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Gestohlene Jugend

Kindheit in Recklinghausen

Der Lebensweg von Emanuel Schaffer ist eng mit der deutschen Geschichte seit den 1920er Jahren verknüpft . Wenige Wochen nach seiner Geburt am 11. Februar 1923 im damals polnischen Drohobycz – in einem typischen osteuropäischen „Shtetl“ des bis 1918 österreichischungarischen Galizien –, zog er mit seinen Eltern und seinen beiden Schwestern zunächst nach Marl und später nach Recklinghausen, beides Orte am nördlichen Rand des Ruhrgebiets.

Emanuel Schaffers Mutter Hela Schaffer, geb. Odze-Tuch (geb. 23.06.1898) stammte aus Drohobycz, sein Vater Moses Schaffer (geb. 16.07.1893) aus dem benachbarten Porohy. Seine Eltern hatten 1918 geheiratet, am 17. Januar 1920 wurde die älteste Tochter Cila geboren, ein Jahr später am 18. Januar 1921 Salka.

Drohobycz war in der damaligen Zeit eine kleine Stadt in Ostgalizien mit einer multiethnischen Bevölkerung und gehörte zur 1918 gegründeten Zweiten Polnischen Republik. Polen, Ukrainer und Juden prägten das Stadtbild und das Alltagsleben der Kleinstadt. Mit nahezu 40 Prozent stellten die Juden die größte Bevölkerungsgruppe. Bis kurz vor der Geburt von Emanuel tobte um die Stadt herum der Kampf zwischen der kurzlebigen Ukrainischen Republik und Polen. Geprägt war das jüdische Leben im Weltkrieg wie auch zur Zeit der anschließenden Kämpfe von Unruhe und Pogromen. Es handelte sich schließlich um eine Region im Herzen der „Bloodlands ,“ die Timothy Snyder so eindrucksvoll geschildert hat.5 Für die jüdischen Bewohner dieser Region assoziierte sich historisch der Begriff Antisemitismus entsprechend eher mit Polen oder der Ukraine als mit Deutschland.


Moses und Hela Schaffer.

Quelle: Virtuelles Shtetl

Zentrum des jüdischen Lebens war die 1865 eingeweihte Synagoge, seinerzeit die größte Synagoge Polens. Die Wirtschaft der Stadt profitierte in Friedenszeiten von größeren Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Umgebung. Die Ausbeutung dieser Bodenschätze brachte viele Bewohner in Lohn und Brot. So auch Moses Schaffer, er war als Manager bei einer Erdölfirma tätig. Geschäftliche Beziehungen hatten ihn 1922 für einige Monate nach Deutschland geführt.

Warum er sich entschied, mit seiner Familie im Jahr darauf nach Deutschland zu gehen, liegt im Dunkeln ebenso wie die Entscheidung, sich zunächst in Hüls niederzulassen. Die sich abzeichnende wirtschaft-liche Krise in der Ölindustrie und die antisemitischen Attacken gegen die jüdische Bevölkerung in Galizien können ein Grund gewesen sein.6 Jedenfalls entschieden sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs viele Juden in den von Deutschland und Österreich-Ungarn abgetretenen Gebieten, nach Deutschland oder nach Österreich auszuwandern. Als die junge Familie Schaffer nach einigen Jahren in Hüls 1927 nach Recklinghausen kam, fand sie eine sehr aktive jüdische Gemeinde vor. Zahlreiche jüdische Vereine sorgten für ein vielfältiges und abwechslungsreiches Gemeindeleben.7 1925 lebten in der Stadt 451 Juden. Vor allem durch die Zuwanderung „vornehmlich orthodox orientierter Juden“ aus Osteuropa war die Gemeinde vorübergehend auf ca. 700 Mitglieder angewachsen, erreichte jedoch 1930 mit 452 Mitgliedern wieder ihren alten Stand.8 Ihre Gottesdienste feierte sie in der am 26. August 1904 eingeweihten neuen Synagoge an der Hedwigstraße (später Limperstraße)/ Ecke Westerholterweg.9 Unmittelbar in der Nähe der Synagoge, Am Steintor 5, befand sich die einklassige jüdische Volksschule, die auch Emanuel Schaffer und seine Schwestern besuchten. Emanuel wurde 1929 eingeschult. Gemeinsam mit seinen drei Schwestern – die jüngste Schwester Rosa kam am 19. August 1929 in Recklinghausen zur Welt –, wuchs er mit der deutschen Sprache auf, die seine Muttersprache werden sollte. Deutsche Staatsbürger wurden Moses Schaffer und seine Familie nicht, ein Antrag auf Einbürgerung hätte erst 15 Jahre nach der Einwanderung gestellt werden können.

