Читать книгу Ringelpietz mit Abmurksen - Lotte Minck - Страница 6
Prolog
Оглавление»Und? Was machst du so?«, fragte der Mann, der mir gegenübersaß.
Ich seufzte innerlich.
Ich sitze hier und langweile mich so sehr, dass ich mir am liebsten die Haare anzünden würde, nur damit etwas passiert, hätte ich am liebsten geantwortet, aber ich verkniff es mir, schließlich bin ich ein höflicher Mensch.
Außerdem: Er war hier, wie die anderen auch, um endlich die Liebe zu finden.
Und ich war hier, weil mir meine lieben Freunde Bärbel und Frank einen Gutschein für dieses Speed-Dating geschenkt hatten. Um genau zu sein: Es waren Gutscheine für drei Speed-Datings gewesen, und ich büßte gerade das zweite davon ab.
Sie hatten mir damit eine Freude machen wollen, und dafür liebte ich sie. Sie hatten sich dafür bedanken wollen, dass sie dank meiner Vermittlung nun stolze Betreiber eines kleinen, aber sehr lebendigen Lebensmittellädchens in meinem Viertel waren.
»Unser Leben hat sich um tausend Pimpillionen Prozente verbessert«, pflegte Frank zu sagen, »und dat nur wegen Loretta.«
Sie hatten lange überlegt, wie sie sich bedanken könnten, hatte Bärbel mir verraten, als sie mir den Umschlag mit den Speed-Dating-Gutscheinen übergeben hatten.
Ich hatte nicht gewusst, ob ich lachen oder weinen sollte.
Wirke ich wirklich derart bedürftig?, hatte ich mich spontan gefragt.
Gut, ich war seit einiger Zeit Single, und die glücklichen Paare um mich herum schienen zu glauben, dass dies kein Zustand war, mit dem man zufrieden sein konnte. Das galt nicht nur für Frank und Bärbel, sondern auch für Doris und Erwin sowie für Diana und Okko, die sich allesamt Sorgen um mein Seelenheil machten, wie ich aus Anlass der Gutschein-Übergabe erfuhr. Man hatte konspirativ beratschlagt und war zu dem Schluss gekommen, dass es an der Zeit war, mich auf die Piste zu schicken.
Bei dem Gedanken an die zahlreichen Telefonkonferenzen, bei denen es um mein nicht vorhandenes Liebes- beziehungsweise Sexleben gegangen war, wurde mir ganz anders.
Und jetzt saß ich Marc gegenüber, der bestimmt Muttis Liebling war, wie ich messerscharf aus dem eindeutig selbst gestrickten Pullover schloss, der seinen Oberkörper eine Spur zu knapp umspannte. Mit monoton dahinplätschernder Stimme hatte er mir Auskunft über sich gegeben – Bauarbeiter, siebenundvierzig Jahre –, und seine rot glänzende Halbglatze spiegelte seine Aufregung deutlich wider. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es war nicht sein Äußeres, das diese spontane Abneigung, gepaart mit bleierner Müdigkeit, in mir ausgelöst hatte. Nein, es war seine Stimme. Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild, wie er in unserer gemeinsamen Wohnung am Tisch saß und vor sich hin leierte, während ich hinter ihm stand und die hoch über meinen Kopf erhobene Bratpfanne mit Schmackes auf seinen Haarkranz niedersausen ließ. Endlich Ruhe. Hihihi, dann würde Kommissarin Küpper mich verhören und könnte mich endlich in den Knast befördern, was sie sich vermutlich schon etliche Male heimlich gewünscht hatte. Es sei denn, ich käme mit Notwehr durch.
Moment mal. Was hatte er mich gefragt? Genau. Der Gedanke an Notwehr hatte mich erheitert, stellte ich fest.
»Ich arbeite in einem Callcenter«, sagte ich, »für eine Online-Bank.«
»Wow. Das hätte ich nicht gedacht. Du siehst nicht so aus, als hättest du einen seri…« Er brach ab und stierte mich erschrocken an.
