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Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Dawn tot war.

Ich stand wie immer gegen drei Uhr nachmittags auf; ich machte Tee und aß Bananen und ein paar Marmeladenbrote zum Frühstück. Dann ging ich zum Trainieren und Duschen in Sams Fitnessstudio. Da versammelt sich die ganze Truppe von Deeds Promotions. Manche von uns trainieren profimäßig – Harsh und ich zum Beispiel. Die anderen hängen bloß dumm rum, posieren und tratschen. Ich gehe jedenfalls ins Studio, um in Form zu bleiben und zu erfahren, wann ich meinen nächsten Kampf habe. Außerdem hole ich mir da meine Börse ab.

Es gibt auf dieser Welt nicht viele Leute, die dir die Kohle bar auf die Kralle zahlen, wie es sich gehört. Du machst deine Arbeit, aber auf den Lohn lassen sie dich warten. Das haben sich die Oberbosse fein ausgedacht. Es ist doch so: Wer meinen Kampf sehen will, muss zahlen, sonst kommt er nicht rein. Also ist die Kasse voll. Wieso muss ich dann auf meine Kohle warten? Hä? Weißt du’s vielleicht? Wieso kriegt Mr. Deeds von Deeds Promotions, der bloß den ganzen Tag auf seinem fetten Arsch sitzt, seine Kohle zuerst? Und wieso bin ich, also diejenige, die die ganzen blauen Flecken und Beleidigungen erntet, als Letzte an der Reihe, wenn es ans Löhnen geht?

»Bitte sehr, zähl ruhig nach«, sagte er, als ob er mir einen Gefallen täte. »Es ist alles da, aber du kannst es ruhig nachzählen. Wie immer.«

Und ich habe es nachgezählt. Sonst müsste ich auch schön blöd sein. Bei meinem letzten Kampf hatte ich es mit einer gewissen Gypsy Jo zu tun, und als ich sie in der letzten Runde an den Knien runterriss, kriegte sie ein Bein frei und ist mir mit dem Stiefel auf den Ellenbogen getrampelt. Er tut mir seit Tagen weh, und wenn Mr. Deeds meint, ein schlimmer Ellenbogen wäre nicht wenigstens ein paar Scheinchen wert, ist er ein noch größerer Vollidiot, als seine Frau sowieso schon denkt.

»Du hast da eine Schwellung«, sagte Harsh. Er wurde heute auch ausgezahlt. »Du musst heiße und kalte Umschläge machen. Und den Arm schonen.«

»Ich trainiere es ab«, sagte ich, weil Mr. Deeds zuhörte.

»Stehst du auf der Verletztenliste?«, fragte er. Einen Arsch wie ein Elefant, Lauscher wie ein Karnickel und so viel Verstand wie eine Wollmaus.

»Ich doch nicht«, sagte ich. Wenn ich verletzt bin, gibt er mir keinen Kampf. Kein Kampf, keine Kohle.

Harsh sagte: »Damit wirst du dir mehr antun, als Gypsy Jo dir angetan hat.«

Ich wusste nicht, ob ich froh oder sauer sein sollte. Ich finde es schön, wenn Harsh sich für mich interessiert, aber leider gibt er dann meistens etwas von sich, was ich nicht hören will. Er hatte eine graue Jogginghose und ein altes schwarzes, ärmelloses T-Shirt an, und seine Deltamuskeln glänzten schweißnass vom Trainieren.

»Es hat jemand nach dir gefragt«, sagte er.

»Wer?«

»Hat sie nicht gesagt. Ein Mädchen.«

»Wann?«

»Vorhin.«

»Ich will hier keine Fremden haben«, sagte Mr. Deeds. Er meint, wenn die Leute wüssten, wie wir trainieren, würden sie uns im Ring nicht mehr ernst nehmen.

»Sie war nur am Eingang«, sagte Harsh. »Da habe ich sie getroffen.«

Harsh hat eine Engelsgeduld. Schließlich gehen Mr. Deeds die Unterhaltungen anderer Leute überhaupt nichts an.

