, nun wußte er es. Sie hatte wenigstens nicht gelogen.
Der Doktor sah sie an und dachte sich seinen Teil. Er dachte genau das Richtige. Aber er mochte nicht ins Predigen kommen.
Daß Reni wild war, war kein Unglück. Daß sie einmal fühlen mußte, wo sie nicht hatte hören wollen – in Ordnung. Aber er hatte Sorgen mit seiner Frau. Das war es, was ihn schweigen und überlegen ließ.
Sie war jetzt so labil, so anfällig, eigentlich nie ruhig und heiter. Freilich hing das noch mit ihrem eigenen Unfall zusammen, mit ihrem Unvermögen, wieder richtig zu laufen, mit dem Verzicht auf das geliebte Reiten. Sie jammerte nie. Aber sie war auch nie richtig froh. Und sie nahm alles, was vorfiel, unnötig schwer. Er mußte ihr ersparen, soviel er ihr ersparen konnte.
„Hör, Reni“, sagte er, „die Zöpfe müssen runter. So kriegen wir den Dreck nie raus. Bist du untröstlich?“ Er klapste ihr auf die Backe und lachte, als er ihr Gesicht aufstrahlen sah.
„Darf Erika auch ...?“ fragte sie atemlos. Das fand er nun wieder nett.
„Vielleicht. Wenn ihre Eltern nichts dagegen haben. Ich will auch gern ein gutes Wort für sie einlegen, damit sie nicht erst vom Hengst fliegen muß, um das zu erreichen. Zufrieden? Aber Reni, jetzt hör erst mal zu, was ich dir sagen will. Wirst du es richtig verstehen?
Wir sagen Mutter nicht, daß du heimlich doch geritten bist. Sonst tu ich das nie, so etwas vertuschen – ich habe aber meine Gründe diesmal. Mutter darf jetzt nicht aufgeregt werden. Wenn ich ihr sage, du hättest eine Wunde, aus der Turnstunde meinetwegen, die der Haare wegen nicht heilt, dann regt sie das nicht auf. Mutter ist ja soweit vernünftig. Wenn sie aber hört, daß du geritten bist, obwohl es verboten war – das war es doch?“
Reni nickte beklommen.
„Und wieso? Vom Reiten allein kommt das doch nicht?“ Der Vater sah sie an. Sie schlug ihre Augen nicht nieder, obwohl ihr die Knie weich wurden.
„Ich bin gesprungen“, sagte sie leise.
Jetzt war es heraus.
Der Vater schwieg. Dann seufzte er.
„Reni, es ist natürlich gut, daß du es mir sagst. Deshalb will ich auch nicht schimpfen. Daß das nicht wieder vorkommt, wirklich nicht, Reni, brauche ich wohl nicht noch mal zu sagen. Ihr sollt gehorchen. Sonst ist es ein für allemal aus mit den Ponys. Hörst du? Ich verstehe, offen gestanden, überhaupt nicht, daß du so was machst. Erika ist bestimmt nicht gesprungen, wie ich sie kenne.“
Reni sah vor sich hin. Er blickte sie prüfend an. Jetzt sah sie verbockt aus, trotzig, vorher war sie zugänglich und sogar reuig gewesen. Er rüttelte sie ein wenig. „Was? Na, nun red schon.“
„Mutter hat ja nie Zeit für mich“, sagte Reni leise. Es klang sehr traurig.
„Mutter nimmt sich genug Zeit“, sagte Vater heftig. Daß Kinder so ungerecht sein können! „Mutter hat eben wenig Zeit. Sie kümmert sich um das Heim und um die Küche, um die einzelnen Kinder, um Christian – ja, er ist ja auch ihr Sohn – und um mich. Jeder bekommt eben nur ein Stück von Mutter ab. Auch wir. Verstehst du das?“ Er sah seine kleine Tochter eindringlich an.
„Doch. Aber ich hab gedacht ...“ Reni stockte und schwieg.
„Was hast du gedacht?“ fragte der Vater und schüttelte sie wieder ein bißchen.
