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1916-1942: Die Ära von Joseph Franklin Rutherford
ОглавлениеDer Weg zur Macht
Joseph Franklin Rutherford wurde der zweite Präsident der Ernsten Bibelforscher. Der Weg dorthin war allerdings nicht einfach. Wie es dazu kam und welche Neuerungen Rutherford einführte, wollen wir in diesem Kapitel betrachten. Wie ging es nach dem Tod von Charles Taze Russell weiter?
In Russells Testament waren verschiedene Gruppierungen erwähnt worden, welche die Nachfolge Russells gemeinsam antreten sollten. Die Machtfülle, die vorher im Wesentlichen in seiner Person vereinigt war, sollte sich auf drei Gremien aufteilen. Leider waren die Kompetenzen dieser drei Gremien nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt. Um welche Gremien handelte es sich?
Da war zunächst das siebenköpfige Direktorium der Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft. Aber in Konkurrenz zu diesem Direktorium setzte Russell in seinem Testament ein fünfköpfiges Herausgeber-Komitee für die Zeitschrift „Zions Wachtturm“ ein. Mindestens drei der fünf Herausgeber mussten den Artikeln zustimmen, damit sie in „Zions Wachtturm“ erscheinen konnten. Dieses Komitee stand zunächst unabhängig neben dem Direktorium. Hinzu kam als drittes das Gremium der fünf Aktien-Bevollmächtigten, allesamt Damen, die Russell als Verwalterinnen seines Vermögens eingesetzt hatte. Auffallend ist, dass Russell nicht einen Nachfolger eingesetzt hat, sondern immer Gruppen von Nachfolgern, um die Macht und Finanzen möglichst demokratisch zu verteilen. Es sollte also keiner die Alleinherrschaft besitzen.
Das Testament war allerdings – und hier sitzt das Problem – so nicht durchführbar. Die erwähnten fünf Damen hatten das Aktienpaket von 25.000 Stimmen unter insgesamt zirka 150.000 Stimmrechten erhalten. Der Rest verteilte sich auf etwa sechshundert Aktionäre. Nach Russells Tod nun wurde behauptet, mit seinem Heimgang seien auch seine Aktienanteile erloschen. Die Damen ließen sich einschüchtern und verzichteten auf ihre Stimmen, die nun unmittelbar der Wachtturm-Gesellschaft bzw. ihrer Leitung zugute kamen. Dietrich Hellmund vermutet, dass hinter diesem „Meisterstück“ einer Entmachtung wahrscheinlich „der Juristenverstand Rutherfords“ steckte.
Das nächste „Meisterstück“ betraf das Herausgeber-Komitee. Um Mitglied im Herausgeber-Komitee zu werden, musste man in die Bethel-Familie eintreten (das ist die Mitarbeiter-Gemeinschaft in der Brooklyner Wachtturm-Zentrale) und dort für ein Taschengeld arbeiten. Anderweitige berufliche Bindungen waren aufzugeben. Dazu aber war nicht jeder bereit, auch nicht alle von Russell vorgeschlagenen Komitee-Mitglieder. Zwei Kandidaten, William A. Page und E. W. Brenneisen, schieden deshalb von vornherein aus – „Page, weil er seinen Wohnsitz nicht nach Brooklyn verlegen konnte, und Brenneisen … weil er eine weltliche Arbeit annehmen musste, um seine Familie zu ernähren“ (JZ, S. 65). An deren Stelle rückten dann Robert Hirsh und J. F. Rutherford nach. Sie wurden vom Direktorium ausgewählt, das somit eine Vorrangstellung vor dem Herausgeber-Komitee erhielt.
Nachdem Rutherford dem siebenköpfigen Direktorium und dessen dreiköpfigem Ausschuss bereits angehört hatte, gelangte er nun auch noch beim Herausgeber-Komitee in die erste Reihe der Macht. Bereits seit Jahren hatte er die juristische Arbeit für die Wachtturm-Gesellschaft vorgenommen und dadurch tiefen Einblick in deren Strukturen erlangt. Dies half ihm beim weiteren Aufstieg. Auf Betreiben Rutherfords kam es immer mehr zu einer Zentralisierung der Leitung, und zwar in seiner Person. So war es kein Wunder, dass er bei der Jahresversammlung am 6. Januar 1917 auf Anraten des Direktoriums-Mitglieds A. N. Pierson zum Nachfolger Russells und Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft gewählt wurde. Diese Wahl wurde aber nicht von allen widerspruchslos hingenommen. Doch bevor wir uns mit den Auseinandersetzungen beschäftigen, werfen wir zuerst einen Blick auf Rutherfords Persönlichkeit.
Joseph Franklin Rutherford wurde am 8. November 1869 auf einer Farm in Morgan County/Missouri geboren. Seine Eltern waren Baptisten. Mit 16 Jahren besuchte er ein College, um Rechtswissenschaften zu studieren. Mit 20 Jahren fungierte er bereits als Protokollführer für die Gerichte des 14. Gerichtsbezirks in Missouri. 1892 wurde er als Rechtsanwalt in Missouri zugelassen. Er eröffnete eine Praxis in Boonville und wurde Prozessanwalt der Firma Draffen und Wright. Später war er als Staatsanwalt und vertretungsweise auch als Sonderrichter am Gericht des achten Gerichtsbezirks von Missouri tätig. Von dieser Tätigkeit als Sonderrichter her wandte er den Titel „Richter“ auf sich an. Von seinen Anhängern wurde er – nicht ganz korrekt – als „Richter Rutherford“ bezeichnet, ähnlich wie Russell den Titel „Pastor“ für sich in Anspruch nahm. Als Jurist war Rutherford so erfolgreich, dass er ermächtigt wurde, Rechtsfälle vor dem Obersten Gerichtshof der USA in Washington D. C. zu führen. Von 1909 bis zu seinem Tod fungierte er als Staatsanwalt in New York, zum Teil noch neben seiner Präsidentschaft der Wachtturm-Gesellschaft her.
1894 hatte Rutherford von zwei Anhängerinnen Russells an der Haustür drei Bände der „Schriftstudien“ (damals noch „Millennial Dawn“) erhalten, was sein Interesse an dieser Bewegung weckte, doch sollte es bis zu seiner „Taufe“ noch bis zum Jahre 1906 dauern. Seit 1907 schließlich war er als Rechtberater der Wachtturm-Gesellschaft tätig, wobei er den zunehmend kränklicher werdenden Russell auch „theologisch“ bei Auftritten und Disputen vertrat. Als Rechtswahrer aller Angelegenheiten der Wachtturm-Gesellschaft besaß er die höchste juristische Gewalt und war schon längst de facto Vertreter Russells, auch wenn er nachher unter den Komitee-Mitgliedern nur in zweiter Reihe genannt wurde.
Ein Beispiel, wie skrupellos und gerissen Rutherford vorgehen konnte, macht ein Vorfall aus dem Jahre 1915 deutlich, das Hellmund erwähnt. J. H. Troy war ein baptistischer Prediger aus Südkalifornien. Er forderte Russell zu einer öffentlichen Diskussion heraus. Russell führte öfter Diskussionen mit Vertretern der Kirchen. Diesmal aber war er gesundheitlich verhindert. Rutherford nahm stellvertretend die Herausforderung an. Nun war 1915 ein ziemlich schwieriges Jahr für die Ernsten Bibelforscher. Die Voraussagen für das Jahr 1914 waren nicht eingetroffen. Troy hatte also alle Trümpfe in seiner Hand.
