Читать книгу Die reformierte Liturgik August Ebrards (1818-1888) - Luca Baschera - Страница 8

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Einleitung

Vieles, was im 19. Jahrhundert auf den verschiedensten Gebieten unternommen wurde, lässt sich als Reaktion auf bestimmte, für problematisch gehaltene Entwicklungen und Tendenzen im Zeitalter der Aufklärung (18. Jh.) verstehen. Die Liturgik – die »praktisch–theologische Reflexion des öffentlichen Gebetsdienstes«1 – stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar.

In der späten deutschen Aufklärung (ca. 1770–1815) rangen verschiedene Theologen um tiefgreifende Reformen des Gottesdienstes. Geleitet wurden sie dabei von der Überzeugung, der Gottesdienst in seiner traditionellen Gestalt könne angesichts der revolutionären Entwicklungen in Wissenschaft und Philosophie nicht mehr »als eine selbstverständlich gegebene, überkommene Einrichtung« betrachtet werden. Im neuen Zeitalter der Vernunft war die Existenz des Gottesdienstes ihrer Ansicht nach nur insofern zu rechtfertigen, als dieser Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks würde: »das moralische Verhalten als die eigentliche, wahre Religion zu fördern und die Menschen aller Stände zum vernünftigen Handeln anzuleiten«.2

Im Gegensatz zu diesem ausgesprochen pädagogischen und vernunftzentrierten Gottesdienstverständnis betonte man später vielmehr die Zweckfreiheit des Gottesdienstes als Ausdruck von religiösen Gefühlen. So erklärte etwa Joachim Christian Gaß3 (1766–1831) bereits 1815 in seiner Abhandlung Über den chrstlichen Cultus, dass »alle Verehrung der Gottheit […] aus dem religiösen Gefühl und dem natürlichen Bedürfnis, es zu offenbaren«,4 entspringe, und bezeichnete den Gottesdienst als »die ganz natürliche Offenbarung einer Seele […], in der Religion und Frömmigkeit wohnen«.5 Diese und ähnliche Impulse aufnehmend, verhalf sodann Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur »christlichen Sitte« und zur Praktischen Theologie dem neuen Gottesdienstverständnis zur Reife.6 Auf Schleiermacher geht unter anderem die Unterscheidung zwischen »wirksamem« und »darstellendem Handeln« der Kirche zurück, wobei der Gottesdienst ausschließlich als darstellend – d. h. als zweckfreie »Mittheilung des |12| stärker erregten religiösen Bewußtseins«7 – verstanden wurde, eine Auffassung, die in der Folgezeit und bis in die Gegenwart großen Einfluss ausgeübt hat.8

Ebenso charakteristisch für die Liturgik des 19. Jahrhunderts war eine intensivere Beschäftigung mit der Liturgiegeschichte sowie die Betonung der Notwendigkeit einer Besinnung auf die liturgische Tradition. Beides trat einerseits als Reaktion auf die vermeintlich gänzliche Traditions- und Geschichtsvergessenheit der Aufklärungsliturgik in Erscheinung, wurde andererseits aber auch durch weitere Faktoren angeregt. So setzten etwa die liturgischen Reformen in Preußen seit 1822 – die unter Rückgriff auf reformatorische Ordnungen eine unierte Agende zu schaffen versuchten – einen Reflexionsprozess in Gang, der liturgiegeschichtliche Forschungen förderte und sich zugleich aus diesen spies. Die Unionsbestrebungen im Königreich Preußen führten aber auch zu Abwehrreaktionen, vor allem innerhalb konfessionsbewusster lutherischer Kreise. Im damit entstandenen »Neuluthertum« – einer breit angelegten und in sich vielfältigen theologisch-kirchlichen Bewegung9 – entfaltete sich eine an reformatorischer (lutherischer) Theologie und historischer Forschung orientierte Liturgik, für die vor allem die »Erlanger Schule« mit Friedrich Höfling (1802–1853), Theodosius Harnack (1817–1889) und Carl von Zezschwitz (1825–1886) repräsentativ ist.10

In dieser bewegten Zeit verortet sich die Beschäftigung August Ebrards mit Fragen der Liturgik. In Erlangen hatte er studiert, wobei Höfling einer seiner Lehrer gewesen war. Mit ihm teilte Ebrard die Leidenschaft für die Erforschung der Liturgiegeschichte, wollte aber in seiner Arbeit als Liturgiker einen dezidiert – obwohl nicht konfessionalistisch beschränkten – reformierten Standpunkt vertreten. Ebenso dezidiert distanzierte er sich auch von der aufkommenden schleiermacherschen Orthodoxie, der er vor allem während seiner Zürcher Jahre (1844–1847) in der Person von Alexander Schweizer (1808–1888) begegnete.

Obwohl Ebrard einer der wenigen reformierten Theologen des 19. Jahrhunderts war, die sich ausführlich mit liturgischen Fragen beschäftigten, wurde sein Werk in der späteren Forschung kaum rezipiert. Vereinzelt und spärlich sind die Erwähnungen seines Namens in der neueren Literatur.