„Ich hab gedacht, oder ich hatte gedacht, wir würden jetzt eine richtige Familie sein“, sagte Reni leise. Es fiel ihr schwer, das alles auszusprechen, aber mit dem Doktor hatte man immer sprechen können, wie es einem ums Herz war.
„Gott sei Dank, daß sie das auch jetzt noch tut“, dachte er, trotz allen Kummers beglückt. Vielleicht konnte man ihr eben doch helfen, wenn sie sprach.
„Eine Familie wie andere auch haben. Mit Vater und Mutter, und Geschwistern, das ist klar. Aber so sind wir nicht. Du bist immer fort – na ja, dafür bist du Arzt. Aber Mutter ist auch nie da. Einmal rechnet sie abends mit Tante Mumme ab, einmal macht sie den Speisezettel oder eine neue Tischordnung, oder sie erledigt Neuanmeldungen, oder sie besprechen ein Abschiedsfest. Und abends ...“ Sie brach ab. Vater sah sie an.
„Abends?“
„Abends schickt sie mich ins Bett. ‚Du bist müde‘ – auch wenn ich überhaupt nicht müde bin. ‚Kinder brauchen viel Schlaf‘ – ‚Geh, sag gute Nacht –‘ und immer ich. Christian braucht nicht so zeitig ins Bett!“
„Christian ist ja auch älter als du, über vier Jahre!“
„Sicher. Aber er darf noch bei euch sitzen!“
„Christian hat seine Mutter verloren“, erinnerte der Doktor leise.
„Und ich meinen Vater“, sagte Reni trotzig. „Sogar eher als Christian seine Mutter. So zeitig, daß ich gar nichts mehr von ihm weiß. Nur das Bild habe ich noch.“
„Reni“, sagte der Doktor ernst und zog sie ein wenig an sich, „hast du keinen Vater?“
Sie wich seinem Blick aus.
„Sicher, ich hab dich, aber dich hab ich im Grunde auch nie. Jetzt jedenfalls. Früher ...“ sie verstummte.
„Aha“, dachte Vater, „da liegt der Hund begraben.“
„Früher war ich dein Kind, früher gehörtest du ganz mir, wenn du da warst“, sagte Reni verbissen. Nun war sie einmal dabei, auszupacken, so sollte es auch gründlich geschehen. „Ich durfte bei dir am Kamin sitzen, und du erzähltest mir ...“
„Aber doch auch nicht jeden Tag“, sagte der Doktor.
„Nein. Aber wenn du Zeit hattest. Jetzt, wenn du mal Zeit hast, sitzt du bei Mutter, und ich muß ins Bett.“
Bums, da hatte er es. Da war es, klipp und klar und fest umrissen. Er schwieg. Das Kind hatte recht. Aber – du gütiger Gott im Himmel – das war doch ganz in Ordnung so! Das war doch richtig! So geht es nun einmal in einer normalen Familie zu!
Ob sie das begriff, wenn er es ihr sagte? Sie hatte noch nie erlebt, in einer Familie zu sein. Erst war sie im Heim gewesen, wo er tatsächlich alle seine freie Zeit für sie bereitgehalten hatte; es war ohnehin wenig genug. Aber diese Stunden waren auch für ihn das gewesen, worauf er sich freute, und was ihn beglückte. Dann hatte sie bei Mutter gelebt, die berufstätig war. Da hatte sie sich zu ihm ins Heim zurückgesehnt. Nun war sie hier. Nun hatte sie eine Familie.
„Denkst du, das ist in andern Familien anders?“ fragte er leise und sah sie an. Sie hielt die Augen gesenkt.
„Ich weiß nicht, wie es in andern Familien ist. Es interessiert mich auch nicht. Bei uns soll es so sein. Ich bin doch auch immer für dich da, Vater, wenn du mich brauchst!“
Sie sagte das leise und sehr fest. Und sie hatte recht damit. Nie bat er umsonst, wenn Reni Zeit hatte und er sie brauchte, für irgendeinen Botengang, eine Gefälligkeit, eine Hilfe. Sie ließ alles stehen und liegen und lief und sprang für ihn. Sie liebte ihn leidenschaftlich und tief, liebte ihn mehr als ihre Mutter. Das war begreiflich – aber nicht in Ordnung. Trotzdem durfte sie sich dieser Eifersucht nicht überlassen.