Aber Rutherford gab sich nicht verloren. Er einigte sich mit Troy schriftlich darauf, dass jeder tausend Dollar als Garantie dafür hinterlegen solle, dass man nicht über persönliche Dinge diskutiere. Man durfte Russell nicht mit Schmutz bewerfen, was etwa wegen seiner Ehe häufig in der Öffentlichkeit geschah. Troy ging darauf ein in der Meinung, man könne dann wirklich sachlich diskutieren.
Nun aber bestellte Rutherford Troy drei Minuten vor Beginn der Diskussion in den Nebenraum des Saales und erinnerte ihn daran, „dass wir uns kraft einer Garantie von 1.000 Dollar verpflichtet haben, davon Abstand zu nehmen, Personen anzugreifen“. Darauf fragte Troy: „Ja, darf ich Russell nicht einmal erwähnen?“, worauf Rutherford antwortete: „Nein, sonst sind sie ihre 1.000 Dollar los.“ Troy war nun völlig verunsichert und wirkte in der Diskussion farblos und blass. Die gescheiterten Terminberechnungen Russells konnten nicht mehr ins Feld geführt werden.
Der Umgang mit der 1914-Krise
Als Rutherford Präsident der Wachtturm-Gesellschaft geworden war, hatte er drei Aufgaben zu erfüllen: Erstens musste er Reformen organisatorischer Art durchführen, vor allem die Werbearbeit neu beleben. Die Ernsten Bibelforscher hatten ja durch die Enttäuschung von 1914 und die Skandale um Russell schwere Rückschläge erlitten. Zweitens – und das hängt eng mit dem ersten Punkt zusammen – musste er die Vergangenheit bewältigen, vor allem die unglaubwürdig gewordenen Zeitprophezeiungen „korrigieren“ und auch den Personenkult, der sich um Russell gebildet hatte, modifizieren – das heißt: ihn von Russell wegnehmen und auf die Wachtturm-Gesellschaft übertragen, die mehr und mehr von Rutherford repräsentiert wurde. Drittens musste er mit menschlichen Problemen, vor allem mit Mitarbeitern und Konkurrenten fertig werden. Es existierten Mitkonkurrenten um das höchste Amt der Gesellschaft, und Rutherfords Präsidentschaft war anfangs keineswegs unangefochten. Diese Kämpfe dauerten ungefähr ein Jahr lang sehr vehement an.
Das erste war die organisatorische Reform und Belebung der Werbearbeit. Rutherford erhöhte die Zahl der sogenannten „Pilgerbrüder“, Kolporteure und Pioniere, die als Missionare oder Zeitschriften-Verteiler dienten, sehr stark. Die bisher nur lose miteinander verbundenen Versammlungen oder „Ekklesias“ wurden zentralisiert und mit Dienstanweisungen aus der Brooklyner Zentrale versehen. Große Kongresse wurden veranstaltet. Die gesamte Organisation wurde gestrafft. Dies führte zu einem riesigen Anwachsen der „Bibelforscher“-Bewegung unter Rutherford und seinen Nachfolgern.
Das zweite war die Vergangenheitsbewältigung. Das Schrifttum Russells musste umgedeutet werden. Die nicht erfüllten Prophezeiungen waren auszutilgen oder zu aktualisieren. Wenn man von den Original-Fassungen Russells ausgeht, muss man hier von Fälschungen sprechen. Beispiele hierfür werden wir noch kennenlernen. Ein weiterer Kunstgriff Rutherfords war die Herausgabe von Band 7 der Schriftstudien. Aufzeichnungen, die Russell hinterlassen hatte, wurden von Rutherfords Mitarbeitern George H. Fisher und Clayton J. Woodworth zusammengestellt, aktualisiert und erweitert. Vieles wurde vermutlich völlig neu geschrieben. Der Titel dieses Bandes lautete Das vollendete Geheimnis. Die Kelter des Zornes Gottes und der Fall Babylons (1917).
In den Bänden 1 bis 6 der Schriftstudien wurden beispielsweise die Jahreszahlen teilweise verändert. Einige Beispiele möchte ich hier zitieren. Ich nenne Unterschiede zwischen der Auflage von 1914 und der Neuauflage von 1926 des Bandes Dein Königreich komme. In diesem Band setzt Russell die biblische Chronologie parallel zu den Maßen der Cheops-Pyramide und führt im Jahr 1914 aus:
„Diese Berechnung zeigt das Jahr 1874 n. Chr. an, als den Anfang der Periode der Trübsal markierend; denn 1542 v. Chr. plus 1874 n. Chr. macht 3416 Jahre. So bezeugt die Pyramide, dass der Schluss des Jahres 1874 der chronologische Anfang der Zeit der Trübsal war“ (S. 327).
In der Neuausgabe von 1926 heißt es hingegen:
„Diese Berechnung zeigt das Jahr 1915 n. Chr., als den Anfang der Zeit der Drangsal bezeichnend, an; denn 1542 v. Chr. und 1915 n. Chr. geben 3457 Jahre. So bezeugt die Pyramide, dass der Schluss des Jahres 1914 der chronologische Anfang der Zeit der Drangsal war“ (S. 316 f.).
Während in der Ausgabe von 1914 die zugrunde gelegten Maße der Cheops-Pyramide 3416 Zoll betragen haben sollen, haben sie in der Neuauflage 3457 Zoll erreicht. Die Pyramide müsste also in dieser Zeit um 41 Zoll gewachsen sein – ein absurder Gedanke, der dazu herhalten muss, die nicht eingetroffenen Voraussagen Russells zu verbergen.
Ein weiteres Beispiel finden wir auf Seite 296 desselben Buches. In der Ausgabe von 1914 schrieb Russell:
„… Die prophetischen Marksteine … haben uns gezeigt, dass wir seit 1873 im siebenten Jahrtausend leben; dass das Lehn der Herrschaft der Heiden, ´die Zeiten der Nationen`, mit dem Jahre 1894 ausläuft…“
1926 hörte sich die gleiche Stelle so an:
„… Die prophetischen Marksteine… haben uns gezeigt, dass wir seit 1873 im siebten Jahrtausend leben; dass das Lehen der Herrschaft der Heiden, ´die Zeiten der Nationen`, mit dem Jahre 1914 ausläuft…“
An anderen Stellen ließ Rutherford die Jahreszahlen nicht ändern, sondern ließ sie einfach weg, indem er sie durch eine unbestimmte Zeitangabe ersetzte. Hieß es beispielsweise in der Ausgabe von 1914 noch, „dass die Befreiung der Heiligen etwas vor 1914 stattfinden wird“, so wurde dies 1926 dahingehend geändert, „dass die Befreiung der Heiligen sehr bald nach Schluss der Ernte stattfinden wird“ (S. 214).
Ab Mitte der zwanziger Jahre ging man dann einfach dazu über, Russells Schriften nicht mehr zu drucken. Zu groß war die Zahl der falschen Voraussagen und veränderten Lehren. Die Parallelsetzung von biblischer Chronologie und Cheops-Pyramide ließ man ebenso fallen wie Russells Chronologie überhaupt und sein Gemeindeverständnis. Manche Umdeutung kam durchaus einer Neuprägung von Lehren gleich.