»Sie hat gefroren«, sagte Harsh. »Also ist sie einen Augenblick reingekommen. Sie hat gesagt: ›Richten Sie Eva aus –‹«

»Da drüben«, sagte ich und zeigte mit dem Kinn zum Fenster. Harsh mag ein wunderbarer Catcher sein, aber wenn es darum geht, vor jemandem, der mich auf dem Kieker hat, den Mund zu halten, hapert es bei ihm ein bisschen.

»Was wollte sie?«, fragte ich, als wir allein am Fenster standen.

»Sie hat gesagt: ›Richten Sie Eva aus, dass Dawn tot ist.‹ Sie will dich sehen.«

Das war die ganze Botschaft. Mehr wusste Harsh auch nicht. Dawn war tot. Kein Wie, Warum oder Wo. Keine Ahnung, warum Crystal mich sehen wollte.

Das war das große Rätsel – wieso wollte Crystal mich sehen?

Daran, dass Dawn tot war, war nichts Rätselhaftes. Ein Blick genügte, und du wusstest, dass es mit ihr böse enden würde. Sie schlief für Geld mit Männern, und sie war nicht wählerisch. Sie war zu jeder Tages- und Nachtzeit besoffen. Sturzbesoffen. Sie konnte nicht auf sich aufpassen. Und wer nicht selbst auf sich aufpassen kann, ist erledigt. So einfach ist das.

»Tut mir leid, sagte Harsh. »War Dawn eine Freundin von dir?«

»Um Gottes willen«, sagte ich. »Sie wohnte bloß in derselben Gegend.«

»Trotzdem«, sagte Harsh.

»Trotzdem war sie nicht meine Freundin«, sagte ich und ließ ihn stehen.

Nach dem Aufwärmen ging ich an die Geräte. Ich konnte mir vorstellen, wie Dawn in einem Kühlfach im Krankenhaus lag. Aus irgendeinem Grund dachte ich, sie wäre ertrunken. Was spielte es auch für eine Rolle, wie sie abgetreten war? Sie war schon halb tot, als sie noch am Leben war. Sturzbesoffen, abgestürzt, tot. Ich ging an ein Gerät, mit dem man speziell die innere Oberschenkelmuskulatur trainiert. Du ziehst mit dem Fußgelenk ein Gewicht nach unten, bis das Bein ganz angewinkelt ist. Und so zählte ich die Übungen mit – ausgenutzt, ausgelutscht, abgestürzt, tot, fünf, sechs, sieben, acht. Und so weiter, immer schön im Takt. Dann auf der anderen Seite, alles noch einmal von vorn. Ich wollte meine Beine und Bauchmuskulatur richtig schön durchtrainieren. Und meine Ellenbogen schonen. Wie Harsh gesagt hatte.

Du hältst mich für ein herzloses Luder, stimmt’s? Oder du meinst, ich spiele dir das herzlose Luder nur vor, um meinen Ruf zu wahren. Weil die Londoner Killerqueen eine ganz Harte ist. Der ist es egal, ob ihre Gegnerin kleiner ist oder verletzt. Die knallt alle mit der Nase auf die Bretter, ohne Rücksicht auf Verluste. Und wenn die Londoner Killerqueen ein Herz aus Stein hat, muss Eva Wylie sich genauso abgebrüht geben. Dabei ist sie tief drinnen weich und warm und kuschelig.

Mach dir nichts vor. Dawn ist mir schnurzpiepegal. Was hat Dawn je für mich getan, außer mich in einer kalten Nacht vor die Tür zu setzen? Wer war damals das herzlose Luder? Sie, mit ihren Pralinen und ihren heizbaren Lockenwicklern. Hat sie sich einen Dreck um mich geschert? Hat sie nicht. Sie war jung und hübsch und so taufrisch, wie man es bei ihrem Leben überhaupt sein kann. Das war ihr Glück. Aber sie hat es nie mit jemandem geteilt, auch nicht mit ihrer kleinen Schwester.

Jung und hübsch, das war einmal. Gestern hatte sie eher verquollen und schwammig ausgesehen. Ein Fleischklumpen auf dem Bürgersteig. Jetzt war sie ein Fleischklumpen in einem Kühlfach.

Wenn ich eines Tages abtrete, dann mit einem Knalleffekt.