In Recklinghausen bezog die Familie in der Paulusstraße 28 eine geräumige Vier-Zimmer-Wohnung. In dem Haus hatte Vater Schaffer gleichzeitig die Geschäftsräume seiner Firma „Menschenfreund“10, ein Abzahlungsgeschäft für Möbel und Konfektion, dessen Teilhaber er war.11 Das Geschäftsmodell von Abzahlungsgeschäften bestand darin, Waren gegen Ratenzahlung zu verkaufen. Geliefert wurde sofort, das Eigentum ging aber erst mit Begleichung der letzten Rate auf die Käufer über. Einer ehemaligen Mitbewohnerin des Hauses, Clara Huissen, zufolge hieß die Firma von Moses Schaffer entweder „Schaffer & Schüssler“ oder „Schüssler & Schaffer“. Das Unternehmen hatte noch „mehrere Handelsvertreter angestellt“. Die Wohnung der Schaffers war bürgerlich eingerichtet. Der Mietpreis betrug „100,— RM monatlich“, ein für die damalige Zeit stattlicher Preis für eine Wohnung. Der gehobene Lebensstil der Familie drückte sich – so Frau Huissen – darin aus, „daß Frau Schaffer seinerzeit schon sehr gut gekleidet war (Pelzmantel – Brillantringe u. sonstiger Schmuck)“. Hinter diesem Rückblick der guten Nachbarin auf eine Zeit, die bereits fast 40 Jahre zurücklag, verbirgt sich allerdings ein typisches antisemitisches Klischee.12 Offensichtlich hatte sich die Familie in kurzer Zeit gut in Recklinghausen etabliert und es zu einem gewissen Wohlstand gebracht.

In Recklinghausen entdeckte Emanuel Schaffer schon als Kind seine Leidenschaft für das Fußballspielen. Auf dem Schulweg „kickte er mit allem, was ihm im Weg lag“, was dazu führte, so Schaffer später in einem Interview, dass es „zu Hause […] dann oft Ärger wegen der kaputten Schuhe [gab]“.13 Einer seiner früheren Spielkameraden, mit dem er den Religionsunterricht besuchte, war Rolf Abrahamsohn. „Emanuel Schaffer war ein Fußballverrückter. Wir waren damals nicht die Frömmsten und haben lieber Fußball gespielt, als zum Religionsunterricht zu gehen, der vom Rabbiner Auerbach erteilt wurde“.14

Schon in dieser Zeit wurde er wohl von seinen Freunden nur „Eddy“ gerufen. Dieser Name sollte bis zu seinem Tode sein deutscher Rufname bleiben. Sein jiddischer Rufname war jedoch „Mundek“, die geläufige Abkürzung für Emanuel. In Israel nannten ihn seine Freunde „Munsek“.