„Reni“, sagte er sanft, „ich will, daß du mich liebhast. Aber Liebhaben darf nichts mit Geiz zu tun haben. Du willst nur haben, nichts abgeben. Siehst du, so ist das Liebhaben nicht gut. – Ich hab dich lieb, das weißt du. Aber deine Mutter hab ich auch lieb. Auch Christian. Dadurch wird doch meine Liebe zu dir nicht kleiner.“
„Nein?“ fragte Reni zaghaft. Das hatte sie sich noch nie überlegt. Sie hob nun ein wenig die Augen und sah ihn an. Und da, unter seinem warmen und zärtlichen und ein wenig kummervollen Blick war es, als taute der harte Trotz auf, der in ihr saß. Sie warf die Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn. „Nein? Wirklich nicht? Vater!“
„Wirklich nicht, Reni“, sagte er und hielt sie ganz fest, sprach über ihren Kopf weg, ganz leise. „Gar kein bißchen kleiner. Je lieber ich deine Mutter habe, desto näher stehst auch du mir. Du bist doch ihr Kind. Und jetzt, Reni ...“
„Jetzt?“
„Eigentlich wollte ich es dir gar nicht sagen. Aber vielleicht haben wir nicht so bald wieder eine solche Stunde, du und ich, wo wir nun einmal beim Auspacken von Geheimnissen sind. Willst du noch eins wissen? Wir werden, wenn alles gutgeht, Reni, vielleicht Anfang nächsten Jahres noch mehr zum Lieben haben, und eigentlich haben wir es jetzt schon, wenigstens ein bißchen“, sagte er. Verstand sie ihn? Wußte sie, was er meinte? Sie löste sich ein wenig von ihm, bog den Kopf zurück und sah ihn an.
„Vater?“
„Ja, Reni.“
„Oh!“ Doch, das war ein Jubelruf, so leise er klang.
„Na, Reni? Nun freust du dich? Soll es ein Brüderchen sein oder ein Schwesterchen?“
„Ein Brüderchen! Ein richtiges, Vater! Ein ganz, ganz richtiges!“
„Ja, Reni. Sind wir dann eine richtige Familie? Obwohl ich mir ausgebeten haben möchte, daß Christian dann nicht zu kurz kommt bei dir, verstanden? Christian ist auch dein richtiger Bruder, hörst du?“
„Ja, Vater. Bestimmt. Wir kabbeln uns nur manchmal ein bißchen.“
„Das dürft ihr. Das gehört dazu. Reni, du möchtest, daß wir eine richtige Familie werden. Ich möchte das auch, Kind, so sehr, es ist mein sehnlichster Wunsch. Aber denkst du, mit Wünschen allein ist das zu machen? Man muß das auch wollen, richtig fest wollen, jeden Tag wieder, damit es wahr wird. Verstehst du, was ich meine? Nicht vom Leben fordern und, wenn es einem nicht zufliegt, maulen, sondern selbst schaffen!“
Sie verstand es. Dieser Vater hatte ein Art, einem so etwas beizubringen, die gewiß nicht jeder Vater hatte. Er war ein wunderbarer Vater, ganz, ganz schrecklich lieb. Reni fühlte es so deutlich und dankbar in diesem Augenblick, daß ihr Herz überfloß.
„Ich will, Vater. Ich will wirklich! Ich verspreche dir ...“
„Versprich lieber nicht zuviel. Es ist besser, man hält, was man versprochen, als daß man zuviel verspricht. Aber du hast schon den richtigen Willen, da wird es auch werden, Reni.“ Er gab ihr einen Kuß. Das tat er nur selten. „Wir sagen es aber noch niemandem, das – nicht wahr?“
„Auch Erika nicht?“ fragte Reni atemlos.