»Als hätte ich einen seriösen Job?«, soufflierte ich mit einem Lächeln. »Online-Bank. Alles passiert am Telefon. Ich muss nicht im schicken Kostümchen am Schalter stehen. Außerdem bin ich in der Administration tätig. Ich sitze also nicht an der Hotline und habe keinen Kundenkontakt. Ein ganz normaler, langweiliger Job in der Verwaltung.«
»In meiner Freizeit gehe ich angeln«, sagte er. »Und du? Hast du ein Hobby?«
»Fotografieren«, erwiderte ich.
Sein Gesicht hellte sich auf. »Das passt doch super. Dann kannst du die Fische knipsen, die ich geangelt habe. Weißt du, am liebsten gehe ich auf Karpfen. Und es gibt so eine Website, auf der man seinen Fang posten kann. Das stelle ich mir nett vor, mit dir zusammen loszuziehen und …«
Ein Gutes hatte diese Vorstellung: Er würde beim Angeln nicht reden. Aber alles andere an seiner Fantasie erfüllte mich mit geradezu lähmendem Entsetzen. Im Morgengrauen losziehen, dann stundenlang in der Pampa an irgendeinem Tümpel hocken und darauf warten, dass so ein bedauernswerter Fisch, der bis dahin ein schönes Leben geführt hatte, luftschnappend aus dem Wasser gezerrt wurde, nur um seinen sinnlosen Tod auf einer Website für angelnde Angeber zu dokumentieren? Nur über meine Leiche. Und selbst dann noch nicht.
Ein Glöckchen ertönte, und ich atmete innerlich auf. Denn dieses silberhelle Bimmeln bedeutete, dass Marcs und meine gemeinsame Zeit vorüber war.
»Oh, schon vorbei?« Marc war sichtlich enttäuscht. »Das waren doch nie und nimmer sieben Minuten!«
Doch, mein Lieber, das waren sogar sieben Ewigkeiten, dachte ich, setzte ein bedauerndes Lächeln auf und zuckte mit den Schultern.
Zögernd erhob er sich und trottete zum nächsten Tisch, während sich auf dem nun leeren Stuhl bereits der nächste Kandidat niederließ.
»Hi, ich bin der Jimmy.«
Ein Hauch von Sandelholz wehte mich an.
Auch er bestach optisch durch Gestricktes, allerdings hatte er das ausgeleierte Teil vermutlich selbst geklöppelt, an langen Abenden bei Räucherstäbchen, Fencheltee und indischer Sitarmusik.
Auf seine Frage hin tischte ich auch ihm die Lüge auf, ich sei bei einer Online-Bank angestellt, wie ich es Fremden stets erzählte. Dass ich bei einer Sexhotline arbeitete, wusste nur mein enges Umfeld, und das reichte auch vollkommen.
»Bei einer Baaaaaaank?«, fragte er skeptisch und verzog das Gesicht. »Dann hast du ja voll den kommerziellen Job. Das ist ja noch schlimmer als Sabine – die arbeitet als Bulle, das muss man sich mal vorstellen. Wie kann man für einen solchen Fascho-Verein knechten? Freiwillig? Unfassbar. Mit so einer Frau könnte ich niemals … also, dazu bin ich ein viel zu sensibler Mensch. Ich bin nämlich Künstler.«
Das erklärte seine Miene, denn mein Beruf war aus seiner Sicht offenbar ziemlich uncool. Aber immerhin war ich keine Faschistin.
Was für ein Schwachkopf.
»Künstler? Tatsächlich?« Ich bemühte mich, Interesse zu heucheln.
Jimmy nickte. »Ja, ich bin Lebenskünstler.« Er grinste stolz. »Ich bin Musiker, und bürgerliche Normen finde ich spießig. Das ist nicht so mein Ding.«
Höflich bleiben, Loretta, höflich bleiben … »Du verdienst deinen Lebensunterhalt als Musiker?«
»Mal mehr, mal weniger. Ich wohne zurzeit in der Schrebergartenlaube eines Kumpels, ganz im Einklang mit der Natur. Ich brauche nicht viel, du verstehst?«
Oh ja, ich verstand. Ich ahnte, was er spießig fand: regelmäßig frühmorgens aufstehen und arbeiten gehen, Steuern und Miete zahlen … diese langweiligen, bürgerlichen Dinge halt. Ich konnte ihm nur wünschen, dass er hier eine gleichgesinnte Lebenskünstlerin traf. Dann konnten sie zusammen in der Laube hocken und von dem leben, was sie im Wald an Beeren und Wurzeln fanden. Oder Bienen den Honig klauen.