Rutherford contra Johnson
Als drittes betrachten wir etwas näher den Kampf um die Vormachtstellung in der Wachtturm-Gesellschaft nach Russells Tod. Rutherford galt als kontaktarmer und argwöhnischer Vorgesetzter, der undurchschaubar war und sehr brutal mit Gegnern umgehen konnte. Er nahm das Recht für sich in Anspruch, Glaubenswahrheiten in letzter Instanz zu formulieren. Wurde Pastor Russell von seinen Anhängern geliebt, so wurde Richter Rutherford von ihnen gefürchtet. Die Wachtturm-Gesellschaft spricht heute offen davon. So hat sie in ihrem Geschichtswerk „Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes“ Auszüge aus einem Brief eines „Dieners Jehovas“ aus Kanada abgedruckt, der deutlich die Unterschiede zwischen Russell und Rutherford zum Ausdruck bringt. In diesem Brief an Rutherford heißt es:
„Lieber Bruder, verstehe das, was ich Dir schreibe, jetzt nicht falsch. Deine Art unterscheidet sich von der Art unseres lieben Bruders Russell wie Tag und Nacht. Viele, ach, unsagbar viele mochten Bruder Russell wegen seiner Persönlichkeit, seiner Art und vieler anderer Dinge; kaum einer lehnte sich gegen ihn auf. So mancher nahm die Wahrheit nur an, weil Bruder Russell es sagte… Aber deine Art, Bruder Rutherford, lässt sich mit der von Bruder Russell nicht vergleichen. Selbst dein Aussehen ist anders. Dafür kannst du nichts… Es wurde Dir in die Wiege gelegt, und du hattest keine andere Wahl… Seitdem du über die Angelegenheiten der Gesellschaft gesetzt bist, wurdest Du von den Brüdern ungerechtfertigterweise kritisiert und aufs böswilligste verleumdet… Früher neigten wir alle dazu, eher das Geschöpf als den Schöpfer zu verehren. Das blieb dem Herrn nicht verborgen. Deshalb setzte er jemand an die Spitze, das heißt, er übertrug jemand die Verantwortung für das Erntewerk, der eine ganz andere Art hatte“ (S. 625 f.).
Welche Konflikte waren es nun, die auf dem Weg zu Rutherfords Machtergreifung auszufechten waren? An der Spitze der Opposition stand Paul S. L. Johnson. Dieser, ein früherer lutherischer Pastor, war seit 1903 Mitglied der „Ernsten Bibelforscher“. Als hervorragender Redner und Mann mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein, war er für Rutherford ein ebenbürtiger Gegner. Kurz vor seinem Tod hatte Russell Johnson dazu bestimmt, nach England zu gehen, um die überseeischen Verbindungen zu bewahren und zu festigen. Im November 1916 entsandte ihn die Wachtturm-Gesellschaft – mit zahlreichen Vollmachten ausgestattet – nach Großbritannien. Dort handelte er sehr selbständig, setzte zwei leitende Bibelforscher (H. J. Shearn und W. Craeford) ab und versuchte, das englische Einflussgebiet von Rutherford und der Brooklyner Führung unabhängig zu machen, etwa indem er das Londoner Bankkonto der Wachtturm-Gesellschaft sperren ließ. Johnson betrachtete sich als Nachfolger Russells. Er behauptete, der Mantel Pastor Russells sei auf ihn gefallen wie zur Zeit des Propheten Elia.
In dieser schwierigen Lage sah Rutherford – nach dem misslungenen Versuch, Johnson abzusetzen – keinen anderen Ausweg, als diesen nach New York zurückzurufen, um ihn besser unter Kontrolle zu haben. Freilich holte er sich damit die Opposition ins eigene Haus. Ein von der Wachtturm-Gesellschaft einberufener Untersuchungsausschuss kam zum Ergebnis, dass Johnsons Verhalten in England berechtigt war. Innerhalb kurzer Zeit zog er vier der sieben leitenden Direktoren der Wachtturm-Gesellschaft auf seine Seite. Die Macht lag ja seit der Entmachtung der anderen Gremien in der Hand des Direktoriums, zu welchem Rutherford selber gehörte. Somit standen vom führenden Gremium nur zwei Männer auf Rutherfords Seite, nämlich sein Vizepräsident A. N. Pierson und sein Sekretär-Kassierer W. E. Van Amburgh. Die anderen hielten zu Johnson.
Rutherford war nicht mehr in der Lage, bei Abstimmungen seinen Willen durchzusetzen. Andererseits war er Präsident und konnte nicht abgesetzt werden, weil das Präsidenten-Amt auf Lebenszeit vermittelt worden war. Somit war eine gewisse Patt-Situation eingetreten. Jede Partei versuchte, die andere aus dem „Bethel“ zu drängen oder sie zumindest zu entmachten. Die auf Johnsons Seite stehenden Direktoren verfolgten den Gedanken, die Stellung des Präsidenten dem Direktionsausschuss unterzuordnen. Er sollte nur noch die Befugnisse eines Beraters besitzen. Daraufhin ging Rutherford in die Offensive.
Er brachte Band 7 der Schriftstudien heraus. Am 17. Juli 1917 wurde im Brooklyner Bethel der Band mit dem Titel The Finished Mystery (Das vollendete Geheimnis) freigegeben. Die Freigabe dieses Buches führte zu einer fünfstündigen heftigen Debatte zwischen den verfeindeten Parteien, deren Konflikt nun offen zutage trat, und schließlich zum Bruch. Johnson und seine Anhänger warfen Rutherford Umdeutungen der Lehre Russells, neue Jahresberechnungen (etwa auf 1918) sowie seinen übergroßen Machtanspruch vor.
Aus der Sicht der heutigen Zeugen Jehovas stellt sich die Person Johnsons folgendermaßen dar:
„Da er sich als eine wichtige Persönlichkeit betrachtete, behauptete er in Ansprachen und Briefen, seine Tätigkeit sei in der Bibel von Esra, Nehemia und Mordechai vorgeschattet worden. Er beanspruchte, der in Jesu Gleichnis aus Matthäus 20,8 erwähnte Verwalter (oder Beauftragte) zu sein. Er versuchte, die Verfügungsgewalt über das Geld der Gesellschaft zu bekommen, und strengte deshalb vor dem Hohen Gerichtshof in London einen Prozess an.
Als dieser Versuch vereitelt wurde, ging er zurück nach New York. Dort buhlte er um die Unterstützung bestimmter Personen, die im Vorstand der Gesellschaft waren. Diejenigen, die er auf seine Seite ziehen konnte, versuchten durch eine Resolution durchzusetzen, dass die Geschäftsordnung der Gesellschaft, die den Präsidenten ermächtigte, alle Angelegenheiten zu regeln, außer Kraft gesetzt würde. Sie wollten, dass alle Entscheidungsgewalt bei ihnen liege. Bruder Rutherford unternahm rechtliche Schritte, um die Interessen der Gesellschaft zu schützen, und alle, die deren Tätigkeit behindern wollten, wurden aufgefordert, das Bethelheim zu verlassen“ (JZ, S. 627). Welche „rechtlichen Schritte“ es waren, die Rutherford vornahm, werden wir weiter unten betrachten.
