Читать книгу Verbinde dich. - Luc Hertges - Страница 13
Оглавление3 ERZIEHUNG UND BEZIEHUNG AUS SICHT DER AKTUELLEN HIRNFORSCHUNG
Wie werden wir unbewusst zu Pflichterfüllerinnen und vor allem,
wie gelingt es uns, unsere Begeisterungsfähigkeit
wiederzuentdecken und zu stärken?
Traditionelle Erziehungsmodelle vertreten den Standpunkt, dass der Mensch als unfertiges Wesen geboren wird und erzogen werden muss, damit er sich in der aktuellen Welt und Gesellschaft zurechtfindet. Hierbei handelt es sich um ein defizitäres und misstrauisches Menschenbild, welches wenig Beziehung auf Augenhöhe voraussetzt oder zulässt.
So entsteht eine scheinbare Trennung zwischen derjenigen, die alles weiß und derjenigen, die (scheinbar noch) nichts weiß. Diese (gedachte) Trennung kann heutzutage im Schmerzzentrum des Gehirns als wirklicher Schmerz sichtbar gemacht werden. Nämlich immer dann, wenn ein Mensch über das Belohnungs- beziehungsweise Bestrafungssystem aktiviert oder motiviert wird.
Diesen Schmerz erklärt der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther damit, dass jeweils die Würde des Menschen verletzt wird, wenn er nicht frei aus sich selbst heraus, sondern fremdgesteuert handelt.
Traditionelle, patriarchische Erziehungsmodelle dienen vor allem dem Fortbestand der gesellschaftlichen Strukturen, so, wie sie gerade sind.
Damit sich die Menschen die Regeln ihres Umfeldes aneignen und sich ihnen anpassen, wird bei den traditionellen Erziehungsmodellen „gutes“, also wünschenswertes Verhalten, belohnt, und „negatives“, also nicht-wünschenswertes Verhalten, bestraft. Dieses Konzept ist in der Psychologie unter positiver beziehungsweise negativer Verstärkung bekannt. Was die Menschen dabei auch lernen, ist, dass sie sich nicht auf ihre Intuition, auf ihr Gefühl verlassen können oder dürfen, und dass es dem Anschein nach eine äußere Instanz gibt, welche alles besser weiß und gleichzeitig immer recht hat.
Da kleine Kinder anfangs scheinbar sehr oft im Unrecht sind, schlussfolgern die meisten, dass sie so, wie sie von Natur aus sind, schlecht beziehungsweise falsch sind. In der Region des Gehirns, welche für Emotionen zuständig ist, werden dadurch Botenstoffe ausgelöst, welche die äußeren Belohnungs- beziehungsweise Bestrafungsmuster unterstützen und spiegeln. Je öfter diese Muster aktiviert werden, desto schneller entwickeln sich stabile Verhaltensweisen. Der junge Mensch lernt, was sich gehört, und passt sich an die Gesellschaft an, welche ihn und sein Umfeld umgibt. Er wird so zu einem gut funktionierenden Pflichterfüller erzogen.
Diese Erziehungsmodelle waren besonders sinnvoll in Zeiten des Krieges und in Zeiten der Industrialisierung, als Menschen für ihre Rolle im System maßgeschneidert vorbereitet und geformt wurden. Auch hier deutet sich an, dass der Mensch in einem solchen System nicht wirklich er selbst ist und (nur) die Rolle erfüllt, für die er vorbereitet wurde.
Dass diese Erziehungsmodelle heutzutage nicht mehr zeitgemäß sind, zeigt sich einerseits dadurch, dass sie jeweils für den Fortbestand des aktuellen Zustands stehen und sich somit sehr schwer mit Veränderungen tun. Und andererseits durch ein diskriminierendes Rollenverständnis, in dem Frauen bewusst klein gehalten werden, um die Rolle des „Heimchens am Herd“ zu erfüllen. Dabei geht es den Männern meines Erachtens nicht viel besser, da auch sie klein gehalten werden, um ihre Rolle im System zu erfüllen. In patriarchischen Modellen gelten Männer wertvoller als Frauen.
Dies wird heutzutage, Gott sei Dank, an den meisten Orten dieser Welt in Frage und richtiggestellt.
Wenn wir uns von einem traditionellen, patriarchischen Erziehungsmodell lösen und andere nicht mehr so erziehen wollen, dass wir sie dabei zum Objekt unserer Vorstellungen und Erwartungen machen, stellen sich die Fragen, wie Lernen natürlich in uns angelegt ist und wie gegebenenfalls eine „artgerechte“ Erziehung aussieht.
Auf diese Fragen gibt die moderne Hirnforschung mittlerweile konkrete Antworten. So bekräftigen zum Beispiel führende Hirnforscher wie Prof. Dr. Manfred Spitzer und Prof. Dr. Gerald Hüther, dass wir Menschen mit einer unerschöpflichen Neugierde und Lernlust auf die Welt kommen.
Mit Begeisterung begegnen wir allem Neuen und bleiben unbeirrt am Ball, bis wir das gelernt haben, was wir können wollen: Laufen, Sprechen, Sport, Musik … Auch hier wird im Gehirn das Zentrum für Emotionen aktiv. Zusätzlich zu den Botenstoffen, welche wir bereits aus dem Belohnungs- und Bestrafungssystem kennen, werden Botenstoffe ausgesendet, welche die Nervenzellen dazu anregen, sich stark zu vermehren und auf vielfältige Weise zu vernetzen. So entstehen äußerst stabile Verknüpfungen im Gehirn. Das Lernen fällt leicht und die Begeisterung am Neuen wird so unter anderem aufrechterhalten.