Ich will kein Fleischklumpen sein, den jeder ausgenutzt hat und keiner kannte. Wenn ich einmal abtrete, kennt jeder meinen Namen. Ich werde jemand sein. Du wirst schon sehen!

Also lass mich mit Dawn in Ruhe. Ich will nichts davon wissen.

Darum habe ich auch nicht nach Crystal gesucht. Was geht mich Crystal an? Ich kannte sie ein bisschen, als es uns beiden dreckig ging – eine Zeit, an die ich mich nicht allzu gern erinnere –, und wir leben beide auf demselben Quadratkilometer Südlondons. Das ist nichts Besonderes. Das tun zwei Millionen andere auch. Denen schulde ich genauso wenig.

Am Abend kam Crystal mich besuchen. Ich saß auf der Hängertreppe und aß kalte Spaghetti aus der Dose. Lineker scharwenzelte um mich rum, obwohl er weiß, dass ich ihm nichts abgebe. Er wird gefüttert, wenn er seine Arbeit gemacht hat, und keine Minute früher. Wieso sollte er besser behandelt werden als andere Berufstätige? Er ist schließlich kein Schoßhund.

Plötzlich hörten wir Ramses am Tor.

»Ro-ro-ro«, machte Ramses. Er bellt wie ein voll aufgedrehter Elektrobass.

Lineker stellte die Ohren auf, aber das war auch schon alles. Mir ging der Hut hoch.

»Lineker«, sagte ich. »Du bist ein gefräßiger, fauler Schwachkopf. Wenn ich dich nicht ins Herz geschlossen hätte, wärst du längst zu Katzenfutter verarbeitet worden – zu fünfzig Dosen Katzenfutter, bei deiner Größe.«

Mein Ton gefiel ihm nicht. Das war an dem Abend das erste Mal, dass bei ihm ein Fünkchen Verstand aufblitzte. Mir war auch wirklich nicht zum Spaßen zumute. Lineker drückt sich gern, wenn es schwierig wird, und das mag ich ganz und gar nicht.

Er lief los, machte »yak-yak-yak« und fletschte die großen weißen Zähne, als ob er es ernst meinte. Was ist dieser Hund doch für ein Angeber.

Ich bewaffnete mich mit Schraubenschlüssel und Taschenlampe und ging hinterher. Am Zaun hängt ein Schild, auf dem »Armour Protection« steht. Das Schild ist kaum noch zu lesen, und ich weiß auch nicht, wer Armour Protection war oder ob es die Firma je gegeben hat, aber jetzt nenne ich jedenfalls Ramses, Lineker und mich so. Es ist ein guter Name, klingt irgendwie gefährlich.

Als ich ans Tor kam, stand Ramses mit hochgezogenen Schultern und vorgeschobenem Kopf vor dem Zaun, und Lineker rannte aufgeregt auf und ab. Er kläffte immer noch, aber Ramses gab nur noch ein tiefes, stählernes Grollen von sich. Das hört sich schön unheimlich an. Wenn du direkt neben ihm stehst, kannst du zwischen ihm und dem Röhren einer 1000er Harley manchmal nicht mehr unterscheiden.

Ich schlug mit dem Schraubenschlüssel gegen den Zaun und schrie: »Wer ist da?« Ich dachte, es wären Kids, aber es war Crystal.

Sie sagte: »Eva, ich bin’s. Kannst du mal kurz rauskommen?«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin im Dienst.«

»Kannst du dann vielleicht irgendwas mit den Hunden machen und mich reinlassen?«

»Die sind auch im Dienst«, sagte ich. Es war mir peinlich, mich mit jemandem zu unterhalten, dessen Schwester in einem Kühlfach lag, und ich wollte zurück zu meinen Spaghetti. Außerdem war Crystal nicht allein, und wenn du glaubst, ich würde irgendwelche Fremden auf meinen Schrottplatz lassen, bist du noch dümmer, als ich dachte.