Das vollendete Geheimnis
Hier bewegt uns zunächst die Frage, worum es in dem umstrittenen Band 7 der Schriftstudien mit dem Titel „Das vollendete Geheimnis“ ging. Als erstes springt der Personenkult um Charles Taze Russell ins Auge. Der Band ist als Kommentar zu den biblischen Büchern Hoheslied, Hesekiel und Offenbarung konzipiert. Es handelt sich allerdings nicht um einen Kommentar im üblichen Sinne, sondern um eine Bibeldeutung von der Sicht der „Ernsten Bibelforscher“ her. So wird Russell mit dem Propheten Hesekiel verglichen, der Russell vorbildlich dargestellt habe. Weissagungen Hesekiels werden so ausgelegt, dass sie Hinweise auf die spätere Tätigkeit Russells seien, so etwa die Tempel-Prophezeiungen. Russell hatte zwar ein großes Selbstbewusstsein besessen, aber wenn er dieses selber geschrieben hätte, wie es die fingierte Autorschaft dieses Bandes nahelegt, hätte er größenwahnsinnig sein müssen.
Zweitens enthält der Band 7 eine grundsätzliche scharfe Polemik gegen das traditionelle Christentum und seine Geistlichen, die sogenannten Religionisten, insbesondere gegen die römisch-katholische Kirche und das Papsttum. Trotz der besonderen Aversion der „Ernsten Bibelforscher“ gegen Rom wird aber das Christentum generell, nicht nur der römische Katholizismus, als „Babylon“ bezeichnet. Alle außer den „Ernsten Bibelforschern“ gelten den Autoren von Band 7 als „Babylon“, als vom Glauben abgefallene Hure.
Ein typisches Beispiel für die maßlose Polemik liefert die Auslegung von Offenbarung 9,18, wo von apokalyptischen Rossen die Rede ist, „aus deren Mäulern Feuer und Rauch und Schwefel ging“. Die Autoren von Band 7 kommentieren diese Stelle (allegorisch) so:
„Eine genaue Prüfung des Vorstehenden führt zu dem Schluss, dass die verschiedenen Kirchensysteme von Kahlköpfen gegründet sein müssen, und dass, da der Rauch keinen Ausweg durch die Kopfhaut finden konnte, er natürlicher Weise aus ihrem Munde (´aus ihren Mäulern`, wie es in Vers 17 heißt) hervorkommen musste!“ (S. 215).
Als weiteres Beispiel zitiere ich die Auslegung von Offenbarung 18,4:
„Und ich hörte eine andere Stimme aus dem Himmel: Eine andere himmlische Botschaft durch die Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft, die Organisation, welche Pastor Russell persönlich gründete, um das Erntewerk durchzuführen“ (S. 370).
Im Unterschied zu den traditionellen Kirchen wird die Wachtturm-Gesellschaft in den positivsten Farben völlig unkritisch ausgemalt.
Das dritte, was auffällt, ist die Einführung neuer Jahreszahlen in Band 7, insbesondere das Datum 1918. Die „vierzigjährige Erntezeit“ bis zum Beginn der „Trübsal“ war von Russell aufgrund sogenannter „Parallelen der Heilszeitordnungen“ zwischen urchristlicher Zeit (ca. 30-70 n. Chr.) und Endzeit (1874-1914) behauptet worden. Nun fügten Rutherford und seine Mitarbeiter im 1917 veröffentlichten Band dreieinhalb Jahre zu diesen 40 Jahren hinzu und gelangten so zum Frühjahr 1918 als neuem, unmittelbar bevorstehendem Termin für das Eintreten der Bedrängnis und des „Falles Babylons“, also der Christenheit außerhalb der „Ernsten Bibelforscher“. Begründet wird dies damit, dass zwar 70 n. Chr. Jerusalem von den Römern zerstört worden sei, aber erst 73 n. Chr. der jüdische Aufstand niedergeschlagen wurde – also mit der parallelen Heilszeitordnung.
So wird in der Auslegung von Offenbarung 3,14 ausgeführt, die „Laodizäa-Epoche“ reiche „vom Herbst 1874 bis zum Frühling 1918, dreieinhalb Jahre der Vorbereitung und 40 Jahre Erntezeit“. Alles deute darauf hin, „dass der Frühling 1918 ein noch größeres Maß von Bedrängnis über die Christenheit bringen wird, als dies im Herbst des Jahres 1914 der Fall war“ (S. 65 und 69). Das Jahr 1918 brachte allerdings nicht „ein noch größeres Maß von Bedrängnis“, sondern das Ende des Ersten Weltkriegs und – zumindest für einige Jahre – Frieden. Auch hier war eine angemaßte Prophetie in das Gegenteil umgeschlagen.
Ebenfalls wegen der nicht eingetroffenen Prophezeiungen wurden in einer späteren deutschen Ausgabe von „Das vollendete Geheimnis“ manche Passagen aus dem amerikanischen Original falsch übersetzt. Eckhard von Süsskind hat in seiner sehr gründlichen Quellen-Untersuchung Zeugen Jehovas. Anspruch und Wirklichkeit der Wachtturm-Gesellschaft die Änderung oder Relativierung der Jahresangaben nachgewiesen, welche in der deutschen Ausgabe von „The Finished Mystery“ im Jahre 1925 vorgenommen wurde. An einigen Stellen wurde das Jahr 1918 einfach ausgelassen.
E. v. Süsskind resümiert:
„Die Passagen, die falsch übersetzt wurden, betreffen ausnahmslos Prophezeiungen, die sich auf das für 1918 erwartete Ende der Christenheit durch Aktionen der Arbeiter und Sozialisten, auf das für 1920 angekündigte Ende der Republiken und der Arbeiterschaft sowie auf die in dieser Zeit angeblich zunehmende Anarchie beziehen“ (S. 73).
Spaltungen
Wie kam es nun zur Entmachtung der für Rutherford unangenehmen Direktoren und anderen Oppositionellen? Hier war für Rutherford seine juristische Erfahrung hilfreich. Er fand formaljuristische Begründungen für deren Amtsenthebung. In einem Gespräch zwischen Rutherford und den vier widerspenstigen Direktoren wird seine Vorgehensweise deutlich. Rutherford sagte:
„Es ist euch entgangen, Brüder, … dass ihr alle vier Mitglieder der pennsylvanischen Körperschaft seid. Die Satzungen dieser Körperschaft besagen, dass ihr im Staate Pennsylvania gewählt werden müsst. Seid ihr dort gewählt worden?
Nein, antworteten sie.
Ihr wurdet im Staate New York gewählt. Wollt ihr nun streng sachlich werden, dann sage ich euch streng sachlich, dass ihr vor allem keine legalen Mitglieder der Körperschaft seid“ (zitiert nach Gebhard 1970, S. 105).
Hinzu kam, dass Rutherford ein Gesetz rückwirkend anwandte, das die jährliche Wiederwahl der Direktoren forderte. Da aber eine solche jährliche Wiederwahl nicht erfolgt war, sondern Russell die Direktoren auf Lebenszeit eingesetzt hatte, seien sie – so behauptete Rutherford – keine rechtmäßigen Mitglieder des Direktoriums. Johnson seinerseits bestritt, dass ein solches Gesetz rückwirkend angewandt werden könne, und fragte, ob dann nicht auch Rutherford zu Unrecht zum Präsidenten gewählt worden sei.
