Читать книгу Staubfänger - Lucie Faulerová - Страница 10
ZWEI
ОглавлениеEs ist zwei Uhr früh, mein Arsch ist aus Holz, genauso wie der Parkettboden hier, auf dem ich schon seit einer Weile sitze. Sonst schlummere ich um diese Zeit meist voller Zufriedenheit in die Decke eingewickelt, und warte geduldig auf einen Albtraum. Aber heute kommt die Müdigkeit nicht. Die unendlich ruhige One-Woman-Show wird langsam langweilig und grenzt an Peinlichkeit, das unendlich ruhige Leben, ich, unendlich langweilig, über mich gibt es nichts zu erzählen, im Ernst, der Erzähler wartet mit verschränkten Händen oder schenkt mir Portwein nach, um meinen Abgang in den Limbus zu beschleunigen. Er langweilt sich. Mein Erzähler langweilt sich und ich habe Angst, dass er mich vielleicht verlässt, dass er vielleicht eine andere Anna findet, eine, die ihm nicht so viel Arbeit macht. Der Parkettboden knarrt, die Knochen knacken. Ba-dam tsss. Ein nervöses Husten und ein Knarzen der Sessel unter den Allerwertesten meiner zappelnden Zuschauer. Die Uhren wispern Sekunde für Sekunde, stoßen sich gegenseitig mit dem Ellbogen an und zeigen auf mich, sie synchronisieren einen Stummfilm für mich, im Fernsehen sind Köpfe, die sich öffnen. Versucht mal, ohne Ton fernzusehen. Ich möchte wetten, dass die Figuren auf dem Bildschirm dann etwas anderes sagen werden, ähnlich ist das auch umgekehrt, wenn ihr nur die Stimmen hört, ohne Bild, dann passieren in diesem Film auf einmal ganz andere Sachen. Die Leute, die mich anrufen, machen ganz verschiedene Sachen. Einige haben das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt und kochen dabei, und ich koche mit ihnen. Die Hühnerbrühe wird kräftiger, wenn man das Fleisch samt Knochen zuerst in den Backofen gibt oder in einer Pfanne anbrät. Aber ich habe keine Lust, mit ihnen eine Suppe zuzubereiten. Sie zwingen mich jedoch dazu. Sie brauchen mich. Ich bin ihre einzige Hoffnung auf eine ordentliche hausgemachte Brühe. Manche rufen mich auch über eine Freisprechanlage an und ich mache einen Ausflug mit ihnen. Von Velká Bíteš nach Znojmo kommen sie entweder über Brno oder über Hrotovice. Über Hrotovice ist es kürzer, über Brno ist es schneller. Solche normalen Sachen mache ich. Ich koche und backe und reise und schicke einen Eilboten, der einen Strauß Pfingstrosen bringt, und ich gehe zum Arzt und ins Kino und zum Friseur. Vielleicht war ich sogar schon mal ein Wochenende im Riesengebirge mit jemandem, mit dem ich davor schon mal Sushi gegessen hatte in diesem neuen Restaurant am Hauptplatz von Jičín. Wer weiß. Es gibt dutzende, hunderte, tausende Stimmen, die meisten fließen zusammen in zwei, drei universelle Töne. In einen verzerrten Ton, den mir elektronische Signale ins Ohr schicken. De facto schicken sie mir ihre tēle phōnē, also aus dem Griechischen: tēle bedeutet so viel wie fern, phōnē so viel wie Stimme. Und manchmal kriegt ihr so eine tēle phōnē nicht mehr aus dem Kopf.
Ich blicke auf den stummen Fernseher. Ein schwarzbebrillter Gauner spricht mit einem anderen Gauner, der seinen Kopf eingezogen hat. Ich synchronisiere sie, das Glas auf dem Bauch, den Kopf gegen die Wand gelehnt, bis dem ohne Hals eine Kugel durch den Kopf fliegt. Und mir fliegt eine Erinnerung durch den Kopf, die ich sofort (huschsch, das Klowasser strudelt) hinunterspüle. Doch als ich am Ventil ziehe und von der Kloschüssel runterspringe, ist alles immer noch da. Und ich bin fünf, sechs Jahre alt. Und genauso wie im Fernsehen läuft der Abspann, ich sehe einen Samstagvormittag oder Sonntagvormittag, als sich mein Vater vor den Fernseher gesetzt hat, um sich die Zeit bis zum Mittagessen zu vertreiben. Das weiß ich, denn meine Mutter war in der Küche und schälte Kartoffeln, auf dem Herd blubberte eine Suppe, aus dem Backrohr strömte der Geruch von Fleisch, oder auch nicht, oder es stank auch nach Erbsensuppe, je nachdem, ob der Monatslohn gerade überwiesen wurde oder nicht. Dana panschte entweder bei meiner Mutter herum und störte sie beim Kochen, oder sie spielte mit ihren Puppen. Sie hatte schon von klein an drei Puppen, mit denen sie ständig spielte, die sie fütterte und erzog, die sie ärgerte und kämmte, denen sie auf ihren Plastikhintern klopfte und die sie tröstete, sie sollen nicht weinen, es werde alles wieder gut, und denen sie den imaginären Rotz von der Nase wischte. Das hielt sie ziemlich lange durch, vermutlich bis zu dem Tag, als man uns wegbrachte. Dann hatte sie mich statt der Puppen. Nur eine, die Stoffpuppe, behielt sie. Aber das ist eine andere Erinnerung. Huschsch. Mein Vater saß im Wohnzimmer und schaute fern. Zu Hause hatte er oft nur eine Unterhose an. Dieses klassische tschechische Ideal eines Manns. Ein Dolm in einer ausgeleierten Unterhose, aus der immer etwas rausschaut, was von selbst nie rausschauen sollte, mit einer Flasche Bier in der Hand. Manchmal nickt er ein, der Kopf fällt auf die Schulter, er rülpst, im Sessel versunken, die Füße ausgestreckt, Knöchel über Knöchel. Jedes Mal, wenn er die Beine übereinanderschlug, donnerte er mit seinen enormen Füßen gegen den Teppich, und die rissigen Fersen raschelten, wenn sie aneinander rieben. Und ich langweilte mich, wie immer. Ich gab mir selbst einen Tritt in den Hintern, nichts machte mir Spaß und ich wusste nicht, was ich tun könnte. Die meiste Zeit verbrachte ich eigentlich damit, genervt in der Wohnung herumzugehen, nach einem Versteck zu suchen, oder damit, Dana zu ärgern, und meistens kam ich damit durch, weil ich die Kleinere war. Und vor allem, weil mich niemand bemerkte.