»Hat dir der Typ nichts gesagt?«

»Was für ein Typ?«

»Im Fitnessstudio«, sagte sie. »Er sollte dir was ausrichten.«

»Ach so, im Studio«, sagte ich. »Ich war heute nicht da. Ich habe meine Ma besucht.«

Was, wie du ganz genau weißt, eine dicke Lüge war. Ich hätte meine Ma besuchen sollen. Ich hatte sogar daran gedacht, sie zu besuchen, aber dann wollte ich mir lieber doch nicht die Ohren von ihr volljammern lassen. Genauso wenig wie von Crystal.

»Dann weißt du es noch gar nicht?«, sagte Crystal. »Dawn ist tot.«

»Scheiße«, sagte ich. Ich versuchte, mitfühlend zu klingen. Schließlich ist eine Schwester eine Schwester, auch wenn sie für ein paar miese Kröten ihre Haut zu Markte trägt.

»Sie haben sie in der Gasse hinter dem Full Moon zusammengeschlagen«, sagte Crystal. Also war Dawn doch nicht ertrunken. Ich weiß selber nicht, wie ich darauf gekommen bin. Vielleicht, weil sie so aufgedunsen ausgesehen hatte.

»Wir haben sie doch ins Bett gesteckt«, sagte ich. Ich wollte damit nichts zu tun haben. »Als wir gegangen sind, ging es ihr gut.«

»Sie muss wohl noch Durst gekriegt haben«, sagte Crystal. »Als ich nach Hause kam, war sie jedenfalls weg. Sie ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Heute Morgen habe ich es dann erfahren. Ich musste sie identifizieren. Eva?«

»Ja?«

»Ich hab sie nicht mehr wiedererkannt. So übel war sie zugerichtet.«

Dazu kannst du nicht viel sagen.

»Schnauze, Ramses«, knurrte ich. Ramses sah mich mit seinem Ich-bin-ein-Babyfresser-Blick an.

Die Fremde hatte noch keinen Mucks von sich gegeben, aber jetzt sagte sie: »Ich war gestern Abend im Full Moon. Ich glaube, sie ist mit zwei Kerlen mitgegangen.«

»Die blöde Kuh«, sagte ich.

»Sie war betrunken.«

»Trotzdem.«

»Crys?«, sagte die Fremde. »Hast du nicht gesagt, sie hätte Mitleid?«

»Nie im Leben«, sagte Crystal. »Ich habe bloß gesagt, dass sie vielleicht helfen kann. Aber kein Wort von Mitleid.«

»Worum geht’s hier eigentlich?«, fragte ich.

»Um ein paar Frauen, die im Full Moon anschaffen gehen«, sagte Crystal. »Sie wollen Karate lernen oder so.«

»Haha«, sagte ich. »Diese Schlampen?«

»Haha, ja« sagte die Fremde. »Wir ›Schlampen‹.«

Crystal sagte: »Dawn war nämlich nicht die Erste in unserer Gegend, die es erwischt hat.«

»Und sie wird auch nicht die Letzte sein«, sagte die Fremde. »Wenn wir uns nicht organisieren.«

»Ihr und euch organisieren?« Ich musste lachen. »Was habt ihr vor, wollt ihr eine Nuttenwehr gründen?« Ich konnte mich nicht wieder einkriegen.

Die Fremde richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, wobei nicht sehr viel herauskam, und sagte: »Für den Anfang sollst du uns erst mal Selbstverteidigung beibringen. Aber wenn du keine Lust hast, tragen wir unser Geld eben woandershin.«

Ich hörte auf zu lachen. Ich sagte zu Crystal: »Meint die das ernst? Und was hast du damit zu tun?«

»Eigentlich gar nichts«, sagte Crystal. »Es war nur so, dass ich unbedingt ins Full Moon gehen musste. Die Bullen sagen einem nämlich überhaupt nichts, Eva. Wenn es jemanden wie die arme Dawnie trifft, ist es ihnen ziemlich egal. Sie meinen, so eine hätte es nicht anders verdient. Deshalb musste ich ins Full Moon und herausfinden, ob sie noch jemand gesehen hat.«

»Und da saßen ein paar von uns ›Schlampen‹ rum«, sagte die Fremde. »Wir hatten eine kleine Lagebesprechung. Letztes Jahr hat es eine Kleine aus Leeds erwischt. Und im März die nächste Kollegin. Und jetzt Dawn. Das macht drei Tote.«

»Ich kann zählen«, sagte ich.

