Читать книгу Die Farbpalette der Sehnsucht - Louis Geras - Страница 9
6. Kapitel
ОглавлениеDer Regen, der für kurze Zeit aufgehört hatte, setzte wieder ein. Das leise Rauschen, welches durch das Prasseln der Tropfen auf die Überdachung des Bahnhofs entstand, schläferte mich ein, ließ mich in einen sanften Schlaf hinüberdämmern. Erst eine sanfte Berührung einer Hand weckte mich. Ich schreckte hoch und sah benommen um mich. Pat stand vor mir und deutete hinter sich. „Der Zug kommt.“, sagte er und half mir auf meine steifen Beine. „Geht‘s?“, fragte er besorgt, als ich taumelnd auf die Füße kam. Dabei hielt er mich sachte am Arm fest. Ich nickte langsam und sammelte mein Gepäck zusammen, während der Zug bereits in den Bahnhof einfuhr. Nun hörte ich auch die Durchsage, die aus dem Lautsprecher in mehreren Sprachen ertönte. Ich hätte sicher verschlafen, wenn er mich nicht geweckt hätte.
Ich murmelte mit belegter Stimme: „Danke.“ Dann setzte ich noch dazu: „Ich muss wohl eingeschlafen sein.“ Was offensichtlich war, aber mein Gehirn brauchte ein Weilchen, bis es wieder in Schwung kam. Ich sah mich noch einmal um, ob ich auch nichts vergessen hatte. Dann folgte ich den anderen Reisenden zum Zug und kletterte die Stufen in den Wagon. Immer noch halb schlafend sah ich mich nach Pat um. Er war scheinbar schon in einen anderen Wagon eingestiegen, denn ich sah ihn nicht mehr. Sein Verschwinden bewirkte, dass ich plötzlich den Tränen nah war. Am liebsten hätte ich losgeheult, denn ich fühlte mich plötzlich schrecklich einsam und ungeliebt. Doch ich kämpfte diesen Impuls nieder, denn es war mir klar, dass es in erster Linie an meiner Übermüdung lag, dass ich weinerlich wurde. Außerdem gab es nichts, dass ich mehr verabscheute als grundlose Heulerei. Zornig über mich selbst, schüttelte ich meinen Kopf. Zum einen um meine Benommenheit abzuschütteln, zum anderen um meine plötzlich auftretende Mutlosigkeit zu vertreiben.
Dieses Mal hatte ich sofort Glück. Ein Abteil war vollkommen leer. Nur Wenige reisten mit diesem späten Zug. Pat und seine Freunde sah ich nicht mehr. Kurz überlegte ich, ob ich nach ihm Ausschau halten sollte. Doch dann verwarf ich diesen Gedanken.
Nachdem ich meine Sachen im Koffernetz verstaut hatte, machte ich es mir bequem. Ich war wieder hellwach. Eine zurückgelassene Zeitschrift lag auf der kleinen Ablage vor dem Abteilfenster. Die Zeitschrift war wie neu und so nahm ich sie und blätterte sie durch. Meine Gedanken waren jedoch wo anders. So blätterte ich achtlos die ersten Seiten um. Erst als ich die Seite mit dem Horoskop aufschlug, sprang mir ein Satz förmlich ins Auge. „Versuchen sie nicht ihr Glück zu erzwingen. Wenn es kommt, kommt es leise von alleine.“, stand da mit Fettschrift unter meinem Sternzeichen. Es passte genau. Es hatte keinen Sinn an Pat zu denken. Er war nur höflich gewesen. Ich musste ihn vergessen und mich auf MICH konzentrieren. Ich beschlossen ihn aus meinen Gedanken zu verbannen und mich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen.