Nichtsdestotrotz konnte Rutherford aufgrund solcher formaler Versäumnisse die vier Direktoren entmachten. Nach ihrer Entlassung nahmen vier Männer seines Vertrauens ihre Stelle ein. Bei dieser Säuberungsaktion schlossen sich mehrere Dutzend leitende Mitarbeiter der Wachtturm-Gesellschaft den Oppositionellen an und mussten ebenfalls gehen. Auch in vielen Gemeinden kam es zu Unruhen und vielerorts auch zu Spaltungen.
Über Rutherfords Vorgehensweise bei der „Säuberungsaktion“ berichtet Johnson aus seiner Sicht folgendes:
„Er (Rutherford) befahl mir, das Bethel am gleichen Tag zu verlassen, die vier Direktoren sollten am folgenden Montag gehen. Meine respektvolle, oft wiederholte Bitte, vor der Familie eine Erklärung abgeben zu dürfen, wurde nicht erfüllt… Bruder Hirsch bat darum, einen Brief von Bruder Pierson vorlesen zu dürfen, in dem dieser schrieb, dass er Rutherfords Ausschluss der vier Brüder vom Direktorium nicht billigte und dass er treu zu dem alten Direktionsausschuss hielte. J. F. R. schrie förmlich, dass Bruder Johnsons ´Falschheit` daran schuld wäre, dass dieser Brief geschrieben wurde… Noch zorniger befahl er mir unter Androhung von gerichtlichen Schritten, das Bethel zu verlassen. Ich antwortete, dass ich den Direktionsausschuss wegen dieser Entscheidung angerufen hätte; und da ich den Ausschuss als amtierend betrachtete, wobei dieser das Recht habe, bei der Berufung Entscheidungen zu treffen, wartete ich nun auf diese Entscheidung; wenn mir der Ausschuss befehlen sollte, das Bethel zu verlassen, würde ich dies sofort tun. Auf diese Erwiderung hin verlor Rutherford alle Selbstbeherrschung. Um seinen Befehl durchzusetzen, stürzte er sich auf mich und schrie: ´Du verlässt dieses Haus`. Er packte mich am Arm, so dass ich fast hingefallen wäre“ (zitiert nach Rogerson 1969, S. 49).
Daraufhin verließ Johnson die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft. Doch die Oppositionellen gaben sich noch nicht geschlagen. Rutherford hatte den entlassenen Direktoren ehrenvolle, aber einflusslose Posten als „Pilgerbrüder“ angeboten, um sein Gesicht zu wahren. Dieses Angebot wurde von diesen selbstverständlich abgelehnt. Sie schürten weithin Unruhe. Im Sommer 1917 waren die meisten Versammlungen weltweit gespalten. In dieser Zeit des Machtkampfes erfolgte die entscheidende Umstrukturierung der Wachtturm-Gesellschaft, die vorher und nachher nicht in diesem Maße vorgenommen worden war.
Noch zweimal versuchten die Gegner Rutherfords, das Ruder an sich zu reißen, doch ohne Erfolg. Bei der Hauptversammlung im August 1917 in Boston übernahm Rutherford die Diskussionsleitung und überging einfach die Wortmeldungen seiner Opponenten. Bei der Körperschaftsversammlung der Pennsylvania-Gesellschaft im Januar 1918 hatte Rutherford schon längst die Kontrolle über die Medien seiner Organisation übernommen und die meisten Mitglieder für sich gewonnen. Kein Opponent wurde in den Direktionsausschuss gewählt. Die Sache war entschieden.
Der Zerfall war nun nicht mehr aufzuhalten. Die Opposition organisierte sich neu, berief ein „Siebener-Komitee“, gab ein eigenes Mitteilungsblatt „The Herald of Christ`s Kingdom“ heraus und führte am 26. 3. 1918 ein eigenes Gedächtnismahl durch, welches die Spaltung endgültig besiegelte. Die Oppositionellen betrachteten sich als die Bewahrer der reinen Lehre Russells und nannten sich zunächst „Dawn Bible Students Association“ („Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“). Rutherford und die Seinen galten als Abgefallene, die sich das materielle Erbe Russells angeeignet hatten 1918/19 zählten die „Ernsten Bibelforscher“ ca. 18.000 Anhänger. Zu den Oppositionellen dürften sich damals schätzungsweise rund 4.000 Menschen gerechnet haben. Doch die Einheit der Oppositionellen war von kurzer Dauer. Dietrich Hellmund berichtet über ihr weiteres Schicksal:
„Das Ende der oppositionellen Einheitsfront kam bald. Anlässlich ihrer Hauptversammlung 1918 kam es zu allerlei Misshelligkeiten. Johnson überwarf sich mit den vier Ex-Direktoren und machte ein eigenes Hauptbüro in Philadelphia auf. Das ist der Anfang der Laymen`s Home Bible Student`s Movement. Ihr stand er bis zum Tode als ´der Erde großer Hoherpriester` vor. Der verbliebene Rest konnte seinerseits auch keinen Frieden untereinander halten und zerfiel bald in eine Unzahl kleiner und kleinster Sekten… Das endgültige Schicksal der Opposition ist Selbstzerfleischung.“
Gefangenschaft
Bald trat für die „Ernsten Bibelforscher“ ein weiteres dramatisches Ereignis ein. Seit dem 6. April 1917 befanden sich die Vereinigten Staaten von Amerika im Kriegszustand. Gemäß ihrer Weltanschauung galten Rutherford und seine Freunde als radikale Pazifisten – oder richtiger: als „Neutralisten“ ohne Parteinahme für eine bestimmte Kriegspartei. Ihre Lehre war in ihren Auswirkungen jedoch höchst politisch, weil die Wachtturm-Gesellschaft beanspruchte, das wahre Königreich Gottes auf Erden zu verkörpern. Alle anderen politischen und kirchlichen Systeme wurden faktisch abgelehnt. Diese Ansicht wurde später zwar abgemildert, aber in der Zeit des Ersten Weltkriegs wurde sie noch mit voller Vehemenz vertreten – bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.
Deshalb mussten die Zeugen Jehovas in verschiedenen Ländern schwere Verfolgungen erleiden, etwa während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland oder in kommunistischen Diktaturen. Aber auch in demokratischen Staaten wie den USA galt ihre Position gegenüber dem Staat als unerwünscht – vor allem in Krisensituationen wie dem Ersten Weltkrieg, wo es darum ging, möglichst jeden Mann für dem Kampf zu mobilisieren.
Eine maßlose Polemik gegen Staat und Kirchen fand sich nun in dem gerade 1917 veröffentlichten Band 7 der Schriftstudien. Dort wurde beispielsweise immer wieder betont, sämtliche irdischen Reiche würden 1917 oder 1918 ihr Ende finden. Am 28. Februar 1918 sagte Rutherford in einem öffentlichen Vortrag in Los Angeles:
„Als Klasse sind die Geistlichen gemäß der Schrift von allen Menschen auf der Erde die verwerflichsten wegen des großen Krieges, der die Menschheit jetzt plagt. 1.500 Jahre lang haben sie dem Volk die satanische Lehre des Gottesgnadentums der Könige beigebracht. Sie haben Politik und Religion, Kirche und Staat vermischt, haben sich als illoyal gegenüber ihrem von Gott verliehenen Vorrecht erwiesen, die Botschaft vom messianischen Königreich zu verkündigen, und haben sich dazu hergegeben, die Herrscher in ihrem Glauben zu bestärken, dass der König von Gottes Gnaden regiert und daher alles, was er tut, richtig ist.“
Unter Rutherfords Leitung war die Wachtturm-Gesellschaft bestrebt, „der ganzen Welt die Unrechtmäßigkeit der religiösen Systeme und ihre unheilige Verbindung mit den verderbten Regierungen der gegenwärtigen bösen Ordnung der Dinge zu zeigen“ (JZ, S. 648).