Flucht zurück nach Drohobycz

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 in Deutschland veränderte das politische und gesellschaftliche Klima auch in Recklinghausen grundlegend. Der Antisemitismus wurde zur Staatsdoktrin. Aus ehemals angesehenen jüdischen Bürgern wurden jetzt „Staatsfeinde“, für die in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft kein Platz mehr war. Der Status der nicht-deutschen Juden im Lande war noch prekärer. Der im Jahr 1922 gegründeten NSDAP-Ortsgruppe in Recklinghausen war es zwar erst im Jahr 1930 gelungen, nennenswerte Wahlerfolge zu erzielen, sie machte dann aber schnell durch Groß-kundgebungen und SA-Umzüge auf sich aufmerksam. 15 Am Abend des 30. Januar 1933 demonstrierte sie auf dem Recklinghäuser Marktplatz mit einer „vaterländischen Kundgebung“ ihre Machtansprüche. Wenige Wochen später folgten die ersten antisemitischen Maßnahmen: das Verbot des rituellen Schächtens und die Veröffentlichung einer „Liste mit 84 Geschäften jüdischer Inhaber“ in der örtlichen Presse. Die antisemitische Hetze erreichte deutschlandweit ihren ersten Höhepunkt am 1. April 1933. SA-Wachen postierten sich vor den Geschäftseingängen und Arztpraxen jüdischer Inhaber, Spruchbänder wie „Deutscher, kauf nicht bei Juden! Wer bei Juden kauft, ist ein Volksverräter!“ waren quer über die Einkaufsstraßen gespannt.16

Moses Schaffer erkannte sehr schnell, dass es für seine Familie in dem neuen nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft mehr gab. Am 4. April 1933 flüchtete er mit seiner Familie aus Recklinghausen17 nach Metz, wo sie drei Tage später ankamen und zunächst in der Rue Pasteur 20 wohnten. In den nächsten Monaten wechselten sie zweimal ihre Unterkunft, blieben aber in der Rue Pasteur.18 Vater Moses Schaffer war bereits wenige Tage vor der nationalsozialistischen Machtübernahme nach Metz gereist und dort ab dem 25. Januar 1933 offiziell gemeldet, um sich nach einer entsprechenden Arbeit und vor allem nach einer Wohnung für seine Familie umzusehen.19 In Recklinghausen hatte sich schon länger abgezeichnet, dass er sein Abzahlungsgeschäft nicht erfolgreich würde weiterführen können, da er „von Schuldnern bedroht wurde – und oftmals von denen, welchen er gerade großzügig Kredit eingeräumt hatte“.20 Wie die Familie in Metz ihren Lebensunterhalt sichern konnte, ist nicht bekannt. Moses Schaffer hatte wohl versucht, auch in Metz ein Abzahlungsgeschäft aufzubauen – aber ohne großen Erfolg. Für die vier Kinder war die Flucht in das französische Metz ein tiefer Einschnitt in ihrem noch so jungen Leben. Herausgerissen aus ihrer gewohnten Umgebung und aus ihrem vertrauten Freundeskreis, mussten sie jetzt in einem Land leben, dessen Sprache sie nicht verstanden. Seitdem Elsass-Lothringen 1918 wieder zu Frankreich gehörte, war dort die deutsche Sprache im Erziehungssystem tabu. Aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse gingen Emanuel Schaffer und seine zwei älteren Schwestern in Metz nicht in die Schule.

In dieser Situation entschied sich die Familie, ins deutschsprachige Saarbrücken weiterzuziehen. Das Saarland war gemäß dem Versailler Vertrag seit 1919 deutsches Gebiet unter Verwaltung des Völkerbundes als Treuhänder. Am 3. August 1934 kam Familie Schaffer in Saar brücken an und wohnte zunächst in der Bahnhofstraße 19. Die Bahnhofstraße war die größte Einkaufsstraße der Stadt mit einem hohen Anteil jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte. Ohne die zahlreichen Geschäfte jüdischer Eigentümer wäre die „Entwicklung der Bahnhofstraße zu einer mondänen Einkaufsstraße […] kaum vorstellbar“ gewesen. Vielleicht war der Geschäftsmann Moses Schaffer aufgrund des „regen jüdischen Lebens“21 in der Saarmetropole zu der Überzeugung gelangt, dass hier ein sicherer Aufenthaltsort für sich und seine Familie sein konnte, wo er für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen konnte und seine Kinder wieder die deutschsprachige jüdische Religionsschule der Gemeinde besuchen konnten. Aber auch im Saarland war die nationalsozialistische Machtübernahme im deutschen Reich nicht ohne Folgen geblieben.

