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Kapitel 1

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Ohne Neckereien ist das Leben nur halb so schön, findet Loretta – und teilt munter aus

»Du guckst mich an, als hättest du mich noch nie gesehen.«

Dennis’ Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Es war Sonntagmorgen, wir frühstückten gerade. Und es war einer dieser Momente, in denen es mir vollkommen unwirklich erschien, dass er und ich ein Paar waren.

Seit einigen Monaten waren wir nun zusammen, und so natürlich es sich einerseits anfühlte, so absurd fand es ein anderer Teil von mir. Während unser Freundeskreis nur darauf gewartet hatte, dass wir es endlich kapierten, hatten Dennis und ich parallel auf der gleichen Single-Plattform nach der großen Liebe gesucht. Verrückt.

»Ich entdecke ständig Neues an dir«, erwiderte ich. »Jetzt gerade ist es zum Beispiel ein Stück Rührei, das in deinem Pornoschnäuzer hängt.«

»Was?« Hektisch wischte er sich durchs Gesicht, bis er endlich mein diabolisches Grinsen bemerkte und damit aufhörte. »Du kannst es einfach nicht lassen, oder?«

Nein, das konnte ich nicht.

Immerhin waren meine Neckereien jahrelang fester Bestandteil unserer Freundschaft gewesen, die sich wiederum aus einer Arbeitsbeziehung entwickelt hatte. Ich hatte noch immer keine Ahnung, ob es klug gewesen war, mit dem Chef anzubandeln. Aber nun war es zu spät.

Im Callcenter waren wir zunächst ganz diskret mit unserem neuen Status als Paar umgegangen, aber irgendwie hatte es doch die Runde gemacht. Für ungefähr sechs Minuten waren wir allgemeines Gesprächsthema gewesen, dann gingen alle wieder zur Tagesordnung über.

Von meiner Kollegin und Freundin Doris hatte ich dann erfahren, dass die meisten Mitarbeiter ohnehin längst davon ausgegangen waren, dass Dennis und ich heimlich ein Verhältnis hatten, was mich sehr verblüffte. Hatten wir miteinander geflirtet, ohne es selbst zu bemerken? Wir waren jedenfalls ein Paradebeispiel dafür, dass sich aus einer langjährigen, kumpelhaften Freundschaft durchaus mehr entwickeln konnte.

Zugegeben: Vor unserem ersten Kuss – von der ersten gemeinsamen Nacht will ich gar nicht anfangen – hatte ich Muffensausen gehabt, aber hallo. Unter den etlichen Optionen hatte eine darin bestanden, dass es sich anfühlen würde, als würde ich meinen Bruder küssen. Mein Herz hatte vor Nervosität wie verrückt gehämmert. Aber dann war es einfach himmlisch gewesen. (Und alles andere als geschwisterlich.)

Wir ließen es trotz allem langsam angehen. Wir hatten uns gefunden, und das genossen wir mit einer gewissen gelassenen Zufriedenheit. Wir waren beide Mitte vierzig, und wir mussten nichts überstürzen. Darin waren wir uns einig, ohne es aussprechen zu müssen.

Mal übernachtete er bei mir, mal ich bei ihm, aber wir hingen nicht wie Kletten aneinander. Davon, zusammenzuziehen, war bisher keine Rede, auch wenn ich mir deutlich Schlimmeres vorstellen konnte, als in Dennis’ wunderschönem Bauernhaus außerhalb der Stadt zu wohnen. Aber ich liebte meine Wohnung, die mir noch ein gewisses Maß an Unabhängigkeit gewährte. Außerdem: Der kleine Lebensmittelladen meiner Freunde Bärbel und Frank war nur wenige Gehminuten entfernt. Seit sie ihn übernommen hatten, sahen wir uns beinahe täglich, und das bedeutete mir viel.

»Was hast du heute noch vor?«, fragte Dennis. Er beugte sich hinunter und streichelte meinen Kater Baghira, der maunzend um die Tischbeine strich, weil er scharf auf unser Rührei war.

»Cäcilie und Käthe haben mich in die Residenz zum Essen eingeladen. Sie wollen mir irgendetwas erzählen, haben sie gesagt. Sie taten sehr geheimnisvoll.«

Dennis tauchte wieder auf und lächelte. »Du magst die beiden alten Mädchen, oder?«

Seine Frage war rein rhetorisch und bedurfte keiner Antwort. Cäcilie und Käthe – muntere Schwestern jenseits der achtzig – hatten vor einigen Monaten bei der Aufklärung des letzten Mordfalls geholfen, in den ich gestolpert war. Nicht nur das: Sie waren auch live dabei gewesen, als der Fall seinen fulminanten Abschluss gefunden und Dennis mir heldenhaft das Leben gerettet hatte. Seither besuchte ich sie regelmäßig alle drei bis vier Wochen zu einem Plausch bei Kaffee und Kuchen.