Auch damals ging ich in der Wohnung herum, doch ich mied die Küche, um nicht irgendeine Aufgabe zu bekommen, für die ich dann nicht klein genug war. Ich landete im Wohnzimmer und beobachtete das Mufflon-Ballett der Füße meines Vaters. Irgendein Männerfilm lief. Zwei Banditen, die sich gegenseitig jagen und einer will den anderen umbringen. Er schaute sich nur solche Filme an. Oder schien es nur so, weil immer nur solche Filme am Wochenende im Fernsehen liefen, ich weiß es nicht. Manchmal war es ein Western, manchmal ein »Indianerfilm« oder ein Klassiker mit Segal, mit Van Damme, jede Menge Muskeln und Hohlköpfe und Waffen und harte Sprüche. Wie das wohl ist, wenn dieser Kerl (peng-peng-bumm zisch-zwisch bang-bumm) diese Kerle verfolgt (bang-bumm tusch-tusch bang-bumm). Manchmal fragte ich ihn, wer der Gute sei und wer der Böse. Und manchmal sagte er es mir. Wenn er wollte, sagte er: »das ist der Gute«, und deutete mit dem Kopf auf einen schmierigen Typen mit gegelten Haaren. Damals fragte ich ihn das auch, wer der Gute sei und wer der Böse. Einen Moment lang schwieg er, ich dachte schon, er würde nicht mehr antworten, und auf einmal sagte er, dass beide gut seien. Das brachte mich durcheinander. Zu wem sollte ich jetzt halten? Wer soll gewinnen? Warum kämpfen denn zwei Gute gegeneinander? Das ergibt keinen Sinn, sind nicht eher beide böse?
Finito. Ende.
Dana wartet selbstverständlich schon an unserer üblichen Stelle. Sie kommt immer rechtzeitig. Nein, anders, sie kommt immer zu früh, damit ich es bin, die zu spät kommt, auch wenn ich rechtzeitig komme. Wir treffen uns im obersten Stockwerk des Einkaufszentrums. Ein Kompromiss zwischen einem Rauchercafé und einem Ort mit Kinderecke. Das Wild wird ins Gehege gelassen, ich klick-klicke schon und Dana hustet aus Gewohnheit. Alles ist genauso wie immer. Ich weiß, dass sie es stört, wenn ich rauche. Nie wird sie müde, mir das bei jedem unserer Treffen zu versichern. Aber ich weiß, was sie noch mehr stört. Dass sie hier nicht aufstehen kann, um das Fenster zu öffnen und die Tür zu schließen.
»Warst du in der Nacht irgendwo?«, fragt sie mich.
»Na klar war ich irgendwo.«
»?«
»Jeder ist irgendwo.«
»Irgendwo unterwegs«, ergänzt sie.
»Ich war ganz normal zu Hause. Warum?«
»Du hast Augenringe.«
»Ich weiß, die fallen mir gleich runter.«
»Du bist blöd«, sagt sie und lächelt.
»Hm, sag mir doch, was bin ich noch alles?«
»Sag du es mir«, sagt sie und nimmt einen Schluck von ihrem Tee. Im ersten Moment kam das einfach so aus ihrem Mund, Konversationsautomatik, im zweiten stutzt sie irgendwie komisch und lässt ihren Blick schweifen. Sie hat etwas Seelengas in die Luft gelassen, einen Gedankenfurz, kaum hörbar, aber wenn dieses Gas entweicht, ist es draußen und kann nicht mehr zurückgenommen werden. Und man weiß nicht, ob man nur selbst davon weiß, oder ob es die anderen auch bemerkt haben, und man hat keine andere Wahl, als auf die Reaktion zu warten. Sie hat Seelengas in die Luft gelassen, und wir werden uns dessen erst eine Sekunde später bewusst, in dieser Sekunde, wo es den Raum zwischen uns ausfüllt, und es zerfließt wieder, wie der Rauch, vor dem sie für gewöhnlich die Tür schließt und den sie zum Fenster hinauslässt.
Karolína hüpft auf den Plastikkugeln herum oder dem Sand oder den Scherben oder was auch immer die da in diesem Becken haben, was weiß ich. Selbstverständlich heult sie sofort los, aber erst, als Dana bemerkt, dass sie hingefallen ist, nach der Intensität ihrer Schreie handelt es sich wohl um Scherben. Sie läuft zur Mama, um sich trösten zu lassen, und ich würde ihr am liebsten entgegenlaufen, um ihr ein Bein zu stellen.
Mit dem Stummel der ersten Zigarette zünde ich mir eine zweite an, und etwas neurotisch wackle ich unter dem Tisch mit einem Bein und spiele mit dem Feuerzeug. Klick-klick.
