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Auf der Schwelle

zwischen Leben und Tod

von Lucian Vicovan

überarbeitet von Maria Ehrhardt

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Auf der Höhe der Raxawa Tea Lounge überquerte ich die Bahngleise und setzte mich auf die Ufersteine hin. Ich war gezwungen mich dreimal umzusetzen, bis ich endlich eine Fläche fand, auf der ich ruhen konnte, ohne dass sich eine spitze Kante in das Sitzfleisch bohrte. Die Steine, die es mir nicht gemütlich genug machen wollten, wurden wüst beschimpft, einen trat ich sogar. Sie blieben von meinen Zornausbrüchen unbeeindruckt, mein Tritt bewegte den Stein nicht einmal einen Deut, ich spuckte einen anderen an und musste dann mit einem Faden Spucke kämpfen, der sich nicht von meinen Lippen lösen wollte und lieber vor meiner Brust tanzte. Dabei war ich schon so ausgetrocknet, dass es eine stümperhafte Dummheit war, unter jenen Umständen so leichtfertig und verschwenderisch mit meinen Körperflüssigkeiten umzugehen.

Mein Blick war von den Drinks, die ich in der Nacht zuvor beim Charly in seinem französischen Szenelokal im Herzen Colombos mehr hinunter gekippt als getrunken habe, betrübt, mein Kopf kündigte schon an, dass er keinesfalls taten- vor allem aber schmerzlos solche Eskapaden mit sich machen lassen würde und probte den Aufstand. Dem wurde mit der gleichen Gehässigkeit begegnet wie sie auch die spitzen, ungemütlichen Steine zu spüren bekamen. Überhaupt hatte ich in meinem Zustand nur Hass, Zorn und Wut für jeden und alles über. Die Sonne, die sich noch nicht ganz traute am Horizont aufzusteigen, musste sich als Nächstes eine Schimpftirade über sich ergehen lassen, die sogar Piraten und Kopfgeldjäger die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. Hätte mir jemand zugehört, der dann auch noch die wienerischen Kraftausdrücke verstand, müsste sich der wohl denken, dass die Sonne die größte Schuld an meinem Unglück trug. Dabei war ich gar nicht unglücklich, zumindest nicht mehr als sonst. Besonders nachdem ich den gemütlichen Sitzplatz gefunden hatte, konnte ich mich als sehr ausgeglichen bezeichnen. Immer noch zu betrunken, um an Schlaf zu denken, ja, auch viel zu aufgewühlt, um die Schönheit vor meinen Augen als solche wahrzunehmen und doch im Großen und Ganzen sehr aufgeräumt und bei mir selbst.

Anprangern konnte ich natürlich die ewigen Verdächtigen, das Universum, weil es so einengend ist, Gott, weil er diese Enge für uns am liebsten noch einmal enger machen würde und meine Mitmenschen, die so tun als wäre diese Enge nicht genug um uns allen Platz zu bieten. Neben der Enge war es natürlich auch die Weite, die mir arg zusetzte. Zu weit weg von daheim, an der südlichen Spitze Indiens, im Indischen Ozean, oder blickte ich doch auf den bengalischen Golf? Weit entfernt erschien mir auch der Weg zu meinem Hotelzimmer, weit der Weg, den ich beschritten hatte, um in einem Hotel in Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas, untergebracht zu sein. Weit zurück schienen die Tage als ich Sri Lanka im Fernsehen sah, die Tierwelt, die Natur, die Menschen und mir dachte: “So ein Land zu besuchen täte mir niemals Not.” Weit war jedenfalls auch die Linie des Horizonts, unter welcher sich die Sonne, wie eine Schauspielerin vor der Theateraufführung noch zu schminken schien, noch die letzten Pinselstriche setzte, die letzten Haare an ihren Platz führte und fixierte und sich das angesammelte aus den Mundwinkeln wischte.

“Jetzt mach schon du verdammtes Luder, wir wissen doch alle, dass du nicht schüchtern bist. Wem willst du hier etwas vormachen.”, schrie ich genervt, stand auf und reckte eine geschlossene Faust zornig gen Himmel. Ich musste rülpsen und in meinem Inneren schienen sich alle Organe neu ausrichten zu wollen, ich musste wieder Platz nehmen. Die Faust behielt ich in der Luft.

Ein erster Zug fuhr vorbei. Ich drehte mich um meine eigene Achse und drohte dem Zug und den hunderten Passagieren mit der Faust.