Soweit wir heute wissen, ist der „Erziehungskreislauf“ ein Gegenspieler zu diesem natürlichen, intrinsischen „Begeisterungskreislauf“.
Je mehr wir also auf Belohnung und Bestrafung verzichten, desto stärker wirkt der natürliche Begeisterungskreislauf. Die Erklärung dafür ist, dass Strukturen, welche im Gehirn oft benutzt werden, sich stabilisieren und stärker werden, wobei die anderen sich nach und nach zurückbilden. „Use it or lose it“ heißt die Devise. (Benutze es oder verliere es).
Die gute Nachricht ist, dass das Gehirn sich bis ins hohe Alter verändern kann, was Neuroplastizität genannt wird, und dass somit auch Begeisterung immer wieder aufgebaut und neu gelernt werden kann.
Des Weiteren wissen wir heute aus der Neurobiologie, dass wir vor allem durch Nachahmung lernen. Sogenannte Spiegelneurone werden aktiv und veranlassen unseren Organismus das zu spiegeln, was wir wahrnehmen. So konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass im Gehirn bereits Bewegungsmuster durch Spiegelneuronen angelegt werden, bevor das Kleinkind die Bewegung reell ausgeführt hat. Die späteren Bewegungen stabilisieren dann die neuronalen Muster, welche im Vorfeld aufgebaut wurden. Hier sprechen die Neurowissenschaftler davon, dass das Hirn sich nutzungs- und erfahrungsabhängig formt, was soviel bedeutet wie: Das Gehirn baut das auf, was wir brauchen.
In diesem Zusammenhang spricht Prof. Dr. Gerald Hüther davon, dass jedes menschliche Wesen hochbegabt ist, da das Gehirn zu Beginn einen gewaltigen Überschuss an Möglichkeiten beziehungsweise Potenzial zur Verfügung stellt, das sich dann je nach Nutzung formt oder zurückbildet.
Wie lernen wir dann die Regeln unserer Gesellschaft, wenn sie uns nicht durch Erziehung aufgezwungen werden? Neurobiologisch ist die Antwort ganz einfach, nämlich durch Spiegelneurone. Dies hat dann natürlich zur Folge, dass wir unser eigenes Verhalten genauso vorleben dürfen, wie wir es uns wünschen, dass andere Menschen uns und unser Verhalten spiegeln, sprich nachahmen.
Dies entspricht dem philosophischen Leitgedanken:
Behandle jeden so, wie du selbst gerne behandelt werden möchtest.
Der Vorteil ist, dass es sich hier um den natürlichen Begeisterungskreislauf des Lernens handelt, der zum einen stabilere Muster entwickelt und sich zum anderen selbstgesteuert, ohne äußere Kräfte, aufbaut.
Durch eine liebevolle Beziehung mit und zu mir, lerne ich auf meine innere Stimmen zu hören und die Stimmen im Außen zu dimmen, was zu einem selbstbestimmten Selbstbild führt. Ich lerne, meiner inneren Stimme zu folgen und werde immer mehr von dem tun, was zu meinem Selbstkonzept führt. Ich bestimme mich mehr und mehr selbst, anstatt in die Fremdbestimmung zu gehen. Ich erfahre Selbststatt Fremdwirksamkeit unter anderem durch Selbst- statt Fremdsteuerung. Dies steigert mein Selbstbewusstsein und mindert mein Fremdbewusstsein. Ich praktiziere Selbstliebe und folge meiner Bestimmung, statt Fremdliebe zu praktizieren. Dies führt vermehrt zu Selbstachtung, was das Selbstvertrauen steigert und mein blindes Fremdvertrauen mindert. Somit übernehme ich Selbstverantwortung und bin kein Werkzeug anderer. Diese Selbstliebe, Selbstachtung und Selbstverantwortung stärken die liebevolle Beziehung zu mir selbst und der Kreislauf beginnt von vorne.
Dies alles erinnert mich stark an die Metapher mit den zwei Wölfen, welche dir vielleicht schon einmal begegnet ist:
Am Lagefeuer sitzt der Stammesälteste mit seinen zwei Enkeln und erzählt ihnen die Geschichte der zwei Wölfe:
„In jedem von uns kämpfen zwei Wölfe.
Ein Wolf, der für die Liebe, das Schöne, das Gute, das Wahre und das Vertrauen in der Welt steht, und ein anderer Wolf, der für Misstrauen, Neid, Gier und Hass steht.
Während der eine Wolf Liebe und Vertrauen verbreitet, verbreitet der andere Angst und Misstrauen.“
Am Ende der Geschichte fragen die beiden Enkel, welcher der beiden Wölfe gewinnt und der Stammesälteste antwortet ihnen: „Der Wolf, den du fütterst.“
Wenn wir heute davon ausgehen dürfen, dass Lernen natürlich in uns angelegt ist (Begeisterungskreislauf) und dass wir soziale Wesen sind (Spiegelneurone), ist meine Einladung in diesem Buch an dich, all das, was du bisher über Erziehung und Beziehung zu wissen geglaubt hast, noch einmal für dich zu prüfen und ganz bewusst zu wählen, welchen der beiden Kreisläufe du „füttern“ möchtest.
Wissend, dass, wenn wir die Welt verändern möchten, wir uns „nur“ selbst verändern können, lade ich dich ein, dich im Inspirationsteil neu zu denken und im Übungsteil neu zu erfahren. Beides natürlich nur, wenn du magst.
Auf den folgenden Seiten beleuchte ich die Themen Erziehung und Beziehung aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei zeige ich, wie in meinen Augen lebendige Beziehungen entstehen, welche alle Beteiligten dieser Beziehung stärken.