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sowohl die amerikanische Regierung als auch die Vertreter der Kirchen waren über diese kirchen- und staatsfeindliche Antikriegspropaganda äußerst aufgebracht. Man ließ die Ernsten Bibelforscher genau beobachten. John Lord O`Brian, Sonderbeauftragter des Justizministers in Kriegsangelegenheiten, übernahm persönlich das Sammeln von Beweismaterial gegen sie. Am 7. Mai 1918 schließlich wurde der Haftbefehl gegen Joseph Franklin Rutherford und sieben seiner engsten Mitarbeiter erlassen. Die Anklage lautete auf Verschwörung als Verletzung des Spionagegesetzes, Anstiftung zum Ungehorsam und zur Verweigerung der Dienstpflicht in den Streitkräften der USA.
Im Sommer 1918 wurden J. F. Rutherford, W. E. Van Amburgh, A. H. Macmillan, R. J. Martin, F. H. Robison, C. J. Woodworth und G. H. Fisher zu je viermal 20 Jahren und G. DeCecca zu viermal 10 Jahren Haft verurteilt und im Gefängnis von Atlanta/Georgia eingesperrt. Die heutigen Zeugen Jehovas weisen darauf hin, dass damit diese Männer „zu härteren Strafen verurteilt“ wurden „als der Mörder, dessen Schüsse den Ersten Weltkrieg auslösten“ (JZ, S. 653). Warum diese Härte der Strafe? Richter Harland B. Howe sagte vor der Urteilsverkündung:
„Nach Meinung des Gerichts stellt die religiöse Propaganda, für die diese Angeklagten energisch eingetreten sind und die sie im ganzen Land sowie unter unseren Verbündeten betrieben haben, eine größere Gefahr dar als eine ganze deutsche Division … Sie haben nicht nur die Rechtsvertreter der Regierung und den Nachrichtendienst der USA in Frage gestellt, sondern auch alle Diener der Kirchen angegriffen. Die Bestrafung sollte daher sehr streng sein“ (zitiert nach Macmillan 1957, S. 99).
Es war ein großes Glück für die Eingekerkerten, dass der Erste Weltkrieg bald zuende ging. Mit dem Ende des Krieges ließ auch das Kriegsfieber nach. Man dachte nun milder über die Verurteilten und ließ sie bereits am 25. März 1919 gegen eine Kaution frei, noch bevor eine Petition mit 700.000 Unterschriften der Regierung überreicht werden konnte, welche ihre Anhänger gesammelt hatten.
Während der Gefangenschaft Rutherfords hatte am 4. Januar 1919 eine Körperschaftsversammlung der Wachtturm-Gesellschaft in Pittsburgh/Pennsylvania stattgefunden. Dort war Rutherford mit überwältigender Mehrheit in seinem Amt als Präsident bestätigt worden. Offensichtlich hatte seine Abwesenheit, Gefangenschaft und Opferbereitschaft seine Popularität weiter erhöht. Die Chance, welche seine Gegner gewittert hatten, ihn in seiner Abwesenheit zu entmachten, zerschellte nun vollends an der ständig gewachsenen Zahl seiner Anhänger.
Von den Ernsten Bibelforschern zu den Zeugen Jehovas
Als Rutherford aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, begann er sofort mit der Neustrukturierung der Wachtturm-Bewegung. Ein entscheidender Markstein hierfür war der Kongress im September 1919 in Cedar Point/Ohio. Die Bibelforscher sollten ermutigt und zu Taten angespornt werden. Eine neue Zeitschrift, die bei diesem Kongress vorgestellt wurde, trug den programmatischen Titel The Golden Age („Das Goldene Zeitalter“; ab 1937 „Trost“, seit 1946 „Erwachet!“).
1920 veröffentlichte Rutherford eine Schrift mit dem aufsehenerregenden Titel Millionen jetzt lebender Menschen werden niemals sterben. In dieser Schrift sagte er für 1925 die „Vollendung aller Dinge“ voraus, insbesondere „die Rückkehr der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob sowie der glaubenstreuen Propheten des Alten Bundes“ auf die Erde (S. 80). Rutherford schrieb:
„Auf das zuvor dargelegte Argument gestützt, dass also die alte Ordnung der Dinge, die alte Welt, zu Ende geht und daher verschwindet, und dass die neue Ordnung hereinbricht, und dass das Jahr 1925 die Auferweckung der treuen Überwinder des alten Bundes und den Beginn der Wiederherstellung markiert, ist es vernünftig zu schließen, dass Millionen jetzt auf Erden lebender Menschen im Jahre 1925 noch auf Erden sein werden. Sodann auf die Verheißungen, die in dem Worte Gottes niedergelegt sind, gestützt, müssen wir zu dem positiven und unbestreitbaren Schluss kommen, dass Millionen jetzt Lebender nie sterben werden“ (S. 88).
Als auch diese Prophezeiung auf das Jahr 1925 nicht eintraf, sagte Rutherford : „Ich habe mich lächerlich gemacht“ (engl. Originaltext: „I know I made an ass of myself“) („Wachtturm“ vom 25.12.1984, S. 26; zitiert nach: Franz 1991, S. 136). 1925 wird in „Wachtturm-Kreisen“ ähnlich wie 1914 als „Jahr der Prüfung“ bezeichnet – aus leicht erkennbaren Gründen. Rutherford selber verzichtete von da an auf ähnliche Festlegungen – was nicht ausschloss, dass seine Nachfolger später seinen Fehler wiederholten.
Unter den zahlreichen Neuerungen, die Rutherford einführte, war die grundlegende Verpflichtung jedes Bibelforschers zum Haus-zu-Haus-Dienst, die Errichtung eigener Rundfunk-Stationen, die Abschaffung vieler als „heidnisch“ geltender Bräuche und Feste (Kreuzsymbol, Weihnachten, Ostern, Geburtstag u.a.) und vor allem die Propagierung der immer sektiererische Züge annehmenden Bibelforscher als das neue Heilsvolk der „Zeugen Jehovas“, das nun an die Stelle des alttestamentlichen Gottesvolkes Israel, aber auch der christlichen Kirchen treten sollte. Unter Rutherford erlangten die Zeugen Jehovas im Wesentlichen ihr heutiges Gepräge.