»Ich bitte dich«, sagt sie, während sie die Miniversion von sich selbst tröstet, »was wirst du denn machen, wenn du eigene hast.« (Ich falle von einem dreißig – na, lieber fünfzig Meter hohen Turm.) »Kája, ist ja gut, es ist gar nichts passiert.« (Ich klatsche zu Boden. Ich bewege mich nicht. Es ist gut.)
»Das passiert, wenn man nicht aufpasst«, sage ich leise.
»Ja, da hat die Tante recht.« Dana schaut auf den schreienden, fließenden Minikopf. »Du musst aufpassen.« Auch so lässt sich die Situation betrachten. Jeder soll sich aussuchen, was einem passt.
»Naja«, sie schnuppert an ihrem Pullover, als Karolína getröstet und zurück ins Gehege gelassen wurde. »Man riecht es schon. Stört dich das gar nicht, dass du ständig so nach Rauch stinkst?«
»Nein, das koste ich aus«, sage ich.
Meine Schwester schüttelt den Kopf.
»Manchmal erwische ich mich sogar dabei, wie ich den Aschenbecher mit meinen Haaren auswische.«
Danas Köpfchen rauscht noch einmal durch die Luft, von links nach rechts von links nach rechts. Dank meiner Anwesenheit ist die Halswirbelsäule meiner Schwester immer perfekt gedehnt.
Tramtrara. Meine Schwester. Wie gern würde sie alles erziehen, was ihr in die Quere kommt. Alle gleichmachen. Ein Taschentuch ablecken und allen damit den schmutzigen Mund abrubbeln, sie in den Kanal auf der Straße pinkeln lassen und abklopfen und die Unterhose hochziehen, bis sie ganz fest sitzt, ihnen eine hinters Ohr geben, das macht man nicht, den Stuhl an den Tisch rücken und ihnen den Latz um den Hals binden, du musst draufblasen, es ist heiß, meine Schwester, über mich kann sie nur mehr kraftlos den Kopf schütteln. Die Welt will sie nicht anhören. Aber zumindest ihrem Sohn steckt sie das T-Shirt in die Strumpfhose.
Sie erzählt mir von meinem Lieblingsfisch Zdenda. Davon, dass er ein bisschen blöd ist, nur sagt sie das mit anderen Worten, und davon, dass sie sich Sorgen um ihn macht.
»Denk nicht, dass das Zdeněks Idee war … Es war eigentlich meine. Ob das nicht irgendwie mit mir oder unserer Familie zu tun haben könnte. Ob das nicht etwas Genetisches ist, was ich auf ihn übertragen habe …«
»Die Gene vom Hühnerdreck werden aber nicht gerade ein Musterbeispiel sein.«
»Zdeněks Gene sind vielleicht kein Musterbeispiel, aber offensichtlich weniger schlecht als unsere.«
»Da geht es aber nicht nur um die Gene, oder?«
»Was meinst du?«
»Erziehung zum Beispiel.« Klick-klick.
»Na, entschuldige, willst du mir damit sagen, dass ich meine Kinder falsch erziehe?«
Ich halte mein Lachen nicht zurück. Ich denke, der Satz geht so weiter: Du, wo du selbst keine Kinder hast? Ich denke, der Satz geht weiter mit irgendwelchem Quatsch über Verantwortung und Reife.
»Entschuldige, aber erziehst du deine Kinder etwa im Alleingang?«, frage ich sie.
»Was willst du mir damit sagen?«
»Ich sage, wenn du deine Kinder« (ja, deine Kinder, Dana, es sind deine Kinder, nicht meine, ich weiß, eigentlich weiß ich nichts – was weiß ich denn schon) »nicht gemeinsam mit einem despotischen Idioten aufziehen würdest, der dir einreden will, dass du und dein Sohn verrückt seid, dann müsstest du dich nicht fürchten, ob mit Zdenda alles in Ordnung ist.«
»Hör auf, mit diesem Feuerzeug zu spielen! Mir dir kann man darüber ja überhaupt nicht reden.«
»Dann rede halt nicht mit mir darüber.«
Beide verstummen wir für eine Weile. Diesmal ist sie von irgendeinem Grünzeug aus Stoff fasziniert, das zur Dekoration in der Mitte des Tisches steht. Ich mache nichts, aber nach einer halben Minute stelle ich fest, dass die Innenseiten meiner Wangen zerkaut sind.
»Dann sprich doch mit jemandem über ihn. Es gibt jede Menge Psychologen, Erziehungsberater …«, sage ich nach einer Weile.
»Ja, das hab ich schon.«
»Und?«
»Na, das war kein Kinderpsychologe … nur ein Bekannter, mit dem ich darüber gesprochen habe.«
»Du kennst einen Psychologen?«, frage ich verwundert.
»Ja, ein bisschen. Er ist kein Psychologe mehr.« Ich habe den leichten Verdacht, dass sie meinem Blick ausweicht und offensichtlich will sie mir nicht wirklich sagen, worum es geht. Es ist, als würde sie mir beschreiben, dass sie an einer sehr heiklen Stelle einen Pickel entdeckt hat.
»Aha«, sage ich, aber es klingt immer noch wie eine Frage.
