Читать книгу Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod - Lucian Vicovan - Страница 4
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ОглавлениеDer Zug fuhr vorbei, nahtlos, ohne auch nur einen Gedanken an den Hund zu verlieren, der noch vor einigen Sekunden war, nun aber nur noch pickte. Dahinter die Straße, der Verkehr ging praktisch nur in eine Richtung, stadteinwärts. Die Hupen hupten weiter, es wurde geschrien, geschimpft, mit der Handfläche gegen Lenkräder geschlagen, sogar gegen die Karosserie des eigenen Wagens. Niemanden ging es schnell genug, niemand wollte sich in jenem Moment an jenem Ort befinden, an dem er gerade war. Sie waren auf dem Weg nach wohin. In die Arbeit, zum Markt, zu einer Behörde, zu einer politischen Sitzung oder religiösen Debatte. Um sich ein leichteres Leben zu verschaffen oder den Todesstoß versetzt zu bekommen. Um glücklicher und zuversichtlicher des Abends, denselben Weg nach Hause nehmend umzukehren, oder voll der Frustrationen und Wut. Um jemanden zu sagen, wie stark er ihn liebte, oder sich zu betrinken, jemanden zu verprügeln, oder die Nacht schlaflos und Berechnungen aufstellend zu verbringen. Ein Hund mit weißem Fell hatte zu seinen letzten Sprung angesetzt und würde nie wieder mehr auf den eigenen vier Pfoten landen. Dies schien bis auf die zwei Personen und mich niemanden sonst zu betreffen. Für die Berechnungen aller anderen spielte dieses Unglück keine Rolle.
Die Frau sah zu mir hinüber und ich legte sofort und ohne zu zögern, ein grimmiges Gesicht auf. Die Absicht etwas zu sagen war offensichtlicher als der Unterschied zwischen einer Katze und einem Luchs. Meine düstere Miene bewirkte, dass sie sich an den Worten verschluckte, welche sie vorhatte auszusprechen. Sie hustete, drehte sich in die andere Richtung und schrie lieber dem Mann etwas zu, der sein Gesicht mit Schrecken verdeckt hatte.
Er antwortete ihr, eine Unterhaltung entstand. Sie warfen mir zwar gelegentlich nervöse Blicke zu, wir waren schließlich durch dieses gemeinsame Erlebnis doch irgendwie zusammengeschlossen worden, das war ihr Gefühl, das war, was sie dachten. Sie erwarteten nun, dass wir wie drei in einem Aufzug stecken Gebliebene, miteinander sprachen, uns gegenseitig ermunterten, beruhigten. Mir war nicht nach beruhigen, mir war nicht nach ermuntern, mir war eher danach, die Superman-Pose einzunehmen und der Sonne mit der Faust vorneweg ins Gesicht zu donnern.
Von ihrer Position aus, dort, so wie sie stand, noch weit entfernt von ihrem Hochsitz oben am Himmel, wo sie sonst gleich einem Bademeister, unsere Bemühungen und Bloßstellungen beobachtete, musste sie alles genau gesehen haben. Desinteressiert wie ein glühender Pontius Pilatus, in Unschuld erstrahlend.
Ich ließ die zwei Gestalten miteinander reden, die Frau klang schrill und sprach schneller als es mir meine eigene Zunge gestatten würde. Der Mann klang entschuldigend und abwehrend. Ob sie ihm vorwarf, den Hund nicht gerettet zu haben, ob sie es mir vorwarfen?
Ich blickte zur Straße. Dort stand er. Wie ein Statist, der sich zu seinem Einsatz verspätet hat und erst nachdem der Vorhang, in unserem Fall der Zug, verschwand, zu seinem Platz geeilt war. Sein Name war Pilo, man sprach ihn fast so aus wie das englische Wort für Polster, und er trug die übliche Tracht der buddhistischen Mönche.
Das alles wusste ich aber noch nicht, ich sah ihn dort stehen und, um an demselben Beispiel festzuhalten, war mir sofort bewusst, dass dies der Einstieg zum nächsten Akt war.
Er sah mich mit einem Blick an, der dem des Hundes zuvor glich. Er glich sich vor allem darin, dass beide dieser Blicke mir so geradewegs in die Augen sahen, als befände sich auf der Innenseite meines Schädels ein Barcode, den sie mir durch die Augen hinweg ablesen und mich verifizieren wollten.
Ich sah mich nach beiden Richtungen um und muss gestehen, für wenige Sekunden sogar darauf gehofft zu haben, dass sich auch für ihn ein Zug bereithielt, denn auch seine Absichten waren unmissverständlich. Er wollte zu mir, woraus ich direkt schließen konnte, dass er mit mir reden wollte.
Sein Blick, seine Art machten es deutlich, dies war der Besitzer des Hundes. Ich fragte mich sofort, ob buddhistische Mönche Hunde halten dürfen.
Ich drehte mich zum Meer um und dort stand sie: die Sonne.
“Du elendige du, jetzt hilf mir einmal und lass mich bitte von hier verschwinden.” Zischte ich erneut durch die Zähne. Ich wusste nicht, was der nächste Akt alles umfassen würde, was dieser Mönch von mir wollen könnte. Ein Bier, ja, ein Bier würde die Situation annehmbarer machen, ein Bier hat schon viel schlimmere Umstände gemildert. Ich drehte mich zur Straße, dort würde es Bier geben, blickte aber sofort dem Mönch ins Gesicht, denn er war keine drei Schritte von mir entfernt, hatte die Bahngleise unbeschadet überquert und sah keineswegs wie ein Einheimischer aus. Er sprach zuerst.