1931 fand der entscheidende Kongress in Columbus/Ohio statt, der die neue Richtung bestimmen sollte. Auf diesem Kongress wurde die Wachtturm-Gesellschaft von Rutherford zur endzeitlichen Heilsgemeinde erhoben. Hier nahm sie den Namen „Jehovas Zeugen“ an, und zwar in Anlehnung an Jesaja 43, 10-12, wo es heißt:“Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr wisst und mir glaubt und erkennt, dass ich`s bin. Vor mir ist kein Gott gemacht, so wird auch nach mir keiner sein. Ich, ich bin der Herr, und außer mir ist kein Heiland. Ich habe es verkündigt und habe euch geholfen und hab`s euch sagen lassen; und es war kein fremder Gott unter euch. Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und ich bin Gott.“
Auf die Einladung zu diesem Kongress hatte Rutherford ohne weitere Erklärung zwei geheimnisvolle Großbuchstaben drucken lassen: JW. Erst auf dem Kongress wurde das Geheimnis gelüftet. In seinem von Zehntausenden mit donnerndem Applaus aufgenommenen Vortrag verkündete er den neuen Namen „Jehovahs Witnesses“ („Jehovas Zeugen“). Nachdem in einer Resolution alle anderen Namen („Ernste Bibelforscher“, „Russelliten“ etc.) als ungenügend bezeichnet worden waren, hieß es weiter:
„… dass wir, erkauft durch das teure Blut unsres Herrn und Erlösers, gerechtfertigt und gezeugt durch Jehova Gott und berufen zu seinem Königreiche, ohne Zaudern erklären, dass wir Jehova Gott und seinem Königreiche untertan und ergeben sind; dass wir Knechte Jehovas sind, beauftragt, in seinem Namen und seinem Gebot gehorchend, ein Werk zu tun, das Zeugnis Jesu Christi zu überbringen und den Menschen bekanntzumachen, dass Jehova der wahre und allmächtige Gott ist; weshalb wir mit Freuden den Namen, den der Mund des Herrn genannt hat, annehmen und wünschen, unter folgendem Namen bekannt zu sein und also genannt zu werden: Jehovas Zeugen (Jesaja 43:10-12 …)“ (JZ, S. 156).
Und dann wurde mit aller Bestimmtheit ausgeführt:
„Als Jehovas Zeugen ist unser einziger und ausschließlicher Wunsch, seinen Geboten völlig gehorsam zu sein; bekanntzumachen, dass er der allein wahre und allmächtige Gott ist; dass sein Wort wahr und dass sein Name aller Lehre und allen Ruhmes würdig ist; dass Christus Gottes König ist, den er auf seinen Thron der Vollmacht gesetzt hat; dass sein Königreich nun gekommen ist und wir im Gehorsam gegen die Gebote des Herrn diese gute Kunde als Bekenntnis oder Zeugnis den Nationen bekanntmachen müssen und die Herrscher und das Volk über Satans grausame und bedrückende Organisation, besonders unter Hinweis auf die ´Christenheit`, den gräulichsten Teil seiner sichtbaren Organisation, aufklären und ihnen Gottes Vorhaben, die satanische Organisation binnen kurzem zu zermalmen, ankündigen müssen, nach welchem großen Zerstörungswerk Christus, der König, den gehorsamen Menschen der Erde rasch Frieden, Wohlfahrt, Freiheit und Gesundheit, Glück und ewiges Leben bringen wird; dass Gottes Königreich die Hoffnung der Welt ist, außer der es keine andre Hoffnung gibt, und dass diese Botschaft durch die überbracht werden muss, die als Jehovas Zeugen kenntlich gemacht worden sind“ (JZ, S. 157).
Mit dem Kongress von Columbus im Jahre 1931 war die Selbstverabsolutierung der Gruppe um Rutherford zu ihrem Höhepunkt gelangt. Der Sektencharakter, der sich vor allem in der Exklusiv-Setzung der eigenen Gruppe oder Position zeigt, trat spätestens von da an in kaum zu überbietender Deutlichkeit hervor. So gelten die „Zeugen Jehovas“ bis heute als Paradebeispiel einer Sekte. Der Sektenexperte Kurt Hutten schreibt in seinem Standardwerk Seher, Grübler, Enthusiasten:
„Die darin ausgesprochene Selbstverabsolutierung war mit einer schroffen Verwerfung aller anderen christlichen Gemeinschaften verbunden. Zu Russells Zeiten war die Bezeichnung ´Bibelforscher` eingeführt worden als Ausweis dafür, dass man eine überdenominationelle Bewegung sein wolle. Es wurde betont, ´dass wir nicht sektiererisch sind – dass wir alle als Brüder und Glieder der Kirche, der Kirche Christi, der Kirche Gottes anerkennen, welche die volle Weihung zur Selbstaufopferung beweisen und in den Fußstapfen unseres Erlösers nachfolgen`. Rutherford machte Schluss mit solchen gesamtkirchlichen Gefühlen. Er zerriss das Band. So bekam die Organisation die typischen Züge der Sekte“ (Hutten 1982, S. 87 f.).
Der Umgang mit totalitären Systemen
In Rutherfords Präsidentenzeit fielen harte Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und anderen totalitären Systemen. Allein in Deutschland gingen während der Hitler-Diktatur ca. 6.000 Wachtturm-Anhänger für ihre Überzeugung in die Gefängnisse und Konzentrationslager. Etwa 1.000 von ihnen fanden dort den Tod (vgl. „Wachtturm“ vom 1.7.1979, S. 8).Trotz dieser bewundernswert konsequenten Haltung der einzelnen Zeugen Jehovas darf nicht übersehen werden, dass das Verhalten der Wachtturm-Gesellschaft anfangs ambivalent war. In einem Schreiben der deutschen Wachtturm-Zentrale an den „sehr verehrten“ Reichskanzler Adolf Hitler vom Juni 1933, der 1994 im deutschen und amerikanischen „Jahrbuch“ der Wachtturm-Gesellschaft abgedruckt wurde und somit offiziellen Charakter besaß (vgl. ACV 4/94, S. 16), hatte es u.a. geheißen:
„Das Brooklyner Präsidium der Watch Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Maße deutschfreundlich. Aus diesem Grunde wurden im Jahre 1918 der Präsident der Gesellschaft und die sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen. Diese zwei Zeitschriften ´The Watch Tower` und ´Bible Student` waren die beiden einzigen Zeitschriften Amerikas, die eine Kriegspropaganda gegen Deutschland verweigerten und darum während des Krieges in Amerika auch verboten und unterdrückt wurden. In gleicher Weise hat sich das Präsidium unserer Gesellschaft in den letzten Monaten nicht nur geweigert, an der Gräuelpropaganda gegen Deutschland teilzunehmen, sondern hat sogar dagegen Stellung genommen, wie dies auch in der beigefügten Erklärung unterstrichen wird durch den Hinweis, dass die Kreise, welche diese Gräuelpropaganda in Amerika leiteten (Geschäftsjuden und Katholiken), dort auch die rigorosesten Verfolger der Arbeit unserer Gesellschaft und ihres Präsidiums sind. Durch diese und andere in der Erklärung enthaltenen Feststellungen soll die Zurückweisung der Verleumdung, Bibelforscher würden durch die Juden unterstützt, erfolgen…
Weiter wurde auf dieser Konferenz der fünftausend Delegierten – wie in der Erklärung ausgedrückt – festgestellt, dass die Bibelforscher Deutschlands für dieselben hohen ethischen Ziele und Ideale kämpfen, welche die nationale Regierung des Deutschen Reiches bezüglich des Verhältnisses des Menschen zu Gott proklamierte, nämlich: Ehrlichkeit des Geschöpfes gegenüber dem Schöpfer! Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass in dem Verhältnis der Bibelforscher Deutschlands zur nationalen Regierung des Deutschen Reiches keinerlei Gegensätze vorliegen, sondern dass im Gegenteil – bezüglich der rein religiösen, unpolitischen Ziele und Bestrebungen der Bibelforscher – zu sagen ist, dass diese in völliger Übereinstimmung mit den gleichlaufenden Zielen der nationalen Regierung des Deutschen Reiches sind“ (zitiert nach dem bei Twisselmann 1995, S. 276 ff., abgedruckten Faksimile des Original-Briefes).