Wenngleich das Saarland und damit auch Saarbrücken zu der Zeit noch immer Mandatsgebiet des Völkerbundes waren und praktisch unter französischer Verwaltung standen, war die Stimmung „schon stark nationalistisch aufgeheizt mit Sympathie und vorauseilendem Gehorsam gegenüber NS-Deutschland“22. Am 28. August zog die Familie in den Saarbrücker Stadtteil Malstatt und dort in die Wilhelm-Meyer-Straße 1. Bereits wenige Monate, nachdem sie in Saarbrücken angekommen war, meldete sie sich am 26. November wieder ab. „In der Kartei ist Polen als neuer Ort angegeben“.23 Wenige Wochen später, am 13. Januar 1935, votierten 90,5 Prozent der saarländischen Bevölkerung im vom Versailler Vertrag bestimmten Volksentscheid über die Zukunft des Gebiets für den Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland. Die „Heimkehr der Saar“ erfolgte am 1. März 1935. Unmittelbar danach setzten in dem neu geschaffenen Gau Saarland unter dem Gauleiter Josef Bürckel die nationalsozialistischen Gleichschaltungs- und rassistischen Verfolgungsmaßnahmen ein. Wie zwei Jahre zuvor hatte Moses Schaffer rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt und floh erneut mit seiner Familie vor dem nationalsozialistischen Terror. Wäre die Familie im Saarland geblieben, wäre sie bereits im Oktober 1940 auf Befehl des Gauleiters mit den saarländischen und pfälzischen Juden in das südfranzösische Lager Gurs deportiert worden und später nach Auschwitz.

Emanuel Schaffer war zu diesem Zeitpunkt gerade elf Jahre alt. In Saarbrücken hatten er und seine Schwestern in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts die jüdische Schule besuchen können. Sie konnten sich wieder in einer Sprache verständigen, die sie beherrschten. Aber auch das war nur ein kurzes Intermezzo.

Ob die Familie Schaffer nach dem 26. November 1934 direkt nach Polen gereist ist, muss offenbleiben. Die nächsten Jahre liegen komplett im Dunkeln. In den verschiedenen kurzen biografischen Beiträgen über Emanuel Schaffer werden unterschiedliche Jahreszahlen genannt, wann die Familie in ihre alte polnische Heimat zurückgekehrt ist: In einem Interview mit dem „Virtuellen Schtetl“ sagte Emanuel Schaffer, dass der Vater Moses Schaffer nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im März 1936 in das entmilitarisierte Rheinland entschieden habe, nach Porohy/Polen zurückzukehren.24 Auch Piorr datiert die Rückkehr „ins ostpolnische Galizien“ auf das Jahr 1936.25 Borggraefe26 und Lämmer sprechen von einer Ausweisung „als polnische Staatsbürger in ihr Hei-matland“ 193727 und auch Schleicher datiert die Rückkehr „nach Drohobycz“ auf das Jahr 1937.28 Vorsichtiger in der Datierung ist Schröder, die die Rückkehr der Familie nach Polen auf „1936 oder 1937“ legt.29 Lediglich in einem Schreiben des Regierungspräsidenten Münster vom 8. April 1960 zu dem Antrag von Emanuel Schaffer auf Gewährung von Entschädigung wird festgehalten: „[…] bis sie am 26.11.1934 nach Stanisławów/Polen, wo die Erblasser im Jahre 1919 die Ehe geschlossen hatten, zurückgekehrt sind“.30 In seiner eidesstattlichen Erklärung vom 28. Februar 1965 bestätigt Marian Nadel, ein ehemaliger Nachbar aus Drohobycz, dass die Familie Schaffer bereits „im Jahre 1934 oder 1935“ nach Polen zurückgekommen sei.31 Da das einzige vorliegende amtliche Dokument aus Saarbrücken die Abreise aus der Stadt für den 26. November 1934 ausweist, ist davon auszugehen, dass die Familie Schaffer spätestens zu Beginn des Jahres 1935 wieder in Polen wohnte.