»Ich bin nicht zufällig auch eingeladen?«, fragte Dennis.

Ich schüttelte den Kopf. »Sie lieben dich, das weißt du, aber diesmal handelt es sich um ein reines Mädelstreffen. Du wirst dich ohne mich doch nicht etwa langweilen? Ich komme später noch vorbei.«

»Das ist es nicht.« Dennis seufzte theatralisch. »Ich hatte irgendwie gehofft, mich vor der dringend notwendigen Gartenarbeit drücken zu können, die ich mir für heute vorgenommen habe. Es ist Herbst, und es gibt viel zu tun. Blätter zusammenharken, die Äpfel aufsammeln, verblühtes Zeugs abschneiden, ein letztes Mal den Rasen mähen, die Gartenmöbel einmotten, das Hühnerhaus auf Winterfestigkeit checken …«

»… einen Brunnen graben und die Zäune an der Nordweide reparieren«, fiel ich ihm grinsend ins Wort. »Du tust gerade so, als wäre dein Garten so groß wie das Gelände der Ponderosa Ranch.«

»Klein ist er nicht gerade, oder?«

»Du musst ja nicht alles heute erledigen. Und ich könnte dir später noch helfen.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Nach dem Frühstück trödelte er noch ein wenig herum, aber schließlich verabschiedete er sich. Baghira bekam eine winzige Portion vom übriggebliebenen Rührei, die er begeistert verputzte. Als er sah, dass ich den Staubsauer einstöpselte, floh er Hals über Kopf auf seinen Kratzbaum und beäugte von oben aus sicherer Entfernung, wie ich die lärmende Teufelsmaschine durch die Wohnung manövrierte. Als ich das erledigt hatte, putzte ich das Bad, das es mehr als nötig hatte.

Danach brühte ich mir einen frischen Espresso und lümmelte mich damit aufs Sofa. Kaum saß ich, als das Telefon klingelte: Es war meine beste Freundin Diana.

»Huhu!«, zwitscherte sie aufgeräumt. »Ich habe dich doch nicht etwa geweckt? Oder bei etwas gestört?«

Die Art, wie sie dieses Wort aussprach – gestöööhööört –, ließ eine gewisse Schlüpfrigkeit mitschwingen. Prompt ritt mich der Teufel.

»Nee«, erwiderte ich betont brummig. »Bin gerade mit dem Putzen fertig.«

»Putzen? Wie unsexy. Und das am Sonntagmorgen. Ist Dennis nicht bei dir?«

»Dennis? Mit dem hab ich Schluss gemacht.«

Mit diabolischem Vergnügen genoss ich die fassungslose Stille am anderen Ende der Leitung.

Nach einer angemessenen Pause fuhr ich fort: »Je besser ich ihn kennenlernte, desto langweiliger wurde er. Stink-lang-wei-lig. Wir hatten uns rein gar nichts zu erzählen. Was auch? Schließlich sehen wir uns seit Jahren täglich, da werden die Gesprächsthemen knapp. Ehrlich, ich bin zu alt, um meine Zeit mit einem Langweiler zu verplempern.«

Immer noch Stille.

Schließlich wisperte sie: »Du machst hoffentlich Witze?«

»Wieso – hast du Angst, dass du den anderen das Geld aus der gewonnenen Wette zurückzahlen musst?«

Es hatte sich seinerzeit nämlich herausgestellt, dass meine Freunde um den Zeitpunkt gewettet hatten, wann Dennis und ich zusammenkommen würden. Diana hatte punktgenau geschätzt und ordentlich abgeräumt.