»Ich finde es übrigens sehr unangenehm, dass du dich mir gegenüber so abfällig über Sabine geäußert hast«, sagte ich, »das gehört sich nicht.«
»Du bist ja noch spießiger, als ich dachte. Ich darf ja wohl meine Meinung sagen.«
»Das finde ich faschistisch, Jimmy: dass du in deinem Hochmut glaubst, das Recht zu haben, andere mit Dreck zu bewerfen. Sag deine Meinung, wem du willst, aber verschone mich mit deinen biederen und gestrigen Parolen über vermeintliche Spießer und angeblich faschistoide Polizisten.«
»Dich würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen«, zischte er.
Ich hob die Brauen und grinste. »Ist das ein Versprechen?« Als in diesem Moment das Glöckchen erklang, fügte ich hinzu: »Und jetzt verpiss dich, du Heiopei.«
Ha, das tat gut.
Geh mit Gott, aber geh, dachte ich, und verschwinde rückstandslos aus meinem Leben.
Ich lernte noch den ruhigen Gärtner Kai kennen und traf den sympathischen Rocker Hajo wieder, den ich bereits von letzter Woche kannte. Außerdem waren da noch die Spaßkanone Didi und der sehr gepflegte Dönerbudenbesitzer Cem. Zuletzt saß ich noch einem alten Bekannten gegenüber: Mike, dem ich ebenfalls bereits bei meinem ersten Speed-Dating begegnet war.
»Ich habe mich sehr auf dich gefreut. Was muss ich tun, damit du dich für mich interessierst?«, schmalzte er mich sofort an und blickte mir tief in die Augen.
Eigentlich unnötig, denn wir hatten ja schon bei der ersten Begegnung festgestellt, dass wir uns sympathisch waren.
Aber ich spielte gerne mit und zuckte grinsend mit den Schultern. »Versuchs mit einem Brilli, der die Größe einer Eierkohle hat.«
Er lachte so schallend, als hätte ich den Gag des Jahrtausends gerissen. »Dein Humor ist unwiderstehlich«, schnaufte er, als er sich wieder eingekriegt hatte. Dann wurde er ernst. »Wie sieht es aus: Bekomme ich deine Mail-Adresse?«
»Könnte sein.«
»Das hört sich doch gut an.« Er räusperte sich und deutete auf mein halb volles Glas. »Sag mal, trinkst du das noch? Mein Mund brennt wie Feuer, die ganze Zeit schon.«
Ich hielt ihm mein Glas hin, und er schüttete sich den Inhalt mit einem Schluck in den Rachen.
»Puh, schon besser. Echt erstaunlich, wie viele Gemeinsamkeiten wir haben«, gurrte er dann und sah mir tief in die Augen. »Darüber habe ich während der letzten Woche oft nachgedacht.«
Damit hatte er allerdings recht – verblüffend viele Gemeinsamkeiten sogar. Wir schienen das gleiche Essen, die gleiche Musik und den gleichen schwarzen Humor zu schätzen, und dennoch schlug mein Instinkt plötzlich und vollkommen unerwartet Alarm. War der Blick eine Spur zu feurig? Die Stimme eine Spur zu gurrend? Seine Trinkgewohnheiten eine Spur zu gierig? Seinen Begrüßungssekt hatte er ebenfalls in einem großen Schluck runtergekippt, sich über den Geschmack beschwert und sich dennoch umgehend nachschenken lassen. Wieder hatte er das Glas auf ex geleert.
Loretta, der Typ ist nicht koscher, wisperte ein Stimmchen in meinem Kopf, und ich war geneigt, auf diese Warnung zu hören. Er war wirklich sehr charmant und sehr interessiert, aber trotzdem …
Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Die restlichen Minuten plänkelten wir hin und her, bis Denise, die Moderatorin, unter fröhlichem Glöckchenschwenken das Ende der heutigen Dates einläutete.