Sobald ich in Padua ankam, würde ich mich als erstes um ein Zimmer kümmern müssen. Ich hoffte, dass ich um diese Zeit - der Zug kam zirka um 1 Uhr 30 in Padua an – noch irgendwo eines fand. Es war jetzt kurz nach Mitternacht. Ich hatte also noch etwas mehr als eine Stunde Zeit. Vor allem aber durfte ich nicht wieder einschlafen. Also nahm ich die Zeitschrift, die ich gedankenverloren auf meinen Schoß sinken hatte lassen, wieder in die Hand und blätterte weiter. Einen Artikel über zeitgemäße Kunst überblätterte ich eilig, nachdem ich die ersten nichtssagenden Bilder betrachtet hatte. Sie bestanden aus grauen und schwarzen Flecken auf weißer Leinwand, gesprenkelt mit roten Spritzern. Ich konnte damit nicht viel anfangen. Es ist oft nicht erkennbar, worin die Kunst liegt ein paar Striche oder Kleckse auf eine weiße Leinwand zu malen. Aber wahrscheinlich ist es die Kunst, so etwas zu horrenden Preisen zu verkaufen. Ich bevorzugte klassische Kunst, beziehungsweise Kunst, die man erkennt und die etwas darstellt. Man könnte sagen, ich bin in diesen Dingen altmodisch. Mich interessierten mehr die verschiedenen Techniken, mit denen man die unterschiedlichsten Wirkungen erzielen kann. Hier, auf diesem Gebiet, war ich auch immer wieder auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, die Wirkung zu verändern. Es kam vor, das ich immer wieder das gleiche Motiv malte, jedoch jedes Mal eine andere Methode verwendete, nur einzelne Farben veränderte oder die Strichrichtung. Ich war oft überrascht, wie sehr sich dadurch die Wirkung eines Gemäldes veränderte.
Als nächstes kam ein Artikel über Nudeln und Nudelgerichte. Mir lief das Wasser schon allein vom Anschauen im Munde zusammen. Die kräftigen Farben der Zutaten leuchteten mir entgegen. Wahre Kunstwerke, die meinen Magen laut knurren ließen, so dass ich froh war allein im Abteil zu sitzen. Es ist wirklich grausam, dass ständig überall Berichte über Essen und Kochen in solchen Zeitschriften sind. Wie soll man da sein Gewicht halten?
Eilends blätterte ich zur nächsten Seite und las die Überschrift eines mehrseitigen Berichtes: „ Universität Padua – Der Weg aus der Vergangenheit in die Moderne“. Bilder alter Gebäude neben hochmodernen Gebäudekomplexen waren nebeneinander aufgereiht. Dazwischen Fotos von fröhlich feiernden jungen Studenten in Lokalen, welche in kleinen Hinterhöfen sich versteckten. Ein Bericht über Entstehung und Entwicklung der Universität in den letzten Jahrhunderten füllte die nächsten Seiten. Auch Berühmtheiten, wie Galileo, die dort studiert oder unterrichtet hatten, wurden erwähnt und zum Teil auch mittels einer Biographie vorgestellt. Der alte Teil der Universität faszinierte mich am meisten. Ich nahm mir vor, diesen Teil Paduas zu besuchen. Am besten mit meinem Malkoffer. Am Ende des Berichts wurden auch noch die Studienrichtungen vorgestellt und einige der unterrichtenden Professoren. Der Anhang bildete eine Auflistung von Zimmern und kleine Wohnungen im alten Stadtkern von Padua mit Blick auf die alten ehrwürdigen Gebäude des Zentrums. Günstige Wohnmöglichkeiten für Studenten. Als besonderer Tipp für Reisende wurde noch vermerkt, dass viele Studenten ihre Wohnungen in den Sommerferien an Touristen für eine geringe Miete überließen. Daneben stand eine Kontaktadresse mit Telefonnummer.
In diesem Moment ertönte die Durchsage in mehreren Sprachen aus dem Lautsprecher: „Wir erreichen in wenigen Minuten Padua. Der Zug hat fünf Minuten Aufenthalt. Anschluss nach Florenz, Rom und Genua.“
Hastig packte ich meine Sachen zusammen und folgte den anderen Reisenden durch den schmalen Seitengang zum Ausstieg.
Der Zug verlangsamte inzwischen sein Tempo. Die Lichter des Bahnhofs kamen näher. Dann bremste der Zug quietschend und kam mit einem Ruck zum Stehen.
Die Passagiere kletterten unendlich langsam (zumindest kam es mir so vor) mit ihren Koffern und Taschen die Stufen hinunter aus dem Wagon. Als ich endlich meinen Fuß auf den Bahnsteig setzte und hochblickte, musste ich feststellen, dass ich als letzte den Zug verlassen hatte. Ich sah nur noch die letzten Fahrgäste den Bahnsteig durch eine Glastür, die in die Bahnhofshalle führte, verlassen.