»Das ist egal. Denk auf keinen Fall, dass mit Zdenda irgendwas nicht in Ordnung ist. Vielleicht ist er einfach etwas langsamer. Aber dieser Bekannte hat mir auch gesagt, dass ich mit einem Experten sprechen soll.«
»Du hast dir einen Experten gesucht, damit er dir sagt, dass du dir einen Experten suchst? Und weiß der Hühnerdreck von deinen Terminen mit dem Herrn Ex-Psychologen?«
»Du, das sind keine Termine. Ich bin nur manchmal mit ihm in Kontakt.«
»Also weiß er nichts davon.«
»Was denkst du denn. Ich kann mit ihm nicht wirklich über Zdenda sprechen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, schnaube ich verächtlich. »Und auch nicht darüber, dass du dich mit einem fremden Typen triffst.«
»Das kommentiere ich jetzt nicht. Und was Zdeněk betrifft – du kennst nur seine dunklen Seiten«, sagt sie zu dem Grünzeug auf dem Tisch. »Da ist es schwierig, mit dir über ihn zu reden, du wirst immer nur das in ihm sehen.«
»Klar.«
»Er hat es auch nicht leicht mit mir. Wir sind alle verschieden. Die Ehe ist harte Arbeit.«
»Klar.«
»Wenn du keine Kompromisse machst, hält es niemand mit dir aus.«
Ein Kompromiss bedeutet, dass eine Angelegenheit nur vermeintlich gelöst wird. Nur zum Schein. Aber bum, aus, bussi, baba, keine der beteiligten Seiten ist am Ende mit dem Ergebnis zufrieden, dafür können sie sich auf die Schulter klopfen, wie erwachsen sie das gelöst haben. Denn ein Kompromiss ist etwas Erwachsenes, und die Ehe ist harte Arbeit. Gestatten, ich muss kotzen.
»Da fällt mir ein, du errätst nicht, wen ich getroffen habe.«
Jemanden, der es mit mir nicht aushielt, vermutlich.
Und nach ein paar Sekunden werde ich erfahren, dass ich richtig liege. Wenn meine Schwester den Bogen von einem Thema zum anderen spannt, dann macht sie das mit einer solchen olympischen Präzision, dass man dabei eine auf die Fresse bekommt. Sie gibt sich bei der ganzen Sache auch noch als naives Mädchen, so als gäbe es gar keinen Bogen, so als würde nichts gespannt werden. Und ich schenke ihr ein Lächeln, das schönste, das ich schaffe. So spanne ich den Bogen.
»Jakub«, sagt sie und schaut mich irgendwie überdreht an. Was machst du? Wie schaust du denn drein? Was hast du mir dazu zu sagen? Wie schnell fasst du dir auf den Mund?
»Diesen Fußballspieler?«, frage ich.
»Welchen …? Was? Nein, Anna, welchen wohl, Jakub.«
Jakub, der es mit mir offensichtlich nicht aushielt.
Ein unsicheres Lächeln und hochgezogene Augenbrauen als Ausdruck fehlenden Verständnisses. Ich bin schon fast raus aus dem gespannten Bogen. Wie lange wird sie das noch aushalten? Wie lange wird sie noch in dieser Scheiße herumstochern? Wie lange noch? Keine Spur von Schadenfreude. Und kein Funken Böswilligkeit. Nur dieser naive, spielerische Ton und ein gieriger Ausdruck.
»Deinen Jakub natürlich«, sagt sie und kuschelt ganz besonders intensiv mit dem ersten Wort.
»Hm.« Fast muss ich mir auf die Stirn klopfen. Ich nehme einen Schluck, dann zucke ich mit den Schultern.
»Er hat gut ausgesehen, er war …«
»Warum erzählst du mir das?« Lächle! Der Bogen hinter dir fängt langsam Feuer, und dein Nacken auch.
»Ich habe gedacht, es würde dich interessieren.«
Versuch doch mal zu fragen, ob es mich interessiert, was du sagst.
»Aha.« Ich nicke, lege die Hand hinter meinen Hals und kratze mich. »Na, nicht wirklich. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Hoffentlich geht es ihm so, wie er es sich wünscht.«
»Komisch«, sagt sie. Ja, auch dieses Spiel kennen wir bereits. Lass das Wort fallen und warte, bis es jemand hochhebt, von allen Seiten draufpustet und es dir zurückgibt. Dieses Spiel langweilt mich von allen am meisten. Wenn sie eine Hälfte sagt und wartet, dass ich nach der zweiten frage. Also lasse ich ihr Wort liegen, und sehe mich die Hose runterlassen, mich hinhocken und daraufpinkeln, mit einem unaufhaltsamen Strahl, der sich anhört wie das beruhigende Plätschern eines Bächleins im Wald.
»Das ist wirklich komisch«, sagt sie noch einmal. Sie nimmt das Wort selbst und wirft es nochmal zu Boden, diesmal von weiter oben. Platsch. Ich spüre die Ader an meiner Schläfe pulsieren.
»Dass du das einfach so hinnehmen kannst«, fügt sie hinzu, als würde sie mir eine Antwort auf die Frage »Und was ist komisch, Dana?« geben. Dieses Grünzeug ist wirklich ziemlich interessant, wie ich jetzt selbst feststelle.
»Dass es Geschichte ist. Und fertig.«
»Naja … ja, das kann ich. Ist ja auch so, oder nicht?«
»Aber er war ein Mensch in deinem Leben. Ein ziemlich wichtiger.«
»Woher weißt du, wer mir wichtig ist?«, pruste ich lachend heraus, denn dieses Mal finde ich Dana wirklich lustig. Erneut, dieses Mal geduldiger, beginne ich mit dem Feuerzeug zu spielen.