»Aber die Bullen nicht«, sagte die Fremde. »Drei ›Schlampen‹ sind für die nicht halb so viel wert wie eine einzige ›anständige‹ Frau. Von denen haben wir keine Hilfe zu erwarten. Also müssen wir uns selber helfen.«

»Genau«, sagte Crystal. »Als sie darüber geredet haben, musste ich die ganze Zeit daran denken, wie gut es gewesen wäre, wenn Dawn Ahnung von Selbstverteidigung gehabt hätte. Sie wurde andauernd durch die Mangel gedreht. Und da habe ich an dich gedacht und an deine Catcherei. Du könntest es ihnen beibringen.«

Ich starrte sie mit offenem Mund an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, es war so eine hirnverbrannte Idee. Ich sollte diesen Weibern Unterricht geben?

»Sie haben Geld«, sagte Crystal. »Sie können zahlen.«

Natürlich hatten sie Geld. Ich konnte mir bloß nicht vorstellen, dass sie es für etwas Sinnvolles ausgeben würden. Und dann war da noch etwas. Frauen, die sich ihre Brötchen im Liegen verdienen, sind meistens nicht die allerkräftigsten.

»Und?«, fragte die Fremde.

»Klappe. Ich überlege.«

»Hoffentlich brauchst du nicht die ganze Nacht dafür.«

»Wer bist du überhaupt?«

»Du kannst Bella zu mir sagen«, sagte sie. »Und ob du es nun wissen willst oder nicht, ich habe einen kleinen Jungen und einen alten Großvater zu versorgen, und es kommt nicht viel Kohle dabei rum, wenn ich mir hier vor deinem Tor die Beine in den Bauch stehe, während du dir lang und breit deinen Holzkopf kratzt.«

»Okay, super«, sagte ich grinsend. »Dann zieh doch ab. Mach dich vom Acker. Geh und lass dir den Popo anwärmen, und wenn du schon mal dabei bist, kannst du dir auch gleich noch deinen Holzkopf einschlagen lassen.«

»Du machst also mit?«, sagte Bella. »Ach, ist ja auch egal. Pass auf, ich mach es dir ein bisschen leichter. Ich sehe doch, dass das Denken nicht gerade deine starke Seite ist. Wenn du mitmachen willst, kommst du morgen Mittag ins Full Moon. Wenn nicht, kannst du mir mal im Mondschein begegnen. Klar?«

Damit drehte sie sich um und dampfte ab. Sie sah genauso aus wie das, was sie war. Und ich dachte, wie soll ich so einer Tussi in dem engen Röckchen und mit den hohen Absätzen das Kämpfen beibringen?

»Selbstverteidigung?«, sagte ich zu Crystal. »Die kann doch kaum laufen. Wozu soll ich ihr beibringen, wie man schlägt und tritt, wenn sie sich so bescheuert anzieht?«

Crystal und ich sahen Bella nach, wie sie von einer Straßenlaterne zur anderen stöckelte, bis sie schließlich am unteren Ende der Mandala Street um die Ecke verschwand.

Crystal seufzte. Sie hatte Jeans und ein T-Shirt an. Anständige Klamotten, genau wie ich. Aber auf Crystal würden sowieso keine geilen Freier fliegen. Sie hat ein Gesicht wie ein Affe, und sie schminkt sich nicht.

Sie sagte: »Kann ich reinkommen, Eva? Ich weiß nicht, wohin. In meinem Zimmer riecht es noch so nach Dawn.«

Ich konnte sie doch nicht zum Teufel jagen, oder? Du kannst mich ruhig einen sentimentalen Trottel schimpfen, aber ich konnte sie nicht einfach vor dem Tor stehen lassen, so elend, wie sie war.

»Du musst versprechen, dass du nicht heulst«, sagte ich, während ich aufschloss. »Ich kann Geflenne nicht ausstehen.«

»Ich flenne nicht«, sagte sie. »Ich bin wütend.«

Das hörte sich schon besser an. Also ließ ich sie rein und nahm sie auf einen Tee in meinen Hänger mit.