Außerhalb der grellen Bahnhofsbeleuchtung war es Finster. Die kühle, feuchte Luft umgab mich und es fröstelte mich. Tropfen fielen vom Vordach des Bahnhofs und landeten mit einem ungewöhnlich lauten „Klatsch“ auf die roten Fliesen des Bodens. Ansonsten war es still. Nur hin und wieder wehte der leichte Wind ein paar Wortfetzen aus der Halle herüber.
Langsam folgte ich den Anderen in die leere, kalte Bahnhofshalle. Der Schmutz, der überall lag, verschlimmerte die Trostlosigkeit, die mich zusehends umfing noch mehr. Ich durchquerte die Halle und verließ sie durch das große, gegenüberliegende Tor, das zum davorliegenden Platz führte. Dort warteten ein paar Taxis.
Mir war kalt. Ich kramte den orangefarbenen Pullover aus dem Rucksack und zog ihn an. Dann ging ich auf das nächst gelegenem Taxi zu und klopfte an die Fahrzeugscheibe, um den darin schlafenden Fahrer zu wecken. Der Taxifahrer öffnete die Augen und kurbelte nach ausgiebigem Gähnen das Fenster hinunter.
„Do you know where a hotel is?”, fragte ich ihn. Der schwarzhaarige, bärtige Mann nickte schweigend, stieg aus und griff nach meinem Gepäck. Er legte es in den Kofferraum, den er bereits geöffnet hatte, dann hielt er mit einem breiten Grinsen die Taxitür für mich auf und sagte in gebrochenen Deutsch: „ A Signorina, si, si, ich kennen Hotel, gutes Hotel nicht weit von hier.“
Trotz meines unguten Gefühls in der Magengrube, stieg ich nach kurzem Zögern ein. Ich war zu Müde um noch lange zu verhandeln, obwohl ich mir sicher war, dass er mir viel zu viel verrechnen würde. Der Fahrer schloss die Tür hinter mir, setzte sich an seinen Platz und drückte auf den Taxameter. Dann gab er Gas. Das Auto rast durch die leeren Straßen der Stadt. Zehn Minuten später hielt er vor einem Hotel an.
Als ich aus dem Fenster sah, erblickte ich ein heruntergekommenes dreistöckiges Gebäude, welches von einer grellen Leuchtschrift erhellt wurde. ‚Hotel Venezia‘ stand in geschwungenen Buchstaben an der Fassade. Der abblätternde Putz und die zum Teil schiefhängenden Fensterläden gaben dem ganzen Gebäude etwas Schäbiges, um nicht zu sagen Verruchtes.
Bevor ich jedoch noch etwas einwenden konnte, eilte eine Person bereits durch die Drehtür aus dem Hotel die Treppe herunter. Der Fahrer stieg eilig aus und begrüßte den Herbeieilenden freundschaftlich mit einem kollegialen Klaps auf die Schulter. Dann öffnete er die Tür und sagte, auf mich herabblickend: „Gutes Hotel, gutes Hotel!“ Dabei deutete er auf das schäbige Bauwerk, um gleich darauf mit dem Ausladen meines Rucksacks und meines Malkoffers zu beginnen. Der Page ergriff sie sofort und stieg die Stufen hinauf und verschwand im Hoteleingang.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Taxifahrer den unverschämten Fahrpreis, den er verlangte, zu bezahlen und dem Hoteldiener, einen kahlköpfigen, dicken Mann, der mit kleinen steifen Schritten davongeeilt war, hinterher zu hasten.
Er stand bereits ungeduldig mit den Schuhen wippend, wartend vor der Rezeption, an welcher eine weißhaarige Frau in geblümter Kleiderschürze - (Ich hasse geblümte Kleiderschürzen!) - saß.
„Buona Noche!“, schnarrte sie mit dunkler rauchiger Stimme und schob mir ein Gästeverzeichnisbuch zu. „Bitte eintragen!“, forderte sie mich in Befehlston auf, wobei sie mit ihren nikotingelben Fingern auf die Stelle tippte, an der ich meinen Namen und meine Adresse angeben sollte.
Während ich mich in die Besucherliste eintrug, holte sie einen Schlüssel vom Board und legte ihn vor mir hin. „Zimmer wird ihnen gefallen. Zimmer 33. Sehr schön!“, sagte sie noch eilig, während sie sich bereits erhob. Dann verschwand sie im Nebenraum aus dem Fernsehgeräusche tönten.