»Ich vermute, wenn du mit jemandem so lange zusammen bist, hat das wohl seinen Grund.«
»Da bist du eine gute Hellseherin. Du könntest Geld dafür verlangen.«
»Schon wieder geht’s los.«
»Vor dem Eingang hab ich eine Alte gesehen, die geschmuggeltes Parfum verkauft, du kannst dich neben sie stellen und deine Hellseherei anbieten, du brauchst ja nicht einmal die Hand der Leute dafür.«
»Ich hätte wohl doch lieber schweigen sollen.«
Ich schweige, um ihr leichtes Zusammenzucken bei jedem Klicken des Feuerzeugs genießen zu können. Dann lasse ich es sein, es macht mir keinen Spaß mehr.
»Ja, ich kann die Vergangenheit einfach hinter mir lassen. Versuch es auch. Du sparst dir damit jede Menge Sorgen. Vielleicht musst du dann nicht mehr danach forschen, wer krank im Hirn ist und was er hat und warum und so weiter.«
»Einige Brücken lassen sich nicht einfach abbrechen. Das machst du nicht gut.«
Aber doch. Und zwar alle.
»Dafür machst du es gut.«
Wir schweigen. Beide schauen wir auf das Grünzeug. Eine Salve Seelengas verpestet den Raum.
»Lassen wir das«, sage ich besonders schnell, denn ich weiß, dass ich das sonst gar nicht sagen würde.
Sie schaut vom Grünzeug zu mir und zuckt mit den Schultern.
»Hast du es eilig?«, fragt sie.
»Ich will noch bei ein paar Geschäften vorbeischauen.«
»Suchst du was?«, fragt sie und zieht ihre Geldbörse heraus, um ihren Anteil zu bezahlen, einen Tee, einen Saft, ein mildes Mineralwasser.
»Nein, ich will nur für irgendwas Geld ausgeben«, sage ich und zucke mit den Schultern, einen cremefarbenen Mantel, einen Scharfschützen, Urlaub auf den Bahamas. Sie nickt. Ja, ich sehe es dir an. Du weißt ja gar nicht mehr, wie es ist, wenn man noch Zeit und Geld zum Einkaufen hat. Du weißt ja gar nicht mehr, wann du zum letzten Mal etwas Schönes angehabt hast, weil dein Arsch nirgends mehr reinpasst. Was dir dein geliebter Mann bestimmt Tag für Tag sagt, wenn er von »einem« Bier heimkommt. Und du schaust in den Spiegel und beißt dir auf die Lippen, wenn du dir den Rock glattstreichst und dich im Profil betrachtest, und schaust Serien, wo alle schön sind, auch wenn sie schon auf die Vierzig zugehen, und gibst dir selbst die Schuld daran, dass dein Ehemann dich nicht mehr attraktiv findet, dass dich vielleicht kein Kerl mehr attraktiv findet. Und gibst dir selbst die Schuld daran, dass im Bett überhaupt nichts läuft. Du tust so, als würdest du Lust darauf haben, aber in Wirklichkeit liegst du da und schaust zur Decke, während er es dir macht, und stöhnst nur aus Gewohnheit und hoffst, dass es bald zu Ende ist. Und vielleicht stöhnst du auch deshalb, weil du denkst, dass er so schneller kommt. Und du bewegst dich so wenig wie möglich, nicht nur, weil es dir keinen Spaß macht, sondern auch, weil du Angst hast, dass du, würdest du dich auch nur ein klein wenig vom Fleck bewegen, sofort weglaufen würdest. Aber weißt du was? Das macht nichts, denn die Ehe ist harte Arbeit. Das macht nichts, weil du ja diese Kompromisse machen kannst.
»Also, bis nächsten Montag?«
»Bis nächsten Montag«, nicke ich und der leere Raum zwischen uns wird größer, er füllt sich mit Menschen, die mit den Rolltreppen fahren. Sie schaut mich immer noch an, ich sehe, wie sie den Mund aufmacht, ich sehe, wie sie mir noch etwas sagt. Kann sein, dass ich sie nicht hören kann. Kann sein, dass sie vom Lärm des Einkaufszentrums übertönt wird, sie sagt das so leise. Ich gehe beim Hintereingang hinaus und sofort nach Hause. Sie sagte »sie hat nach dir gefragt«, oder es kann sein, dass sie auch irgendetwas ganz anderes sagte.
Jakub hatte eine sanfte Stimme, sanfter als sein Gesicht. Man konnte sich gut vorstellen, wie es sein würde, wenn er zu sprechen beginnt, man konnte sich vorstellen, was für eine Stimme er hat, während er noch schwieg, und trotzdem war diese Vorstellung nicht deckungsgleich mit dem, wie diese Stimme in Wirklichkeit klang, sie überraschte einen nicht. Man dachte nur: Aber ja, klar, wie könnte sie sonst sein – außer so. Diese Stimme überzog ihn mit einem Satinleintuch.
So als würde man eine Torte glasieren.
So als würde man Milch in einen tiefschwarzen Kaffee gießen.
So als würde man heiße Himbeeren über einen Eisbecher träufeln und mit Zimt bestreuen.
Wir lernten uns bei den Bananen kennen. Wir lernten uns bei den Bananen kennen, das Kilo für fünfundzwanzig. Und dann trafen wir uns in der Schlange an der Kasse wieder. Sie ging bis nach hinten zu den Tiefkühlwaren. Das war vor Weihnachten. Und wir standen am Ende der Schlange und aßen Bananen. Jeder aus dem eigenen Einkaufskorb. Jeder vom eigenen Kilo für fünfundzwanzig.
Ich bleibe bei der Mülltonne vor dem Haus stehen und werfe Stückchen von dem zerrupften Grünzeug weg, das ich in meiner Tasche habe.
Tick-tack eins, tick-tack zwei, tick-tack drei.