»Quatsch, ums Geld geht es mir nicht. Wie kannst du das nur denken? Aber ich dachte, ihr beide … Ich hab mich doch so für euch gefreut!«

»Ich doch auch, Diana. Zuerst jedenfalls. Aber wie sage ich immer: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«

Wieder schwieg sie einen Moment lang, dann sagte sie: »Moment mal. Seit wann sonderst du denn derartig bescheuerte Phrasen ab? Zumal zu einem so wichtigen Thema! Weißt du was? Ich glaube dir kein Wort! Und ich kriege selbst durch den Hörer mit, dass dein Grinsen von einem Ohr bis zum anderen reicht.«

Ich musste kichern. »Schon gut, du hast ja recht. Keine Sorge, zwischen Dennis und mir ist alles in Butter. Wir haben uns lieb und sind sehr nett zueinander, wie es sich gehört. Aber er hat in seinem Garten zu tun, und ich bin später mit den beiden Schwestern verabredet.«

Ich musste ihr nicht erklären, wen ich damit meinte, denn selbstverständlich war Diana über jedes Detail meiner letzten Mördersuche informiert.

»Ich würde sie zu gern mal kennenlernen«, sagte sie. »Apropos: Okko nervt mich damit, wann ihr endlich mal zu uns an die Küste kommt.«

»Wer – die Schwestern und ich?«

»Quatsch. Dennis und du natürlich. Dennis war zwar auf unserer Hochzeit, aber Okko erinnert sich nur noch an einen Lulatsch in schrägen Klamotten.«

Lulatsch in schrägen Klamotten – das traf es tatsächlich recht gut, wie ich zugeben musste. Dennis war hochgewachsen und schmal, und er hatte eine Vorliebe für die Siebziger. Das führte zuweilen zu modischen Extravaganzen, die wahrlich nicht nach jedermanns Geschmack waren, aber das war ihm so wurscht wie nur was. Schon immer hatte ich das Selbstbewusstsein bewundert, mit dem er seine leidenschaftliche Liebe zu Schlaghosen, Plateaustiefeletten und überbreiten Krawatten auslebte. Oft genug sah er aus, als wäre er auf dem Weg zu einer Bad-Taste-Party, bei der er hundertprozentig den ersten Preis abgeräumt hätte. Das Beste war, dass er über meine spitzzüngigen und spöttischen Bemerkungen zu seinem Äußeren stets hatte lachen können. Ein Mann mit Selbstironie – das allein wäre ja eigentlich schon Grund genug gewesen, mich in ihn zu verlieben.

»Schönen Gruß an deinen Gatten – ein Besuch bei euch steht ganz oben auf meiner Liste.«

»Super. Aber sag Dennis, er soll mir dann nicht wieder damit auf den Keks gehen, dass ich die beste Domina war, die er jemals hatte, und zurück an seine Hotline kommen soll.«

Tatsächlich gehörte es zum Ritual, dass Dennis sie genau darum bat, wenn er und Diana sich begegneten. Wie ernst es ihm damit war, konnte ich nicht einschätzen, aber sicherlich würde er sich gegen ihre Rückkehr nicht wehren. Okko hatte nie ein Problem damit gehabt, dass Diana an der Sexhotline gearbeitet hatte, aber …

»Okko fände es also nur mäßig komisch, wenn Dennis die Telefondomina in dir wieder heraufbeschwören wollte?«, fragte ich amüsiert.

»Mäßig komisch?« Diana schnaubte. »Du weißt selbst, dass er mehr als entspannt mit meiner Vergangenheit an der Sexhotline umgeht, aber … Sagen wir so: Wenn Dennis in seinem Beisein versuchen würde, mich zu überreden, würde Okko ihm wahrscheinlich weit draußen im Watt bei einem Picknick auf einer Sandbank K.-o.-Tropfen in ein Glas Bier geben und ihn bei der nächsten Flut ersaufen lassen.«

»Und das als Anwalt.«

»Anwälte sind auch nur Menschen. Und zuweilen gleichzeitig Ehemänner, die ihre Frau abgöttisch lieben. Aber sie verfügen manchmal über ein profundes Wissen, wie sie den perfekten Mord begehen können.«

»Profundes Wissen? Ich würde das kriminelle Energie nennen, meine Liebe. Aber die Idee ist tatsächlich hübsch. Auf deinem Mist gewachsen?«

Diana kicherte. »Ja, gerade eben. Okkos Beruf scheint mich irgendwie zu inspirieren.«

»Solange du ihm keine Vorschläge machst, wie er meinen Freund beseitigen kann …«

»Das würde ich niemals tun. Dazu mag ich ihn viel zu sehr. Außerdem bist du wieder viel fröhlicher, seit du mit ihm zusammen bist. Süße, ich muss los, Heini wartet schon ungeduldig auf seinen Strandspaziergang. Grüß den Lulatsch von mir.«

Wir legten auf, und ich musste feststellen, dass ich sie nur zu gern auf dem Strandspaziergang mit Heini, ihrem quirligen Terrier, begleitet hätte. Es wurde wirklich mal wieder Zeit, sie zu besuchen. Zusammen mit Dennis.