Crystal ist genauso wenig eine Heulsuse wie ich. Aber sie wollte reden. Das stört mich nicht. Ich höre gern Geschichten.

»Du hast Dawn nie gemocht«, sagte sie, als wir unsere Teebecher in der Hand hatten.

»Sie hat mich nie gemocht«, sagte ich. »Es wäre was anderes, wenn sie uns an dem Abend reingelassen hätte.«

»Du erinnerst dich immer nur an das Schlechte«, sagte sie.

Andersherum müsste ich schön blöd sein. Wenn du das Schlechte vergisst, wie sollst du es dann in Zukunft vermeiden können? Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Außerdem habe ich nie was Gutes von Dawn gehört.

»Dawn war nicht immer so«, fuhr sie fort und ließ die Oberlippe in den Tee hängen. »Nur hübsch, das war sie immer schon. Früher habe ich sie deswegen beneidet, aber das hat sich gelegt, als ich älter wurde. Alle wollen was von einem, wenn man gut aussieht. Wenn man hübsch ist, ist man immer die Doofe.«

Mit Doofen kennt Crystal sich aus. Deshalb ist sie auch so eine gewiefte Marktfrau.

Sie merkte nicht, dass ich grinste, und erzählte weiter. »Schon als sie noch ganz jung war, elf oder zwölf, haben sich die Kerle an sie rangewanzt, mit den üblichen blöden Sprüchen. ›He, schönes Kind. Darf ich dich einladen? Möchtest du tanzen gehen?‹ Und sie ist schon in Kneipen mitgegangen, als sie noch viel zu jung dafür war. Und sie dachte, die Kerle wären sehr spendabel. Sie wusste nicht, dass nichts umsonst ist. Alles hat seinen Preis.

Das erste Mal kam sie nach Hause, und sie weinte, und sie hatte Blut an den Beinen, und sie sagte, jemand hätte ihr wehgetan. Ab da hat sie dann gewusst, dass es nichts umsonst gab. Aber gelernt hat sie nichts daraus. Sie hat sich immer wieder verliebt. Sie glaubte an die Liebe. Sie hat gesagt, durch die Liebe fühlt sie sich wie ein richtiger Mensch.

Es gab da einen Kerl. Wir haben ihn manchmal auf dem Schulweg gesehen. Wenn wir mal zur Schule gingen. Er fuhr einen großen roten Wagen und trug todschicke Anzüge. Er hat Spielautomaten geleert.

Nach der Schule sind wir nämlich oft in den Fummelbunker gegangen. Und ich konnte sehen, dass er ein Auge auf Dawn geworfen hatte. Weil ich schon damals versucht habe, auf sie aufzupassen. Sie brauchte wirklich ein Kindermädchen.

Dieser todschicke Kerl, der hat immer zu mir gesagt: ›Verzieh dich, du Knirps. Du störst.‹

Und ich habe gesagt: ›Das erzähl ich unserer Mum. Deine Sorte kenn ich.‹

Und er hat gesagt: ›Du hast doch von Tuten und Blasen keine Ahnung.‹ Und dann hat er zu Dawn gesagt: ›Wenn du deine kleine Schwester unbedingt dabeihaben willst, kannst du mit den Jungs auch gleich auf den Spielplatz gehen.‹

Und dann hat sie gesagt: ›Hau ab, Crystal.‹ Und wenn sie mich wegschickte, musste ich gehen.

Einmal habe ich mir solche Sorgen gemacht, dass ich es tatsächlich unserer Mum erzählt habe. Und die hat es ihrem Mann erzählt. Und der hat uns mit dem Gürtel verprügelt und in unserem Zimmer eingesperrt. Aber Dawn war verliebt, und sie ist aus dem Fenster geklettert. Und sie hat wochenlang nicht mehr mit mir geredet. Darum hat sie mir auch nicht gesagt, dass ihre Tage ausgeblieben sind. Und als sie endlich doch damit rausgerückt ist, war sie schon im dritten Monat.«

»Ich wusste gar nicht, dass Dawn ein Kind hatte«, sagte ich.