Vergeblich durchsuche ich mein Gedächtnis danach, wann ich zuletzt einen Abend anders verbracht habe als in meiner eingesessenen Grube hier in der Ecke dieses Zimmers. Wenn ich das Band zurückspule, hab ich das Gefühl, als würde ich diese Schweinerei einsaugen, die sich hier unbemerkt ansammelt, Tag für Tag, Nacht für Nacht, so eine Schweinerei, die nicht sichtbar ist, solange der Staubsauger noch etwas aufnimmt, solange man nicht hineinschaut und feststellt, dass die Kapazität des Behälters für den Dreck bis oben hin voll ist. Also mein Gedächtnis, in dem ich vergeblich suche, ist wie dieses Büschel angesammeltes Nichts, das sich unbemerkt auf dem Teppichboden ablagert, dieser Auswurf, ein Knäuel aus Staub und Kehricht, das in der Staubsaugerröhre steckengeblieben ist. Ja, das ist die Summe aller One-Woman-Shows der letzten Tage, Wochen, Monate und Jahre plus minus geteilt durch zwei. Abend für Abend sammelt sich dieser Staub, dieser Kehricht, Asche und Schmutz. Na, im Ernst, man bemerkt das alles kaum, bis man es zusammensucht, bis man es schön auf einem Haufen beieinanderhat. Und so schaue ich auf diesen Megaauswurf an Widerlichkeit, ich habe ihn direkt vor mir und staube auf ihn. Noch ein paar Minuten. Und während ein Strohballen von einer Ecke in die andere huscht, so eine Szene aus einem Western, wo im Schatten irgendjemand, vielleicht mein Erzähler, ziemlich falsch auf einer Mundharmonika spielt. Das Stroh umkreist die Beine meines Erzählers. Er schwankt, er flucht, er klopft sich Staub von den Knien. Entschuldigend zucke ich mit den Schultern.
Und damals ist er vielleicht zu mir gekommen, damals ist er vielleicht erschienen – mein Erzähler, damals, als ich diese Sitzungen eingeführt habe, damals, als Jakub verschwand und Mercedes verschwand und Ondřej verschwand. Er fand mich, weil er sich dachte, wenn er mein Leben erzählen würde, dann wäre dieses Leben nicht ganz so Scheiße. Dann würde darin etwas passieren. Dann würde ich mir einreden können, dass es etwas wert ist. Oder war es vielleicht anders, vielleicht ist er erschienen, weil ich ihn herbeigerufen habe. Vielleicht war ich es, die sich dachte, dass mein Leben mehr wert ist, wenn es jemand erzählen würde. Dass es ins Gewicht fallen würde. Dass es Sinn haben würde. Oder war es ganz anders. Ich weiß es nicht mehr. Staub hat sich darauf angesammelt. Und dann erhob sich Anna, sie erhob sich aus dem Staub und sie beschloss, die vom Lichtkegel ausgeleuchtete Stelle zu verlassen, sie beschloss, das Strahlen der Scheinwerfer auf die Bretter, die ihre Mikrowelt bedeuten, unter tosendem Applaus der Zuschauer zu verlassen, und schloss die Tür hinter sich.
Normalerweise gehe ich nicht auf Firmenpartys, aber heute bin ich dabei, ich stehe an der Bar und drehe ein Glas mit irgendeinem Whiskey in der Hand, ich verstehe überhaupt nichts von diesem Getränk, es schmeckt mir überhaupt nicht, aber es sieht gut aus, und ich beobachte, wie sich die Köpfchen um mich herum öffnen und schließen, wie durchsichtige und undurchsichtige Flüssigkeiten hineingeschüttet werden, Schnapsgläser klimpern, Hände werden gedrückt, Küsschen auf Gesichter geklatscht, ich bin die aus dem Gehege neben der Tür, freut mich, dich kennenzulernen. Und wenn ich einen Moment alleine bin, kommt jemand, der mich kennenlernen will, der sich mit mir anfreunden will, der mich anlächelt und mir die Hand gibt. Und so spreche ich mit Leuten, die sich in diesem Moment nach nichts anderem sehnen, als mich kennenzulernen, mir noch einen Whiskey zu bestellen, weil sie ihn nicht bezahlen müssen, und ich fühle mich gut, denn ich habe ihnen gerade gesagt, dass ich verlobt bin, denn ich habe ihnen gerade gesagt, dass meine Eltern gestorben sind, als ich noch klein war. Ich habe ihnen gesagt, dass sie verbrannt sind. Sie fragen mich nach Geschwistern, und ich sage, dass ich ein Einzelkind bin.
Dann sitze ich an der Bar, sie spielen tschechische Hits aus den Neunzigern, zu denen alle rundherum abrocken, und mir ist ein bisschen schlecht. Wollt ihr Zeugen von angesammelter Einsamkeit und Verzweiflung sein? Zeugen davon, wie tief Menschen fallen können, wie tief unter ein noch tragbares Maß an Urteilsvermögen? Wie sie auch ihre allerniedrigsten Ansprüche bezüglich der Frage, mit wem sie zumindest eine Nacht verbringen, vergessen können? Erstens: geht in eine Bar. Zweitens: wartet bis Mitternacht, bis die meisten schon reichlich getankt haben. Drittens: schaut euch um. Ihr seht krampfhaftes Lachen, peinliches Haschen nach Aufmerksamkeit, als Losgelöstheit und Verspieltheit maskierte Hysterie. Eine Schau erbärmlicher Gestalten, klimp-kling-trink, haha, hehe, schaut mich an, ich kann ruhig auch mein Shirt hochziehen, streichelt mich doch irgendjemand, bitte, schaut mich an, hier bin ich.