Die Abgrenzung gegen „die Juden“ fällt zeitlich auffallenderweise mit deren Substitution durch die Zeugen Jehovas als dem“neuen Heilsvolk“ in den Jahren ab 1931 zusammen. Erst nachdem der Versuch, sich mit der nationalsozialistischen Regierung einvernehmlich zu arrangieren, fehlgeschlagen war und die Schikanen und Verfolgungen der Zeugen Jehovas nicht aufhörten, schlug die Brooklyner Zentrale härtere Töne an. So stellte Rutherford der deutschen Reichsregierung 1934 ein Ultimatum:
„Falls bis zum 24. März 1934 auf dieses ernstliche Begehren keine Antwort erfolgt und von Seiten Ihrer Regierung nichts getan wird, um den oben erwähnten Zeugen Jehovas in Deutschland Erleichterung zu gewähren, dann wird Gottes Volk in anderen Ländern, unter allen Nationen der Erde, mit der Veröffentlichung der Tatsachen über Deutschlands ungerechte Behandlung von Christen beginnen“ (ebd., S. 148).
Ein halbes Jahr später schloss sich eine noch härtere Drohung, an Hitlers Adresse gerichtet, an:
„Sie und Ihre Regierung haben sich der schlimmsten Verfolgungen an Gottes geweihtem Volk in Deutschland schuldig gemacht und werden deshalb, bei verharrendem pharaonischen Trotzen, das Gericht des Allmächtigen über sich bringen“ (zit. nach Garbe 1993, S. 122).
Das Verhalten der Wachtturm-Gesellschaft in der Anfangszeit der Hitler-Diktatur kommentiert Klaus-Dieter Pape wie folgt:
„Die WTG … hat in einer Konfliktsituation mit einem totalitären Regime versucht, durch Anpassung an dieses Regime das Funktionieren der Organisation zu ermöglichen. Allein diese Tatsache ist aus heutiger Sicht nicht unbedingt zu kritisieren. Dies ist menschlich verständlich. Auf jeden Fall muss aber kritisiert werden, dass die WTG, um dieses Ziel zu erreichen, andere Menschen übel diffamiert hat. Die ´Erklärung` und der Brief an Hitler zeigen dies ausführlich. Hinzu kommt noch der Umstand, dass die WTG heute so tut, als ob sie so etwas nie getan hätte und sie die am meisten Verfolgten unter Hitler waren. Dass die ZJ unter dem Regime zu leiden hatten und auch ZJ in Konzentrationslagern gestorben sind – darunter mein Großvater – darf nicht geleugnet werden. Jedoch muss der Umgang mit der Geschichte ehrlich sein, wenn man sich moralisch auf ein so hohes Ross setzt, wie es die WTG tut. Vor allem ist es allerhöchste Zeit, sich bei den jüdischen Opfern des Hitler-Regimes wegen den üblen Verleumdungen von 1933 … zu entschuldigen“ (ACV 4/94, S. 17).
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Zeugen Jehovas auch in zahlreichen anderen totalitären Statten Verfolgungen erleiden mussten, nach dem Zweiten Weltkrieg besonders in der damaligen Sowjetunion und anderen Ostblock-Staaten (z. B. in der „DDR“) sowie in dem afrikanischen Staat Malawi. In mehreren Ländern dauern die Verfolgungen heute noch an. Aber auch unter demokratischen Regierungen stehen die Wachtturm-Anhänger- etwa wegen ihrer Verweigerung des Wehr- und Zivildienstes, des Fahnengrußes und von Bluttransfusionen – in mancherlei Konflikten (vgl. JZ, S. 678 ff.; Hutten 1982, S. 121 ff.).
Resümee eines Lebens
1938 gilt als das Jahr, in dem Rutherford seine „Reformen“ abgeschlossen hat: „Das kongregationalistische Prinzip war endgültig überwunden, der Einfluss der Ältesten beseitigt, die Organisation war straff ´theokratisch` durchgebildet. Es wurde offiziell der Grundsatz angenommen, ´dass die Gesellschaft der sichtbare Vertreter des Herrn auf Erden ist`. Der Zentralismus war nun perfekt“ (Obst o. J., S. 276). „Die Theokratische Organisation gleicht einer riesigen Propagandamaschine, die so konstruiert ist, dass alle Energien einheitlich und rationell auf die ´Verkündigung` konzentriert sind. Ein Rad greift ins andere, und alle Räder sind durch Transmissionen mit der Spitze verbunden, so dass sie sich drehen, wie die Spitze es will“ (Hutten 1982, S. 114).
Doch allzu lange konnte sich Rutherford über seinen Erfolg nicht freuen. Am 8. Januar 1942 starb er im Alter von 72 Jahren an Dickdarmkrebs, und zwar in seinem Haus „Beth Sharim“ („Haus der Fürsten“) in San Diego/Kalifornien, das er für die erwarteten Erzväter Abraham, Isaak und Jakob erworben hatte. Einige Jahre nach Rutherfords Tod hat die Wachtturm-Gesellschaft „Beth Sharim“ verkauft. Was Rutherfords Familienverhältnisse betrifft, so schweigen die Quellen zumeist. Der Grund könnte darin liegen, was der ehemalige führende Zeuge Jehovas Raymond Franz mit folgenden dürren Worten erwähnt:
„Seit vielen Jahren war er (Rutherford) von seiner Frau (Mary) getrennt gewesen, die ebenfalls bei den Zeugen war und krank und gebrechlich in Kalifornien lebte. Sein einziger Sohn (Malcolm) zeigte kein Interesse an der Religion des Vaters, als er erwachsen war“ (Franz 1991, S. 22).
Auch Leonard und Marjorie Chretien weisen auf diesen Tatbestand hin:
„Wie seinen Vorgänger, C. T. Russell, verließ auch Richter Rutherford seine Frau. Mary und ihr Sohn Malcolm zogen nach Los Angeles/Kalifornien um… Faktoren für ihre Entfremdung waren ihre schwache Gesundheit, sein cholerisches und selbstgerechtes Temperament und ganz offensichtlich die Tatsache, dass er ein ernster Fall eines Alkoholikers war“ (Chretien 1988, S. 48; Übersetzung: L. G.).
Rutherford hat 18 Bücher und 32 Broschüren geschrieben und dadurch die überholten Schriften Russells „ersetzt“ (vgl. Hutten 1982, S. 89). Die heutige Wachtturm-“Theologie“ hat er wesentlich geprägt. Dennoch erging es ihm schließlich wie seinem Vorgänger: Seine Bücher werden heute von der Wachtturm-Gesellschaft kaum noch gedruckt. Alle Veröffentlichungen, die freilich auf Rutherfords (und zum Teil auch Russells) Gedankengut aufbauen, erscheinen anonym. Verantwortlich für diesen neuen Stil ist Rutherfords Nachfolger: Nathan Homer Knorr.