„Doch. Erika kannst du es sagen, wenn du gerne möchtest. Aber sonst halt schön den Schnabel! Um so schöner ist es doch.“ Er stand auf, froh und erleichtert. „Und jetzt wollen wir die Zöpfe abschneiden, ja? Müssen wir da zu einem Friseur, oder machen wir es selbst?“
„Wir machen es selbst. Der Friseur kann es ja später nachschneiden“, sagte Reni eifrig. Vater könnte es sich womöglich wieder überlegen, wenn sie ihm Zeit ließ! „Komm, ich hole eine Schere.“
Wenn man Mutter hatte Aufregungen ersparen wollen – diesmal war es mißglückt. Reni sah so verheerend aus, als sie sich beim Abendbrot der Familie präsentierte, daß alle in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Weder Vater noch Reni hatten sich überlegt, daß ja zu jedem Handwerk eine gewisse Erfahrung gehört. Reni hatte bisher einen Scheitel getragen, in der Mitte, genau über der Nase. Der fiel jetzt noch immer, weil die Haare eben an diese Lage gewöhnt waren. Um das zu verdecken, hatten die beiden Helden schließlich vorn Fransen geschnitten. „Das müßte ganz leicht gehen“, hatte der Doktor gesagt. Es ging aber doch nicht leicht. Seinen Vorschlag, einen Topf auf Renis Kopf zu stülpen und alles, was darunter hervorguckte, abzuschneiden, hatte Reni ihm ausgeredet. Nein, wie sah sie aus!
„Wie eine Spelunkenlulu“, stellte Christian trocken fest, und Erika erstickte fast vor Lachen, während Tante Mumme weinte. Ihr hatten Renis Zöpfe immer so sehr am Herzen gelegen, sie hatte sie von klein auf gehegt und gepflegt, gewaschen und gekämmt, sie war wirklich traurig über den Verlust.
„Jetzt bist du gar nicht mehr meine kleine Reni“, sagte sie betrübt.
„Doch, Tante Mumme, doch“, beteuerte Reni, und es zuckte um ihren Mund. Sie, die sich beklagt hatte, sie bekäme nicht genug Liebe – wie viele Menschen hatte sie um sich, die sie wirklich ins Herz geschlossen hatten! Sie schämte sich sehr.
„Nein, so kannst du morgen nicht in die Schule gehen“, sagte Mutter schließlich. Sie trug das Ganze eigentlich am gelassensten. Nicht, weil es ihr nicht naheging, sondern weil Vater ihr vorher einiges gesteckt hatte. Und für Mutter war das Innere wichtiger als das Äußere.
„Ich gehe vormittags mit dir zum Friseur. Zeit hab ich ja eigentlich nicht dazu –“ sie sah Reni ein wenig hilflos an. Reni gab sich einen Stoß.
„Mutter, dafür helfe ich dir heute bei der Tischordnung. Darf ich? Du sagtest doch vorhin, du müßtest noch eine machen. Ich kann das, wirklich! Früher hab’ ich das auch oft getan. Nicht wahr, Erika, wir nehmen das Mutter ab? Und darf Erika nun also auch die Zöpfe abschneiden?“
„Da rufe ich eben heute abend Niethammers an“, sagte Vater gut gelaunt. „Wenn Erika möchte? Jaja, zerquetscht mich nur nicht. So ist es, erst gehorcht man nicht, und dann wird man noch dafür belohnt!“
Damit hatte er ja nun eigentlich Reni verraten, aber Mutter fragte vorsichtshalber lieber nicht nach! Sie lachte nur, und Vater lachte mit, und die Mädchen erst recht. Christian schmunzelte, nur Tante Mumme konnte noch nicht wieder lachen.
„Habt ihr wenigstens die Haare aufgehoben?“ fragte sie wehmütig. Reni lief und brachte sie ihr. Tante Mumme strich über die schimmernden Strähnen.
„Ein Jammer, ein ewiger Jammer!“ sagte sie und trug sie in ihre Stube, um sie, in weißes Seidenpapier eingeschlagen, dort aufzubewahren, wo Renis erster Schuh, ihr erster Zahn und ihre erste zerbrochene Puppe ein heimliches Stilleben bildeten.