Ein Typ setzt sich zu mir, bestimmt ist er jünger als ich. Er ist groß, hat die Frisur eines Nazi-Schnösels, wenn ich mir seinen Daumen so ansehe, könnte er auch ziemlich gut bestückt sein. Wir reden miteinander. Ich weiß nicht mehr, worüber, ich weiß nur, dass ich total viel gelogen habe, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte. Er erzählte mir, dass er schon anderthalb Jahre Single ist. Er bestellte mir einen Schnaps. Ich weiß nicht einmal, ob es Whiskey war oder was anderes. Wir redeten über Sex. Ich spreche nicht gern über Sex. Er bestellte mir noch einen. Sie spielten wieder einen Klassiker aus den Neunzigern, Mňága & Žďorp. Mir war schlecht.
Dann gehen wir auf die Terrasse und er zündet einen Joint an. Ich denke an Mercedes, mit ihr habe ich das letzte Mal Gras geraucht, das ist schon ein paar Jahre her. Von ihr habe ich auch diese kindische Weisheit gelernt, das mit dem Daumen als Maßstab für das beste Stück eines Mannes – der Daumen im Verhältnis zum Rest der Hand, seine Form, seine Breite und Länge entsprechen der Größe, Länge und Breite des Penis des Betreffenden. Ich spüle Mercedes und ihr heiseres Lachen runter, aber es klappt nicht, deshalb nehme ich einen stärkeren Zug und mir wird noch ein bisschen schlechter und der Kopf von dem Typen klappert und ich weiß nicht, was er sagt. Ich beobachte ihn und stelle mir vor, wie er wohl beim Sex ausschaut, wie er sich bewegt, wie er schnauft, ich stelle mir vor, wie ich ihn in meinem Mund habe, frage ihn, ob wir nicht zu mir gehen wollen. Im Taxi sitzen wir beiden hinten, er saugt sich mit seiner Zunge an mir fest und ich glaube, er hat seine Hand in meiner Unterhose, als er nach meinem Verlobten fragt, und ich sage, dass er nicht zu Hause ist, ich sage, er soll nicht über ihn sprechen, ich sage, es geht nur um eine Nacht, und vor den Autofenstern huschen die Farben der Stadt vorbei, wie ein horizontales Feuerwerk, würde mein Erzähler sagen. Und ich sage ihm, er soll eine Weile still sein, dass mir ein bisschen schlecht ist. Und Anna sagt zu dem Jungen mit der Frisur eines Nazi-Schnösels, er soll eine Weile still sein, dass ihr ein bisschen schlecht ist, und bemerkt nicht, dass der, mit dem sie tatsächlich spricht, sie selbst ist, während sie versucht, die Zweifel zu verscheuchen, die ihren Kopf füllen, Zweifel daran, dass sie anders ist als die erbärmlichen Gestalten aus der Bar, die sie vor Kurzem verachtete. Schweig!
»Ich sag nichts, Kätzchen«, seufzt mir der Typ auf die Haut, als es uns, im Bemühen um einen leidenschaftlichen Aussetzer, gegen die Wand schleudert, die Wand in meinem Vorzimmer, aber ich verliere das Gleichgewicht und falle hin. Mein Kopf stößt mit solcher Wucht gegen den Schuhschrank, dass ich fürchte, eine Gehirnerschütterung davonzutragen. Ich glaube, wir lachen darüber, aber ich habe das Gefühl, mein Kopf sieht aus wie eine offene Schachtel, und mir ist deshalb irgendwie komisch und ich denke nur daran, zu schlafen, zu schlafen, mich hinzulegen und zu schlafen, und in meinem Kopf erklingt dieses Lied von Mňága & Žďorp. Ich stehe auf, er hilft mir, streicht mir die Haare hinters Ohr und beginnt, mich zu küssen, ich spüre die Spuren, die sein Speichel auf meinem Kinn hinterlässt, rieche den Alkohol aus seinem Mund und seinen Poren im Gesicht, er schiebt mir den Rock hoch und die Unterhose mit einem Finger zur Seite. Alles geht furchtbar schnell und ich fühle mich irgendwie unbeteiligt, als würde das alles gar nicht mir passieren, kurz ist es da, dann ist es wieder weg, ich bin auf einem Karussell, doch dann dringt er unerwartet und grob in mich ein, und dadurch komme ich wieder zu mir, oder vielleicht auch nicht, vielleicht dauert es lange, und mir schießen Tränen in die Augen, und so denke ich mir, dass es doch grob ist und dass es wehgetan hat und mir wohl deshalb Tränen in die Augen geschossen sind. Und wir schauen uns an und seine Augen verwandeln sich plötzlich und werden ganz andere Augen, werden zu denen, die sagen: »Im Ernst, Anna. Im Ernst?« Und so ist es immer. Und ich schließe meine Augen, aber davon wird mir noch schlechter, also öffne ich sie wieder, ich schaue zur Seite, er greift mein Kinn, drückt seine Finger gegen mein Gesicht und dreht meinen Kopf zu sich, aber das halte ich nicht aus, denn ich drehe ihm jetzt den Rücken zu. Ich strecke meinen Hintern raus und lehne mich gegen die Wand, warte einen Augenblick und spüre ihn in mir. Doch ich sehe diese Augen, die ich immer sehe. »Im Ernst, Anna?«, diese Augen, die mir in den Kopf tätowiert wurden, und so sage ich ihm, er soll schneller werden, ich sage ihm, er soll es fester machen, er drückt meinen Kopf gegen die Wand und mit einer Hand hält er meine beiden Arme hinter meinem Rücken zusammen. Dann höre ich mich sagen, er soll mich an den Haaren ziehen, und er macht es.