“Wenn sich mir auch nur einer nähert, ich sag‘s euch! Wehe euch Gott, und zwar der einzige Gott, nicht eure Armee an bunten Zirkusfiguren!”

Ich lachte, fletschte die Zähne und traf mehrere Augenpaare, in welche ich jeweils nur einen Bruchteil einer Sekunde sehen konnte, bevor sie wieder entschwanden. Blicke, die mich aus übermüdeten, indisch-dunklen Gesichtern anstarrten. Der Zug war überfüllt, Menschen hingen an allen Türen heraus, durch die Fenster konnte ich fliegende Händler beobachten, die sich einen Weg durch das Gedränge im Zug zu bahnen versuchten. Die meisten davon verkauften und servierten Tee, einige hatten Körbe mit Gebackenem dabei. Mir drehte sich der Magen. Sonst hätte ich ihnen gerne noch einige Nettigkeiten zugeschrien, doch ich sperrte die Lippen zu und fuchtelte nur noch bedrohlich mit der Faust. Dann war der Zug sowieso auch schon wieder weg. Die nächste Station war nur ein paar hundert Meter vom Platz, an dem ich mal stand, mal saß entfernt. Einige Menschen, so konnte ich sehen, verließen den Zug an der Station und suchten sich dann auch einen Platz am Ufer, andere wagten Waghalsiges indem sie sich daran machten die Colombo Plan Road zu überqueren, ohne auf grünes Licht zu warten. Eine Person lief sogar in die Raxawa Tea Lounge hinein.

Keiner näherte sich mir, also setze ich mich wieder hin, um mir eine neue Schimpftirade für die Sonne zurechtzulegen. Da erst ließ sie sich endlich blicken.

Ein kleiner Streifen zuerst, schüchtern wie ein viktorianisch erzogenes Mädchen während ihrem ersten Termin bei einem männlichen Frauenarzt.

“Jetzt lass den Scheiß gefälligst und komm endlich raus.” Murrte ich wütend, zwischen immer noch zusammengebissenen Zähnen. So ganz wollte ich meinem Verdauungstrakt noch nicht vertrauen, am besten, ich war auf jede faulige Attacke dieses manchmal so heimtückischen Traktes gewappnet. So gebot es mir meine Erfahrung, so gebot es mir meine Trinkvernunft.

Wie auf Kommando warf die Sonne jegliche Schüchternheit ab und erhob sich immer weiter aus dem Meer. Das Meer, so als wären sie zwar bekannt miteinander, aber nicht bekannt genug um eine Unterbrechung des Tageswerkes auszulösen, schien sich über die Wiederauferstehung der Sonne auch nur so stark zu freuen wie ein Baum sich immer dann freut, wenn ein überfriedlich gestimmter Anton-Lukas ihn umarmt.

Ich nahm mir vor, so einer Person eines Tages aufzulauern und mich über sie lustig zu machen. Ja, es erschien mir geradewegs wie eine Lebensaufgabe so jemanden zu finden und ins Lächerliche zu ziehen.

Vorerst nahm die Sonne mich aber vollkommen für sich ein. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihr reißen - sie stieg auf, wie an einem unsichtbaren Flaschenzug hochgezogen. Manchmal war es so als würde sie inne halten, dann machte sie aber doch noch einen größeren Sprung nach oben. Ich bin mir aber sicher, dass diese vermeintlichen Verzögerungen viel mehr über meinen Zustand aussagten als dass die Sonne nach so vielen Auf und Ab´s, schon anfing, erste Anzeichen von Verschleiß zu offenbaren.

Ein Mann kam in meine Richtung, er trug lederne Sandalen, eine schwarze Hose mit perfekter Bügelfalte und ein grünes, bis auf die beiden oberen Knöpfe zugeknöpftes Hemd. Darunter ließen sich die Konturen eines Unterhemds erkennen. Ich sah ihn grimmig an, er wechselte seinen Kurs und sah weg. Zurück zur Sonne, die schon gestalten machte sich vom Meer zu lösen. `Danke dafür, dass ich mich in dir ausruhen konnte, doch jetzt ist es Zeit zu gehen.´ schien sie dem Meer zuzuflüstern. Wie ein Verlobungsring, der von einem kleinen Polster in einem kleinen Etui aufgehoben und herausgenommen wird, um Freude und Glückseligkeit zu bringen.