Eigentlich hatte ich es sogar ihr zu verdanken, dass Dennis und ich jetzt ein Paar waren. Bei ihrem letzten Besuch bei mir war sie zu dem Schluss gekommen, dass ich einsam und unglücklich war, hatte mich an einem sehr angeheiterten Abend zu einem Profil auf einer Plattform für Singles genötigt, auf der auch Dennis aktiv gewesen war …

Der Rest ist Geschichte.

Eine Stunde später parkte ich mein Auto auf dem Randstreifen in der Straße, an der sich die Seniorenresidenz ›Herbstglück‹ befand. Wie üblich waren die beiden Flügel des schmiedeeisernen Tores, durch das man das weitläufige Gelände betrat, einladend geöffnet. Das Laub der malerischen Allee aus Buchen, die zur Residenz führte, schimmerte goldgelb und orange, wie es sich für den Herbst gehörte. Im Sommer nutzten die Bewohner der Einrichtung ausgiebig den schönen Park, der das Gebäude umgab, aber heute konnte ich niemanden entdecken, denn es war trotz der Sonne herbstlich kühl. Für meine Verabredung war ich etwas zu früh dran, also spazierte ich zunächst zum kleinen Ententeich. Sofort kam das Federvieh hoffnungsvoll zum Ufer gepaddelt, drehte aber umgehend desinteressiert wieder ab, als ich keine Anstalten machte, sie zu füttern. Klare Ansage: Du hast nichts für uns, also existierst du für uns nicht.

Ob Baghira wohl auch nur deshalb so anschmiegsam war, weil ich ihn mit Leckerbissen verwöhnte? Wir vermenschlichen unsere Haustiere ja nur zu gern und bilden uns ein, dass sie uns lieben, aber vermutlich ist das nur eine Mischung aus Kalkül, Bequemlichkeit und Instinkt. So nach dem Motto: Bei der Ollen ist es warm, gemütlich und trocken, und sie kann im Gegensatz zu mir die Dosen öffnen, in denen mein Futter aufbewahrt wird – hier bleibe ich, denn hier ist das Leben viel einfacher und besser als in der freien Wildbahn.

Ich schlenderte weiter.

Überall lag herabgefallenes Laub, auch zwischen den hüfthohen Holzfiguren der beiden großen Schachspiele, deren Partien auf gepflasterten Flächen aus weißen und schwarzen Steinplatten ausgetragen wurden. Auf dem einen Spielfeld standen die Figuren ordentlich aufgereiht am Rand, auf dem anderen waren sie wie bei einer laufenden Partie angeordnet. Aber es konnte natürlich auch sein, dass sie einfach sinnlos irgendwo herumstanden; von Schach verstand ich nichts. Umgeben war das lauschige, vom Hauptweg nicht einsehbare Areal von Büschen, zwischen denen in regelmäßigen Abständen Bänke standen, die interessierten Zuschauern Platz boten.

Die gekiesten Spazierwege wanden sich anmutig durch den idyllischen Park, der auch zu dieser Jahreszeit noch jede Menge Charme besaß. Das Laub der Bäume und Büsche prunkte in traumhaften Herbstfarben, und in den wie zufällig angelegten Beeten blühten farbenfrohe Astern. Ich passierte einen kleinen Minigolf-Platz und diverse hübsche Sitzgelegenheiten. Ich liebte den versteckt liegenden hölzernen Pavillon, der mit Korbmöbeln für vier Personen eingerichtet und von einer Kletterrose umrankt war, die noch etliche Blüten trug. Ein wunderbares Plätzchen, wenn man einen ungestörten Plausch halten wollte.

Nicht der schlechteste Ort, um seinen Lebensabend zu verbringen, dachte ich nicht zum ersten Mal.

Nicht, dass ich mir diese Luxusresidenz jemals würde leisten können, aber ich beglückwünschte jeden, der hier wohnte.

Wie Cäcilie und Käthe zum Beispiel, die bestimmt schon auf mich warteten, wie ein Blick auf die Uhr mir klarmachte.

Ich musste mich sputen, also ging ich quer über den Rasen zur Terrasse ihrer Suite. Dort stand eine pfirsichfarben gekleidete Gestalt und winkte mir schon von Weitem zu.

Schach mit toter Dame

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