»Mehr.«
Er zieht stärker und ich beuge meinen Kopf zurück, bis ich nicht einmal mehr richtig atmen und auch gar nicht mehr schlucken kann. In dem Moment passiert das alles, auch wenn ich versuche, den Gedanken zu unterdrücken, es kommt alles zurück wie ein Bumerang. Ich komme nicht ans Ventil und sehe ihn, in dem Anzug, den er sonst nie trug, ich weiß nicht mehr, warum er ihn diesmal anhatte, wahrscheinlich wurde jemand unter die Erde oder unter die Haube gebracht, wer weiß, aber ich erinnere mich, dass er kam und sich hinlegte, nicht mal die Schuhe zog er sich aus. Als ich ihn fand, lag er mit Anzug und Krawatte auf dem Rücken auf der Couch. Als wäre er tot. Als würde er in einem offenen Sarg liegen.
»Mehr.«
Und so bin ich nicht achtundzwanzig, nicht bekifft und es fickt mich auch kein Fremder in meinem Vorzimmer. Ich bin zehn oder elf und stehe neben der Couch. Ich knie mich neben ihn hin, mit höflicher Feierlichkeit oder feierlicher Höflichkeit, der Erzähler wird das nicht Zutreffende streichen, und beobachte ihn. Doch er war tot. Aber dann drehte er sich auf die Seite.
Zwischen den einzelnen Stößen kam mir das in den Kopf. Der Schmerz war bereits so stark, dass mir die Tränen in Strömen herunterrannen, und es rann mir auch die Nase, und da ich keine Hand frei hatte, um diesen Strom aufzuhalten, weil der Typ meine beiden Hände festhielt, und da ich ihn nicht durch Blickkontakt aufhalten konnte, weil ich ihm den Rücken zugedreht hatte, und da ich auch nicht schreien konnte, weil ich fast erstickte, lockerte ich die Muskeln in meinen Beinen und fiel zu Boden. Ich knackste und fiel auseinander. Und ich wollte furchtbar, furchtbar gern, ich hätte alles dafür gegeben, dass dieser verzweifelte Typ hier wäre, der die Esplanade nicht finden konnte.
Er schreckte auf und betrachtete mich, zunächst nur entsetzt. Und ich kam mir in dem Moment vor wie ein Kind in einem Ferienlager, in dem es gar nicht sein will. So als ob ich wüsste, dass ich genau in diesem Augenblick abstürzen und fallen und mich umbringen würde oder noch schlimmer. So als würde mich nichts mehr ruhig stellen können, so als sollte das niemals zu Ende gehen. Ich bin ein Kind in einem Ferienlager, in dem es gar nicht sein will, und das, was ich fühle, ist nicht einmal Heimweh. Ich sehne mich nach nichts und niemandem, und dennoch ist das, was ich spüre, diesem Gefühl schrecklich ähnlich. Ich war zu Boden geworfen, halb liegend, halb sitzend, und halb konnte ich mich hören, wie ich schrecklich laut heulte und wimmerte und fluchte, und er betrachtete mich, mit dieser Haarsträhne im Gesicht, den Hosenschlitz noch offen und mit einem Ausdruck, in dem sich Entsetzen und Abscheu mischten, als ob er es ahnte, dass in meinem Kopf ein psychedelischer Film ablief, von dem er auch nicht nur einen klitzekleinen Ausschnitt sehen wollte, und binnen weniger Sekunden schlug er die Tür hinter sich zu, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
Ich heulte dort noch furchtbar lange, ich fühlte, wie mir der Rotz in den Mund rann, mein Brustkorb tat dermaßen weh, als hätte die Faust Gottes darauf eingeschlagen, und ich konnte überhaupt nicht verstehen, was los war. Die Zeit verstrich, wie sie wollte, und vielleicht lief sie auch eine Weile rückwärts, bis sie außer Atem war.
Ba-dam tsss.
Ich schaue zur Tür ins Wohnzimmer. Sie ist halb offen, ich schaue sie an und kann mir nicht helfen, ich habe die Vermutung, es erwartet mich etwas Entsetzliches hinter dieser Tür. Es ist so grauenhaft, dass ich es nicht wage, zu überlegen, was es sein kann. Es ist, als würde ich früher oder später durch diese Tür gehen müssen. Und vielleicht gehe ich durch diese Tür, denn vielleicht erwartet mich dort meine Befreiung. Auch wenn diese Befreiung das Ende meiner Existenz sein wird. Doch was, wenn das Ende nicht genug ist?
Ba-dam.
Ich muss wohl eingeschlafen sein. Ich bin wohl wieder aufgewacht, aber ich hoffe, dass es nicht so ist. Von irgendwoher rieselt nasser Sand auf mich herunter. Er rieselt in meinen Schoß. Doch das ist kein Sand. Mit einem verklebten Auge beobachte ich, wie die Pfütze aus meinem eigenen Urin um mich herum immer größer wird, ohne mich von der Stelle zu rühren.
Tsss.
Es ist, als würde ich mit jedem Schlucken riskieren, dass sich mein Kopf vom Hals loslöst. Ich habe meine Augen aufgemacht. Es ist bereits hell, durch den Türspalt dringt Licht aus dem Wohnzimmer zu mir. Ich kann meine kleine Ausstellung der Überflüssigkeiten sehen, auf den Regalen und in den Vitrinen und an der Wand und auf dem Boden, sie starren direkt zu mir herüber, meine Staubfänger, meine Freunde, mein Spiegel.
Und was bist du, Anna? Und was bist du.
Schnitt und Abblende.