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Abspaltungen

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In der Geschichte der von Charles Taze Russell herkommenden Bewegung gibt es eine Vielzahl von Abspaltungen und Splittergruppen. Ich habe schon erwähnt, dass die heutigen Zeugen Jehovas eher als materielle denn als geistige Erben Russells zu betrachten sind. Die völlige Umstrukturierung der Bewegung durch Rutherford hat ihr ein weitgehend neues, noch stärker sektiererisches Gepräge gegeben. Gerade zu Rutherfords Zeiten, infolge der Machtkämpfe seiner ersten Amtsjahre und der daraus hervorgehenden zunehmenden Zentralisierung, erfolgte eine Fülle von Protesten und Austritten. Aber auch andere Gründe gab es, welche zu Absplitterungen führten. Dietrich Hellmund zählt in seiner Dissertation „Geschichte der Zeugen Jehovas“ allein 20 Gruppen auf, die einmal mit der Lehre Russells in Verbindung standen und behaupten, diese zu bewahren oder eigenständig weiterzuentwickeln, unter ihnen auch die heutigen Zeugen Jehovas. Hellmund betont:

„Die alte IVEB (´Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher`) ist – vom Standpunkt der Dogmengeschichte und Lehrentwicklung her gesehen – tot. Trotz der Beibehaltung des alten Namens für einige Zeit können auch die Zeugen Jehovas nur bedingt als Fortsetzung der alten IVEB verstanden werden. Nachfolger der IVEB sind sie nur im soziologischen Sinn. Als direkte Folge der Machtkämpfe von 1917-1919 sind viele Glaubensgemeinschaften neu konstituiert worden, die es so vor 1917 noch nicht gab. Damals ist ein Spaltungsmechanismus in Gang gesetzt worden, der heute noch nicht zur Ruhe gekommen ist… Über die Gesamtzahl dieser Splittergruppen gibt es nur Vermutungen.“

Im Folgenden seien nur die drei bedeutendsten Gruppen kurz skizziert: die Freie Bibelgemeinde, die Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung und die Kirche des Reiches Gottes.

Freie Bibelgemeinde

„Freie Bibelgemeinde“ ist zunächst ein umfassender Begriff für unterschiedliche russellitische Splittergruppen, die ab 1916 entstanden, weil sie Rutherford und seinen Kurs nicht anerkennen wollten. Wesentliche Lehrpunkte Russells wurden beibehalten, etwa der Ganztod des Menschen, die Ablehnung einer ewigen Höllenqual und die Heilserwartung in einem irdischen Tausendjährigen Reich. Hingegen wurde die Vorstellung von einer „Theokratischen Gesellschaft“ als Heilsmittlerin und Kanal der Gnade abgelehnt, wie Rutherford sie propagierte. Nicht einmal ein Kirchenaustritt wurde von den Mitgliedern der meisten Gruppen erwartet. Man wollte nicht eine „heilsnotwendige Organisation“ stiften, sondern eine lose Verbindung der Versammlungen untereinander nach kongregationalistischem Vorbild, wie Russell es vertreten hatte.

Heute ist „Bibelgemeinde“ oder „Bible Church“ meist eine Bezeichnung für freie Gemeinden (Independisten), die mit den Zeugen Jehovas und ihren Abspaltungen nichts zu tun haben.

Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung

Ebenfalls als Hüterin der Lehren Russells betrachtet sich die „Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“. Sie entstand ursprünglich 1917 in der oben beschriebenen Auseinandersetzung zwischen Rutherford und Johnson sowie den mit diesem verbundenen Direktoren. 1929 trennte sich in Pittsburgh, dem frühen Wirkungsort Russells, eine Gruppe von „Ernsten Bibelforschern“ von der Wachtturm-Gesellschaft ab, traf sich in der alten „Bibelhaus-Kapelle“ Russells und propagierte die Rückkehr zu dessen Lehren, die sie bei den „Rutherfordianern“ zum Großteil preisgegeben sahen. Manche enttäuschten Bibelforscher schlossen sich ihnen an und gründeten Versammlungen an vielen Orten und in verschiedenen Ländern. Durch Zeitschriften, Traktate und eigene Rundfunk- und Fernseh-Sendungen besitzt diese Gruppe vor allem in den USA einen gewissen Einfluss. Kennzeichnend ist, dass nicht die heutige (von Russell gegründete!) „Wachtturm-Gesellschaft“, sondern die „Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“ die „Schriftstudien“ Russells (wenn auch mit Änderungen, etwa im Blick auf die Zeitberechnungen) bis heute verlegt.

Kirche des Reiches Gottes

Eine weitgehend selbständige Richtung stellt die „Kirche des Reiches Gottes“ oder „Menschenfreundliche Versammlung“ dar. Deren Gründer, F. L. Alexandre Freytag (1870-1947), hatte sich 1898 den „Ernsten Bibelforschern“ angeschlossen und später mehrere Jahre – bis zu seiner Amtsenthebung 1920 – deren Zweigbüro in Genf geleitet. Seine wachsende Kritik an den Bibelforschern (fragwürdige Terminberechnungen, Inanspruchnahme weltlicher Gerichte, inkonsequentes Leben u.a.), die er 1920 in seiner Schrift „Botschaft an Laodizäa“ veröffentlichte, ging mit der Ausbildung eigener sektiererischer Lehren (Weltallgesetz des Altruismus, Lebensfluidum, Streben nach irdischer Unsterblichkeit durch geänderte Lebensweise u.a.) einher. Dies führte unausweichlich zur Ausbildung einer eigenen Sekte, die unter den genannten die meisten Anhänger (einige zehntausend Menschen) gewann. Nach Freytags Tod kam es jedoch bald zur Stagnation und neuen Absplitterungen (z. B. Amis de l` Homme von J. B. Sayerce, gewissermaßen eine „Enkelsekte“ zu den „Ernsten Bibelforschern“).

Man erkennt an diesen Entwicklungen mit ihren immer weiteren Aufsplitterungen, dass ein sektiererischer Geist immer wieder neue Sekten gebiert. Die Grundlage hierfür wurde allerdings schon bei Russell selber gelegt. Er hatte sich in Ideen verrannt, von denen er nicht mehr umkehren konnte und wollte. Das war seine Tragik. Die Tragik, welche er vielleicht als noch schlimmer empfunden hätte als seine Irrtümer zu Lebzeiten, ist das Schicksal, das ihm nach seinem Tod zuteilwurde. Der Sektenexperte Friedrich-Wilhelm Haack fasst diese Tragik in folgenden Sätzen zusammen:

„Würde der Gründer Charles Taze Russell (1852-1916) heute bei Jehovas Zeugen Mitglied werden wollen, so dürfte er fast nichts mehr von dem glauben und lehren, was er in seinen Büchern und Traktaten geschrieben hat. Täte er das dennoch, dann bekäme er von der Versammlung oder vom Präsidium ´Gemeinschaftsentzug`, ein Wort und gleichzeitig ein Druckmittel, das ihm völlig unbekannt war. Russell verwendete in seinen Schriften beispielsweise das Kreuz, das von Jehovas Zeugen heute abgelehnt wird; er hatte in seinen Anhängerkreisen eine Art demokratischer Verfassung, während man heute auf die ´theokratische Leitung` pocht, und er berechnete die Endzeit vollkommen anders, als dies heute von der Sekte getan wird“ (Haack 1993, S. 13).

Die Lehren der Zeugen Jehovas

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