“Wie schön, Sie sind Amerikaner.”
“Dann wirst du jetzt sicherlich enttäuscht sein zu erfahren, dass ich aus Österreich komme, aus Wien. Oder warte mal,” ich nahm das Kinn in meine rechte Hand, “dürft ihr Buddhisten überhaupt enttäuscht sein?” Ich lachte.
“Oh noch schöner, Sie hätten gerne Humor.”
Ich war mir nicht sicher woher, doch plötzlich machte sich ein komisches Gefühl breit, welches ich normalerweise nur dann empfinde, wenn sich ein “Heiliger“ oder ein “Gesalbter” über mich lustig macht. Ich wurde stutzig.
“Wie gesagt ich komme aus Österreich. Es tut mir Leid wegen deinem Hund.”
“Österreich ist schön, ich mag die Alpen, das war nicht mein Hund.”
“Was willst du dann von mir?”
Damit hatte er nun wirklich überhaupt keinen Grund mehr, sich mit mir zu unterhalten, auch schuldete ich ihm nichts von den netten Floskeln, die mir sonst die Pietät und meine christliche Aufbringung geboten hätte. Sollte er doch zu den anderen zwei gehen und sich mit ihnen unterhalten, die waren redebedürftiger, ich würde mich nur mit der Sonne unterhalten und nichts Minderes.
“Der Hund ist genau auf Sie zugelaufen, er wollte etwas von Ihnen.”
“Das hat dich ja nichts zu interessieren, es war ja gar nicht dein Hund.”
“Ich bin diesem Hund aber die letzten acht Monate gefolgt.”
Ich war bereit mein Gesicht dem einzigen Gesprächspartner, der meiner Meinung nach mir würdig war, also der Sonne, zuzuwenden, als mich in der Mitte der Drehung seine Antwort erreichte. Ich brach in einen Lachkrampf aus und musste mich erst einmal setzen, bevor ich wieder reden konnte.
Drei, vier Minuten später sagte ich: “Das erklärt jedenfalls die Entschlossenheit in den Augen des Hundes und die Bereitwilligkeit, mit welcher er in den Tod gesprungen ist. Du bist wohl kein gemütlicher Reisebegleiter.” Ich lachte wieder, aber nicht mehr so stark, der erste Lachanfall hatte schon alles aus mir herausgeholt. Ich war durstig, brauchte ein Bier.
“Er hat mich um die ganze Insel geführt, in Trincomalee hat er mir einmal das Leben gerettet. Dafür konnte ich mich in Jaffna revanchieren und ihn aus einem Zwinger befreien. Wir sind quitt. Möge er in Ruhe Frieden.”
“Wenn du dir jetzt gedacht hast, du könntest mir die nächsten acht Monate hinterherlaufen, dann sag es lieber gleich, dann brech´ ich dir jetzt noch schnell beide Beine und habe meine Ruhe.”
“Sie sind so gewaltbereit und zornig, ob sich da mein Guru nicht doch vertan hat?”
“Den könnte man fragen, wenn er jetzt nicht an der Front eines Zuges picken würde.”
“Die haben ihn bestimmt schon entfernt, einen Hund lässt man doch nicht wie eine Schmeißfliege oder Hummel an der Windschutzscheibe picken.”
“Der war ja gar nicht so hoch, den Zugführer stört das ganz sicher nicht!”
“Jetzt hören Sie doch auf, den haben sie sicher schon abgemacht, soll er bitte in Ruhe Frieden.”
“In Frieden ruhen.”
“Was sagten Sie?”
“Ich möchte nicht so gerne mit dir reden, also am liebsten gar nicht.”
“Ja, ich bin auch nur am Rätseln was der Hund von Ihnen gewollt haben könnte.”
“Von mir kann man nichts wollen, da ich nichts zum Anbieten habe, was willst du noch von mir?”
“Herausfinden wieso der Hund mich zu Ihnen geführt hat. Wer sind Sie überhaupt?”
Damit war es um meine Geduld geschehen, ich brauchte Bier und Schlaf… Vielleicht sogar eine Dusche, etwas Gesundes im Magen, Lebenszweck und -inhalt. Manche würden da gar sagen ich bräuchte einen Erlöser und eine lange Zeit der strikten Abstinenz. Doch was ich keinesfalls brauchte, war eine Unterhaltung mit einem übergeschnappten Hippie, der acht Monate lang sein Leben von einem Hund bestimmen ließ und nach alldem trotzdem noch einen Sinn in des Hundes Taten zu erkennen versuchte.
“Wohin gehen Sie? Wir haben uns doch gar nicht einander vorgestellt. Ich heiße Pilo, ich komme aus den Staaten, aus Texas.”
Ich stapfte über die großen Steine davon, immer darauf bedacht auf keine spitzen Kanten zu steigen. Ein Zug hupte, ich machte Halt, der Mönch Pilo holte mich ein.
“Wohin gehen Sie? Ich bin Pilo, ich komme ....”
“Ich gehe jetzt Bier holen. Sollte ich noch etwas von dir hören, bevor der erste Tropfen davon meine Zunge berührt, halte ich dich eigenhändig an eines der Gleise fest, bis der nächste Zug über dich rollt. Haben wir uns verstanden?”
Pilo hatte verstanden.