Für Emanuel Schaffer und seine Schwestern bedeutete die Flucht nach Galizien keineswegs die Rückkehr in ihre alte Heimat. Ihre Heimat war Recklinghausen, wo sie neun Jahre ihrer Kindheit und Jugendzeit verbracht hatten. Sie waren mit der deutschen Sprache aufgewachsen, die polnische Sprache und auch das Leben in einem Shtetl waren ihnen fremd. Eine Fortsetzung ihrer schulischen Laufbahn war unter diesen Umständen zunächst ausgeschlossen. „Ich brauchte eineinhalb Jahre, meine Schwestern sogar noch etwas länger, bis wir so gut polnisch konnten, daß uns die Schule aufnahm“.32 Vermutlich kam eine jüdische Schule, wo auf Jiddisch gelehrt wurde, für die Schaffers nicht infrage. Emanuel besuchte vom Ende des Jahres 1936 bis August 1938 die Volksschule in Stanisławów und im Anschluss von 1938 bis 1941 die technische Mittelschule in Drohobycz.

Nachdem die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfallen hatte, lebten die Schaffers in der von der Roten Armee besetzten Region in relativer Sicherheit. Am 23. August 1939 hatten die Sowjetunion und Nazi-Deutschland einen Nichtangriffspakt geschlossen (Hitler-Stalin-Pakt), der einerseits dem Deutschen Reich die Neutralität der Sowjetunion bei einem Krieg Deutschlands mit Polen und den Westmächten zusicherte und andererseits u. a. Ostpolen zum sowjetischen Interessengebiet erklärte. Am 17. September 1939 begann die sowjetische Armee mit der Besetzung Ostpolens. Die Schaffers lebten damit zwar unter sowjetischer Besatzung, waren aber noch geschützt vor der antisemitischen Verfolgung durch die Deutschen. Aber auch unter der sowjetischen Besatzung war das jüdische Alltagsleben in Galizien geprägt von politischen Restriktionen. Prominente Juden der Stadt wurden als Kapitalisten verhaftet und in die Sowjetunion deportiert.33

In Drohobycz konnte Emanuel Schaffer endlich wieder seiner Leidenschaft Fußball nachgehen. Er wurde Mitglied der Fußballmannschaft des jüdischen Klubs Betar Drohobycz, einem Klub der revisionistischzionistischen Jugendbewegung, der sich 1910 gegründet hatte.34 Ein Bild aus dem Jahr 1939 zeigt ihn im Kreis seiner Mannschaft (obere Reihe, Dritter von links). 25 Jahre später teilte er einer israelischen Zeitung mit, dass er als 16-Jähriger eigentlich nicht spielberechtigt gewesen sei und deswegen für ihn ein fingierter Spielerausweis unter einem falschen Namen ausgestellt wurde.35


Emanuel Schaffer bei Betar Drohobycz.

Quelle: Virtuelles Shtetl

Der Pakt mit Stalin hatte es Hitler ermöglicht, ohne Angst vor einer zweiten Front die Beneluxstaaten zu überfallen und zu besetzen sowie in Frankreich und in Teilen Skandinaviens einzumarschieren. Die Sowjetunion erweiterte ihr Einflussgebiet durch die Eroberung und Besetzung des Baltikums, Bessarabiens und der Nord-Bukowina. Hitler war der Überzeugung, dass sich der Kampf um die Hegemonie über Europa jedoch nicht im Krieg gegen die Westmächte entscheiden würde, sondern im „Krieg um den Lebensraum“ gegen die Sowjetunion. Am 18. Dezember 1940 wies er in seiner „Weisung 21“ die deutsche Militärführung an: „Die deutsche Wehrmacht muss darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen (Fall Barbarossa)“.36 Der geplante Krieg gegen die Sowjetunion war für Hitler von Beginn an ein rassenideologisch motivierter „Vernichtungskrieg“, wie er in einer Geheimrede am 30. März 1941 den 250 anwesenden Generälen, die die rund drei Millionen Soldaten des Ostheeres befehligen sollten, deutlich machte. Unmittelbar vor dem Angriff auf die Sowjetunion wurden die Soldaten mit einem „Kommissarsbefehl des Oberkommandos der Wehrmacht“ auf die Kriegsführung im Osten ideologisch eingestimmt. Danach verlange der Kampf gegen den Bolschewismus „als Todfeind des nationalsozialistischen Volkes“ ein „rücksichtsloses und energisches Durchgreifen“ und die „restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes“. Da im NS-Sprachgebrauch „Bolschewist“ und „Jude“ auswechselbar waren, bezogen sich diese Verhaltensrichtlinien quasi automatisch auch auf den „Kampf“ gegen Juden.37