»Oha, die Totenglocke durchtrennt gnadenlos unsere Schicksalsfäden«, raunte Mike mir mit einem neckischen Zwinkern zu, und ich rang mir ein Lächeln ab.
»Wir machen jetzt eine kurze Verschnaufpause«, zwitscherte Denise. »Ihr könnt euch vorne einen Kaffee holen oder ein Kippchen rauchen. Danach erkläre ich euch, wie es weitergeht. In zehn Minuten sehen wir uns wieder.«
»Meine Beine fühlen sich an, als wären sie eingeschlafen. Ich sollte mich mal ein bisschen bewegen. Ich muss sowieso mal kurz für kleine Königstiger«, sagte Mike, womit er mir eindeutig zu viel Information geliefert hatte. Er stand auf, taumelte ein wenig und musste sich am Tisch festhalten. »Hui … mir ist schwindelig. Du verwirrst meine Sinne.«
Sauf halt weniger, dachte ich gallig.
Wir verließen den Raum, und die Gruppe zerstreute sich. Mir war nach einem Espresso, aber ich hatte nicht vor, später zu den anderen zurückzukehren.
Ich ging hinaus auf die kleine und sehr idyllische Terrasse des Cafés und entdeckte einen Tisch, der von üppigen Büschen umgeben und von der Tür zum Innenbereich aus nicht zu sehen war. Rocker Hajo und Lebenskünstler Jimmy standen in einer Ecke, pafften hastig ihre Glimmstängel und waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Ob sie sich wohl über die Auswahl der Damen austauschten? Innerlich zuckte ich mit den Schultern. Konnte mir wurscht sein.
Um diese Zeit – es war beinahe sechs Uhr – waren nur noch wenige Gäste hier. Die Kaffeezeit war vorüber, und das Servicepersonal begann bereits damit, die frühlingshafte Dekoration von den Tischen zu räumen. Ich bestellte einen Espresso und ein kleines Glas Wasser, was mir blitzartig serviert wurde.
Ich lehnte mich zurück, blinzelte in die Sonne und hoffte, dass Mike nicht auf die Idee kam, hier nach mir zu suchen. Irgendwas an ihm hatte mich heute abgetörnt, nachdem ich mich doch zunächst auf unser Treffen gefreut hatte. Merkwürdig. Aber mein Bauchgefühl ließ mich von meinem ursprünglichen Plan, unsere Bekanntschaft zu vertiefen, Abstand nehmen.
Ich griff zum Tässchen und hob es an die Lippen, als ein gellender Entsetzensschrei mich zusammenfahren ließ. Brühheißer Espresso ergoss sich über mein Knie, was höllisch schmerzte. Geistesgegenwärtig sorgte ich mit dem Wasser aus dem Glas für umgehende Abkühlung, während eine Frau kreischte: »Zu Hilfe! Wir brauchen einen Arzt, schnell!«
War etwa jemand ausgerutscht und gestürzt? Ich sprang auf und rannte hinein.
Unablässig kreischte die Frau weiter, und mit mir stürmten etliche Leute in den Gang, der zu den Toiletten führte. Im Vorraum des Sanitärbereichs lag ein Mann auf den Fliesen, der halb von der schreienden Frau verdeckt wurde, die neben ihm kniete. Ich erkannte sie sofort an ihren fusseligen Haaren. Es war Mareile, die sich jetzt zu uns umdrehte und stammelte: »Er ist tot! Mike ist tot! Gerade lebte er noch, und jetzt ist er tot!«
Rasch trat ich zu ihr und streckte die Hände aus, um ihr hochzuhelfen. Taumelnd kam sie auf die Füße und lehnte sich schwer an mich. Ich blickte auf die liegende Gestalt hinunter, deren Haltung sehr steif wirkte. Die Augen waren weit aufgerissen und starrten blicklos zur Decke.
Mir fiel ein, dass er über ein starkes Brennen im Mundraum geklagt und sich über den miesen Geschmack des Begrüßungssekts beschwert hatte. Und jetzt war er mausetot.
Das war kein stinknormaler plötzlicher Herztod, nie im Leben.
Ich tätschelte Mareile die bebende Schulter und richtete mich auf einen langen Abend ein.