Das Meer aber sträubte sich: `wir gehören zusammen, du kannst jetzt nicht geh´n, wir sind glücklich vereint, sieh her, ich nehme sogar deine Farbe an!´ Dessen ungeachtet stieg die Sonne weiter und weiter, der Flaschenzug rollte, ohne zu quietschen, ohne zu stottern, hinauf, hoch hinauf. Bis sich endlich jede Verbindung zwischen dem Meer und der Sonne löste. Alle Sicherungsseile wurden gekappt. Das Meer schien einen letzten großen Schluck Sonneninhalt aus der Sonne zu saugen. Ein Streifen Gelb legte sich wie ein Pflaster auf die Horizontlinie und markierte den Punkt, an dem die Sonne dem Meer entstiegen war. Dann stand sie alleine da.

Eine Frau, die morgens aus dem Bett des Geliebten steigt, ihn nur kurz ansieht, ihre Gedanken undurchdringbar, Reue oder Freude, war es ein Fehler oder Lebensdrang. Jetzt hat sie sich aber aus den warmen Umarmungen gelöst und war bereit, ihren eigenen Weg zu bestreiten. Zurück bleibt das verwuschelte Bett, die Erinnerung, ein leichtes Schaudern.

“Du Hure, du elendige.” Entfuhr es mir während ich mich von der Sonne wegdrehte und zu meiner rechten blickte, in die Richtung, in welcher auch der gesamte Verkehr der Colombo Plan Road hinwollte, dem Fort entgegen, Galle Face, Slave Island. Dort wo ein ganz neuer Finanzdistrikt auf dem vom Meer zurückgewonnen Boden entstehen soll. Dorthin, wo die Hochhäuser und Firmenkomplexe wie Pilze im Wienerwald nach einem starken Regen aus dem Boden schießen. Dorthin, wo in wenigen Jahren, ja schon in wenigen Monaten, das Sonnenlicht von Hunderten von Fenstern und Glasfronten reflektiert werden wird.

“Die Sonne, nur die Sonne, eine alte, mit allen Wassern gewaschene und von allen Stöcken geprügelte Hure, ist imstande, das alles, diesem ganzen Treiben, so stoisch, erhaben und scheinbar unbeteiligt zuzusehen.” Sagte ich leise, denn plötzlich traf mich die Erkenntnis, wie ein von dummen Kindern auf die Autobahn geworfener Stein. Die Erkenntnis dass, sie, die Sonne, mit einem Mal mit mir und dem Leben auf Erden aufräumen konnte. Wenn sie doch nur wollte.

“Du Sonne, du Sonne, gelb die Farbe, deine Strahlen voller Wonne,

Sonne, du Sonne, du Hure, du Sonne....”

Mehr fiel mir nicht ein also drehte ich mich jetzt ganz weg. Ein Zug näherte sich, der Verkehr stand unbewegt und so als hätte ich jetzt erst ein Fenster geöffnet, drangen plötzlich auch all die Hupen, Geschreie und Motorgeräusche zu mir. Ich konnte meinen Schatten sehen, er zog sich über die Gleise, der Zug würde drüber hinweg fahren und meinen Schatten glatt durch die Mitte schneiden. Dieser Gedanke erfreute mich auf einer sehr eigenartigen Weise, ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Der Zug kam näher, wurde größer. Ein Hund bellte.

Dieser Hund wollte zu mir, er sah mir in die Augen und rannte mit offenem Maul auf mich zu, die Zunge hing seitlich aus dem Maul. Sein Fell war weiß, das konnte ich noch erkennen. Dann erreichte er meinen Schatten, sprang noch einmal, schwebte über den Oberkörper, im Brustbereich des Schattens hinweg.

Das Horn des Zuges ertönte, dann trafen sie sich. Der Aufprall klang so, als hätte jemand ein Obstsackerl gefüllt mit Wasser aus dem zweiten Stock geworfen. Eine Frau, die etwa zehn Schritte weiter saß, kreischte auf. Ein Mann klatschte sich die Hände vor das Gesicht.

Unbarmherzig, ähnlich wie die Sonne zuvor auf das Flehen des Meeres reagiert hatte, fuhr auch der Zug weiter. Der Kadaver des Hundes ist vielleicht irgendwann wieder von der Front des Zuges abgerutscht oder wurde in der nächsten Station vom Zugpersonal mit Hilfe eines Besenstieles abgekratzt. Das kann ich nicht sagen. Ich brauchte ein Bier, und das dringendst. Ein neuer Tag war angebrochen.

Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod

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