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht „mit 153 Divisionen in drei Heeresgruppen, das waren drei Millionen Mann mit 600.000 Kraftfahrzeugen, 500.000 Pferden, 3.350 gepanzerten Fahrzeugen und 7.200 Geschützen“ die Sowjetunion.38 Wie in anderen Ortschaften Ostpolens und in den baltischen Staaten, die seit 1939 von den Sowjets besetzt waren, stachelten die neuen Besatzer auch in Drohobycz die Bevölkerung an, an Juden als Kollaborateuren der Sowjetunion „Rache“ zu nehmen. Dies war vor dem Hintergrund des in diesen Regionen verbreiteten Antisemitismus eine zynische, aber erfolgversprechende Taktik.39

Am 30. Juni wurde Drohobycz von der deutschen Wehrmacht erobert. Innerhalb von drei Tagen wurden über 400 jüdische Einwohner der Stadt von Ukrainern und Polen unter tatkräftiger Hilfe deutscher Soldaten ermordet. Diesem ersten Pogrom folgten Ausgangsbeschränkungen für die jüdische Bevölkerung und weitere Restriktionen. Vom 20. September 1941 an mussten sie am rechten Arm sichtbar weiße Armbänder mit dem blauen Davidstern tragen. Es folgten die Ermordung von 300 Juden am 30. November, Hungertod und Seuchen, bis es im März 1942 zur Vernichtung von 2.000 Drohobyczer Juden im kurz zuvor errichteten Vernichtungslager Belzec kam.40

In verschiedenen Befehlen hatte die Wehrmachtsführung ihren Soldaten zu verstehen gegeben, dass auch Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung von der deutschen Militärgerichtsbarkeit nicht verfolgt werden würden.41 Bekannt geworden ist zum Beispiel ein Fall im benachbarten Lemberg. Dort hatten die Sowjets vor dem Rückzug aus der Stadt mehrere im Gefängnis Inhaftierte umgebracht. Die neue deutsche Besatzung beschuldigte nun „die Juden“, für dieses Verbrechen verantwortlich zu sein; daraufhin fand unter Teilnahme der Wehrmacht im Lemberger Ghetto ein Pogrom statt, bei dem Hunderte von Juden ermordet wurden. Dort wurden übrigens einige Monate später auch zwei berühmte jüdische Fußballspieler, die früher der polnischen Nationalmannschaft angehört hatten, Leon Sperling und Zygmunt Steuermann, ermordet.42

Flucht nach Alma Ata

Emanuel Schaffer „war in der Schule, als die Nachricht“ vom Einmarsch der deutschen Truppen kam. In einem späteren Interview beschrieb er seine damalige Reaktion folgendermaßen: „Die Russen sind weggelaufen, also bin ich einfach mitgelaufen“.43 Gezeichnet von Krankheiten, erreichte er Baku in Aserbaidschan. Genaueres über diese mehr als 2.000 Kilometer lange Flucht Richtung Osten, die ganz sicher entbehrungsreich und kräftezehrend war, ist nicht überliefert. In Baku arbeitete Schaffer die folgenden zwei Jahre in einer Schuhfabrik, die für die sowjetische Armee produzierte. Von dort floh er weiter nach Alma Ata in Kasachstan, wieder mehr als 2.000 Kilometer weiter östlich. Dort landete er in einem vom NKWD (Geheimpolizei der UdSSR) kontrollierten Flüchtlings- bzw. Arbeitslager. Emanuel Schaffer wurde Mitglied der Lager-Fußballmannschaft, die, vom Kommandanten organisiert, Spiele gegen andere Lager- oder Lokalmannschaften austrug. Nach seinen eigenen Angaben spielte er in der Fußballmannschaft der Schuhfabrik des Lagers. In einem anderen Interview erzählte er, dass „die Russen“ ihn zuerst nach Nowosibirsk deportierten, er dort zwei Jahre lang Bäume fällte, bevor er erst im Jahr 1943 nach Alma Ata verlegt wurde, wo er zuerst für Spartak Alma Ata, dann für Dynamo Alma Ata spielte.44 Im Interview mit der israelischen Zeitung „Haaretz“ sprach er davon, dass er in der russischen Oberliga gespielt habe.45 Bei den Spielen ging es nicht nur um den sportlichen Erfolg. Die zusätzlichen Lebensmittel, die die Spieler erhielten, waren überlebenswichtig.46 In dieser Zeit erfuhr er von seiner Tante Luisa, dass seine Eltern und seine drei Schwestern von den Deutschen ermordet worden waren.47