So merkte etwa Peter Brunner 1954 in der Einleitung zu seiner »Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde« an: »Vom reformierten Standpunkt aus ist in der deutschen Theologie des 19. Jahrhunderts unseres Wissens nur eine Liturgik entworfen worden: August Ebrard, Versuch einer Liturgik vom Standpunkte der reformierten Kirche, Frankfurt/M. 1843.«11 Obwohl |13| Brunner auf Ebrards Liturgik nicht näher eingeht, kann diese beiläufige Erwähnung des Erlanger reformierten Theologen durchaus als nüchterne Würdigung dessen Leistung auf einem Gebiet gelten, das von reformierten Autoren auch außerhalb des deutschen Sprachraums meist vernachlässigt wurde.

Ein Jahr später äußerte sich auch Paul Jacobs zu Ebrards liturgiewissenschaftlichen Leistungen im Rahmen einer Gesamtdarstellung von dessen Theologie. Das Urteil Jacobs’ ist aber alles andere als positiv:

Wenn der Name Ebrards überhaupt bekannt ist – etwa in theologisch interessierten Kreisen der reformierten Kirche – dann begreift man in ihm die schier einmalige Erscheinung eines »reformierten Liturgikers« nächst Zwingli. Dabei ist nun gerade dieser Name Ebrards von ganz zufälliger Bedeutung und hat mit der Eigenständigkeit seiner Theologie und mit dem Echo, das er in seiner Zeit fand, nichts zu tun. In Wahrheit verdient Ebrard nicht den Namen eines Liturgikers, weder im reformierten, noch im unierten oder irgendeinem andern Sinne. Dieser Name rührt von der frühen Jugendschrift des eben Fünfundzwanzigjährigen her, […] die im Vergleich zu den anderen Ebrardschen Werken nur ein kleines Opus von 75 Seiten war: »Versuch einer Liturgik vom Standpunkt der reformierten Kirche«, 1843. […] diese Schrift [ist] nicht etwa als Grundlegung einer reformierten Liturgik anzusehen […]. Dazu ist sie weder genügend prinzipiell angelegt, noch wissenschaftlich unterbaut. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass sie ohne Echo blieb und Ebrard selbst nicht verpflichtete, auf diesem Gebiet weiter zu arbeiten […].12

Als wollte Jacobs die Meinung seines Heidelberger Kollegen Brunner widerlegen, stellt er deutlich in Abrede, dass Ebrard überhaupt als Liturgiker zu betrachten sei.

Interessanterweise findet sich in Jacobs’ Monographie keine nähere Behandlung der Liturgik Ebrards, die sein vernichtendes Urteil untermauern würde. Dass Jacobs dabei einer gewissen Voreiligkeit verfiel, scheint bereits dadurch bestätigt zu werden, dass er den Versuch einer Liturgik als die einzige liturgiewissenschaftliche Schrift Ebrards betrachtet, während sich der Erlanger Theologe in der Tat auch in zwei weiteren Schriften zu Fragen der Liturgik äußerte.13 Allerdings kann die Angemessenheit seines Urteils nur durch eine Gesamtuntersuchung der Liturgik Ebrards überprüft werden, ein Unterfangen, das bisher niemand in Angriff genommen hat. Einer solchen Untersuchung widmet sich die vorliegende Studie.

Auf eine Darstellung von Ebrards Lebenslauf und dessen theologischem Profil (Kapitel 1) folgt im zweiten Kapitel eine Beschreibung der für die Erörterung von Ebrards Liturgik relevanten Quellen. Das dritte Kapitel bietet eine systematische Analyse der Liturgik Ebrards, die auf deren Prinzipien und materielle Entfaltung |14| eingeht. Die drei liturgiewissenschaftlichen Schriften Ebrards werden parallel untersucht und miteinander verglichen, wobei dem Einfluss verschiedener liturgischer Traditionen sowie etwaigen Veränderungen bzw. Ergänzungen in Ebrards Ansatz besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im vierten Kapitel werden sodann die Spezifizität von Ebrards Gottesdienstverständnis im Vergleich mit den Entwürfen zweier zeitgenössischer reformierter Theologen – Salomon Vögelin und Alexander Schweizer – herausgearbeitet. Im fünften Kapitel werden schließlich zwei Aspekte von Ebrards Gottedienstverständnis hervorgehoben, die auch für die heutige reformierte Liturgik keineswegs an Relevanz verloren haben.

Die Behandlung der Liturgik dieses weitgehend vergessenen reformierten Theologen aus dem 19. Jahrhundert erfolgt somit nicht etwa zur Befriedigung eines antiquarischen Interesses, sondern entspringt der Überzeugung, dass auch die heutige reformierte Liturgik Einiges von Ebrard lernen kann. Erkannte er den Bedarf einer »Weiterentwicklung« reformierter Liturgie an, so wehrte er sich gegen vorschnelle Vermischungen unterschiedlicher Traditionen sowie gegen theologisch unreflektierte Neuerungen. Vielmehr plädierte er für eine Integration von verschiedenen Strängen der spezifisch reformierten liturgischen Tradition, die sich gegenseitig befruchten und ergänzen sollten. Darüber hinaus betonte er nachdrücklich die transformative Wirkung der Liturgie auf die sie feiernden Gemeindeglieder und entwickelte ein Gottesdienstverständnis, das eine große Ähnlichkeit mit den Entwürfen etlicher heutiger Liturgiker aufweist.

Die reformierte Liturgik August Ebrards (1818-1888)

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