Der Gepäckträger trug mein Gepäck zum Lift und ich folgte ihm mit einem gewissen Unbehagen. Leise summend schloss sich die Lifttür hinter uns und der Fahrstuhl setzte sich ruckend in Bewegung. Kurz darauf stiegen wir im dritten Stockwerk aus, gingen den düsteren Gang entlang und blieben vor der Tür Nummer 33 stehen. Ich wandte mich an meinen Begleiter und sagte: „Danke, den Rest kann ich alleine.“ Ich wusste nicht, ob er mich verstand, aber er nickte, überreichte mir den Schlüssel und schlurfte zum Lift in dem er verschwand.
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn leise quietschend um. Dann drückte ich die Klinke nieder und knarrend schwang die Tür in das Zimmer. Ich trat ein und nachdem ich die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, sah ich mich um. Der kleine Raum war, wie nicht anders zu erwarten, alt und abgewohnt. Auch hier blätterte überall die alte Farbe ab. Das grelle Neonlicht der Außenbeleuchtung drang durch die kaputten Fensterläden. Die alten Vorhänge waren verschlissen und hingen nur noch an wenigen Ringen an den Garnischen. Ich stellte den Rucksack auf den schmutzigen Boden. Es war offensichtlich, dass der Raum schon länger nicht mehr gründlich gereinigt worden war. Das Fenster war halb geöffnet. Draußen ratterte ein Zug vorbei. Ich musste in unmittelbarer Nähe der Gleisanlagen sein.
Frustriert und erschöpft ließ ich mich auf das Bett fallen. Es quietschte laut und die Federn der Matratze waren deutlich zu spüren. Frustriert strich ich mit der Hand über die Stirn. Bitter stellte ich fest, dass ich alle Fehler, die man auf einer Reise machen konnte, bereits am ersten Tag gemacht. Ich wusste, von den Taxis, die von den Reisenden einen unverschämten Fahrpreis verlangten, von den Abmachungen zwischen schlechten Hotels mit den Taxifahrern und, dass man sich nicht zu etwas drängen lassen sollte. Trotzdem hatte ich mitgespielt. Es ihnen geradezu leicht gemacht. Aber ich war wie erschlagen und ausgelaugt von den letzten Stunden, Tagen und Wochen. Ich war einfach Urlaubsreif. Ich hatte mich auf die schönsten Tage des Jahres gefreut, die ich gemeinsam mit meinen Ex-Freund verbringen wollte, und nun saß ich allein in einer fremden Stadt, in der ich mich nicht auskannte, in einem miesen Hotel, in einem noch mieseren Zimmer. Es regnete und ich hätte Heulen können. Dazu kamen auch noch meine Zweifel wieder hoch. ‚Ich hätte mit ihm reden sollen. Man kann alles bereden! Er hätte sich sicher bemüht! ‘, dachte ich und wusste im selben Moment, dass dies nur unrealistisches Wunschdenken war. ER hätte sich sicher nicht geändert.
Ich schob den Gedanken bei Seite und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. Meine Hände glitten über die Bettwäsche. Sie fühlte sich glatt und frisch an. Wenigstens schien die Bettwäsche sauber zu sein. Ich wollte Duschen, also stand ich auf und öffnete die Tür zum Bad.
Auch hier war alles alt. Und ob, beziehungsweise wann geputzt worden war, war mehr als fraglich. Trotzdem schaltete ich das Wasser ein, wobei ich mich bemühte möglichst wenig zu berühren, um mir nicht irgendeine Krankheit in diesem Bakterienparadies einzufangen. Ich warf meine Kleidung auf das Bett und stellte mich unter den kalten Wasserstrahl. Warmwasser gab es anscheinend nicht. Es wäre auch zu schön gewesen. Ich nahm mein eigenes Handtuch - denn im Badezimmer hing keines - und trocknete mich ab. Dann schlüpfte ich unter die Bettdecke. Dort war es angenehm warm.
Es war lächerlich, aber ich fühlte mich unter der Decke geborgen. Es dauerte lange bis ich endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, der vom Rattern der Räder vorbeifahrender Züge immer wieder unterbrochen wurde.