Emanuel Schaffer wurde zu seinem Fluchtweg und zu seinen Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs bei verschiedenen Gelegenheiten und mit teils erheblichem zeitlichen Abstand befragt. Die daraus überlieferten Erinnerungen stimmen in manchen Details nicht überein, und etwaige Differenzen aufzuklären, scheint inzwischen unmöglich. Dennoch sind die Konturen seiner Fluchtgeschichte klar.

Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Ostpolen war die Familie Schaffer in das Ghetto Stanisławów bei Drohobycz deportiert worden. Zu diesem Zeitpunkt lebten dort ca. 40.000 Juden. Wenige Monate später fand eine erste Massenerschießung statt, geleitet von einem SS-Offizier namens Krüger. Am Morgen des 12. Oktober 1941 „mussten sich etwa 20.000 Juden an den verschiedenen Plätzen sammeln“ und wurden von „Polizisten und ukrainischen Hilfspolizisten zum jüdischen Friedhof“ getrieben. „An zwei vorbereiteten Gruben mussten sich die Juden in Kolonnen von 200 aufstellen und wurden nach und nach von SS-Männern, darunter Krüger selbst, erschossen. Mit Einbruch der Dunkelheit brach Krüger die ‚Aktion‘ ab. Etwa 10.000 Juden waren tot.“ 48

Nach der Aussage eines Nachbarn der Schaffers überlebten sie dieses Massaker. „Etwa Mitte April 1943 wurden sie von Drohobycz in unbekannte Richtung deportiert. Ich habe nie mehr etwas von ihnen gehört“.49 Es ist davon auszugehen, dass die Familie im Zuge einer der „Judenaktionen“ 1943 ermordet wurde. Es könnte aber auch früher gewesen sein, denn „Aktionen“ hatte es, wie oben geschildert, auch zuvor gegeben. Spätere Nachforschungen nach dem Schicksal von Moses, Hela, Cila, Salka und Rosa Schaffer verliefen ergebnislos.

Rückkehr nach Polen

Emanuel Schaffer kehrte nach dem Ende des Krieges nach Polen zurück. Die UdSSR, die den Ostteil Polens annektiert und dem polnischen Staat die deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie angegliedert hatte, „repatriierte“ polnische Juden, die sich während des Krieges in die UdSSR gerettet hatten, in die von Deutschen evakuierten Gebiete. So wurde auch Schaffer nach Schlesien „umgesiedelt“. Er ging nach Langenbielau (heute Bielawa) bei Breslau, wo er bei seiner Tante Luisa Nadel und ihrer Familie wohnte. Seine Verwandten hatten den Holocaust dank der Hilfe der polnischen Frau Makarowa überlebt, die Luisas Familie und ihren Bruder versteckt hatte.50 Ein Bild aus dem Jahr 1950 zeigt Emanuel Schaffer zusammen mit seinen Verwandten und Frau Makarowa.

Niederschlesien war in der Nachkriegszeit ein Zentrum des jüdischen Lebens. In Bielawa lebten über 5.000 Juden.51 Während es in den alten Teilen Polens in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu Judenverfolgungen, sogar zu Pogromen (wie z. B. in Kielce 1946) und anschließenden Massenfluchten, kam, verlief das Leben der Juden im ehemaligen Schlesien weitgehend normal. Sie konnten als Minderheit ihre kulturellen Einrichtungen pflegen, bis zur Wende in der Regierungspolitik im Jahr 1948.