»Hatte sie auch nicht«, sagte Crystal. »Sie hat es verloren. Beziehungsweise sie hat es bekommen, aber es war ganz blau bei der Geburt, und wir konnten es nicht retten. Es war nämlich so. Sie hat mir erzählt, dass sie einen Braten in der Röhre hatte, und dann haben wir beschlossen, mit diesem todschicken Typen zu sprechen. Sie dachte, er liebte sie auch. Sie dachte, er könnte es kaum abwarten, sie zu heiraten, und dass er sie nur deshalb noch nicht gefragt hätte, weil sie minderjährig war.

Aber das Erste, was er sagte, war: ›Woher soll ich wissen, dass es von mir ist?‹ Und das zweite: ›Heiraten? Ich glaube, da hätte meine Frau was dagegen.‹ So kam also raus, dass er eine Frau und zwei Kinder hatte, nicht viel jünger als Dawn.

Dann sagte er: ›Hier hast du ein paar Kröten, lass es wegmachen. Aber wehe, du lässt dich hier noch mal blicken und heulst mir die Ohren voll. Wenn du nämlich dann das nächste Mal in den Spiegel guckst, wirst du glauben, du stehst vor dem Schaufenster einer Metzgerei.‹ Genau so hat er es gesagt, Wort für Wort. So waren die Typen, in die Dawn sich verliebt hat.

Ich konnte auch nicht viel machen. Aber natürlich habe ich ihm die Reifen aufgeschlitzt und ihm einen Backstein durch die Windschutzscheibe geschmissen.«

»Natürlich«, sagte ich. Crystal ist wie ich. Sie hat eine Menge Selbstachtung.

»Aber er hat seine Meinung nicht geändert«, sagte Crystal, »Bis Dawn dann ihren ganzen Mut zusammengenommen hat und zum Arzt gegangen ist. Bis all die Tests gemacht waren, war sie schon fast im fünften Monat, und da wollte es ihr keiner mehr wegmachen. Und dann hat unsere Mum Wind davon gekriegt, und ihr Mann hat Dawn rausgeschmissen.«

»Und du bist wahrscheinlich mitgegangen«, sagte ich. »Um auf sie aufzupassen.« Wenn es meine Schwester gewesen wäre, hätte ich nämlich dasselbe gemacht. Nur dass meine Schwester nie so in die Bredouille geraten würde. Dafür ist sie viel zu klug, und mit Männern hat sie auch nichts am Hut.

»Klar«, sagte Crystal. »Wir sind nach London gegangen und haben auf der Straße gelebt, und eines Nachts kriegte Dawn Schmerzen, und dann kam das Baby, ein kleines Mädchen, ganz grün und blau, als ob sie verprügelt worden wäre, und sie wollte einfach nicht atmen, und deshalb haben wir sie im Garten von einem der Abrisshäuser in der Kipling Street begraben.

Eigentlich war es meine Schuld. Ich hatte den Dreh noch nicht raus und konnte nie so viel zusammenschnorren, dass Dawn genug zu essen bekam. Aber im Grunde war es besser so. Zu dritt hätte ich uns nie durchgebracht, und Dawn wäre bestimmt ins Heim gekommen. Das hätte sie nie ertragen.

Jedenfalls war sie von der Liebe geheilt, und der nächste Kerl, mit dem sie sich einließ, musste blechen. ›Crystal‹, hat sie zu mir gesagt, ›es ist genau dasselbe, wie wenn man es aus Liebe macht, man hat nur etwas mehr zu essen auf dem Tisch.‹

Und weil sie immer noch jung und hübsch war, hat ihr irgendwann ein anderer Kerl das Zimmer in Paddington gegeben. Und er hat auf sie aufgepasst. Und obwohl sie ihm zwei Drittel ihrer Einnahmen abgeben musste, ging es ihr trotzdem viel besser als je zuvor. So gut ist es ihr auch danach nie wieder gegangen.«

»Du wolltest doch nicht flennen«, sagte ich.

»Ich flenn doch gar nicht«, sagte sie. »Ich bin bloß wütend.«

Also lieh ich ihr ein T-Shirt, damit sie sich die Nase putzen konnte.

Eva sieht rot

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