In Bielawa nahm Emanuel Schaffer die Chance wahr, seine Schullaufbahn fortzusetzen. Da er jedoch nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügte, „seine Studien“ fortzusetzen, arbeitete er nebenbei als Verkäufer in einem örtlichen Textilgeschäft.52 Sein Aufenthalt in Bielawa ist dokumentiert in einer Registerkarte für Überlebende des Holocaust. Auf dieser Karte, datiert vom 26. März 1947, wird Emanuel Schaffer als Szefer Schaffer geführt, geb. 1. Februar 1923, Sohn von Mozes und Hela.,53 Der Ehemann von Luisa Nadel, Mozes Nadel, war zu dieser Zeit kommissarischer Bürgermeister in Bielawa. Durch seinen Onkel erhielt Emanuel Schaffer neue polnische Papiere mit einem „neuen“ Geburtsdatum: 1. Februar 1920.54 Die Altersgrenze für die Einberufung zum polnischen Militärdienst war in dieser Zeit 25 Jahre. Seine neue Identität bewahrte Emanuel Schaffer vor der Einberufung zur frisch gegründeten polnischen Armee. Später wurde die Altersgrenze auf 28 Jahre heraufgesetzt.55

Mit 22 Jahren setzte Emanuel Schaffer beim jüdischen Klub ZKS (Zydowski Klub Sportowy, Jewish Sporting Club) Wolnośċ (Freiheit) Bielawa seine Fußballkarriere fort. Der Klub wurde unmittelbar nach dem Ende des Krieges gegründet und hatte sieben Abteilungen: Fußball, Turnen, Boxen, Tischtennis, Leichtathletik, Radfahren und Skifahren.56 Von einem Spiel seiner Mannschaft gegen Ognisko Dzierżoniów am 23. März 1946 in Dzierżoniów gibt es ein Dokument. Es war offensichtlich nicht das erste Spiel, denn der Bericht spricht von zahlreichen Zuschauern, die die Begegnung der beiden führenden Mannschaften des Bezirks erwarteten. Schaffer schoss in der 55. Minute ein Tor zum zwischenzeitlichen 4:0 für Bielawa. Das Spiel endete letztlich mit einem 5:1-Sieg der Gäste.57


Emanuel Schaffer (zweiter von re.) in der Mannschaft des ZKS Bielawa.

Quelle: Virtuelles Sthetl

Sehr schnell wurde das fußballerische Talent Schaffers über Bielawa hinaus bekannt. In den folgenden Jahren wurde er zwölfmal (oder gar 17-mal)58 in die niederschlesische Auswahlmannschaft berufen − der einzige Jude in der Mannschaft. In einem Zeitungsinterview erwähnte er auch seine Teilnahme an einem Trainerkurs für Jugendmannschaften im Jahr 1948. Als die polnische Regierung in den Jahren 1948 und 1949 im Zuge der neuen Regierungspolitik im stalinistischen Sinne das jüdische Vereinswesen verbot, endete zunächst wieder einmal seine Laufbahn als Fußballer. Auf der Liste der aktiven Spieler des Jewish Sporting Club in Bielawa vom März 1948 ist Emanuel Schaffer unter den namentlich genannten 25 Spielern nicht aufgeführt.59 Ob er von Juli 1947 bis zum Juni 1950 bei Śląsk Wrocław gespielt hat60, konnte nicht verifiziert werden.61

Nach seinen eigenen späteren Angaben studierte er ab 1948 bis zu seiner Auswanderung nach Israel drei Semester an der „Sportschule für Leibesübungen in Breslau“.62 Über die Tschechoslowakei, Österreich und Italien floh er vor der Einberufung in die polnische Armee nach Israel. Die genauen Umstände seiner Flucht, Zeitpunkt, Dauer und Zwischenstationen sind nicht bekannt. Auch in späteren Interviews hat Schaffer sich nicht dazu geäußert. Einzelheiten über den Leidensweg von Shoa-Überlebenden nach dem Krieg interessierten Sportfans wie auch das allgemeine Publikum in Israel wenig.

Emanuel Schaffer

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