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EINS

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Durch die belebte Straße geht eine junge Frau, doch in Wirklichkeit ist sie älter, als ihr sie euch vorstellt. Es ist einer dieser Herbsttage, an denen der Sommer noch einmal zu spüren ist. Ja, Altweibersommer könnte man sagen, aber es war einer dieser Herbsttage, an denen der Sommer noch einmal zu spüren war. Die Sonne war nicht mehr warm genug, damit man im Park auf einer Bank sitzen kann, aber es reichte noch für einen Spaziergang im dünnen Pullover. Und in einem solchen Pullover ging die junge Frau, sie ist aber wirklich älter, als ihr sie euch vorstellt, durch die belebte Straße. Eigentlich trägt sie einen Mantel … nein, einen Pullover. Hm. Die junge Frau ging durch die Straße in einem leichten cremefarbenen Mantel. Es war ein netter Vormittag, so nett, wie ihr euch eben einen netten Vormittag an einem dieser Herbsttage vorstellen könnt, an denen sich der Sommer noch einmal meldet.

Sie war groß und schlank, vielleicht war sie auch eher mager und lang, und ihre vollen Lippen, auch wenn ihr euch statt eines entenschnabelartig verzogenen Mundes, der trotz eines leichten Lächelns den Eindruck von etwas Aufgeblasenem, Kindlich-Angewidertem erweckt, ganz irrtümlich sinnlich volle Lippen vorstellt – was wir aber nun für den Zweck des Erzählens vergessen und daran denken, dass ihre vollen Lippen ein Lächeln formten, die Mundwinkel leicht hochgezogen, was genauso erfrischend war wie einer dieser Herbsttage, an denen sich blablabla. Stellt euch das einfach vor, diese freundliche Atmosphäre, die sich über die Stadt legt, und der Wind, weder kalt noch warm, weder stark noch schwach, zerzaust ihre Haare, lässt ihren Trenchcoat auseinandertanzen und legt ihre Hüften frei, die weder rundlich noch grazil sind.

Sie wollte die Straße überqueren, blieb am Randstein stehen, blickte in die Baumkronen auf der gegenüberliegenden Seite. Die grünen Blätter wechselten ihre Farbe und wurden gelb. Die gelben wurden orange. Die orangen wurden braun. Die braunen wurden grün. Diesmal konnte sie fast zauberhaft lächeln, doch sich diese Figur zauberhaft vorzustellen ist genauso, als würde man sich Schnee im Juli vorstellen. Oder einen Grizzlybären, der einem über die Haare streichelt. Oder Taubenpärchen, die Samba tanzen. Sie konnte aber fast zauberhaft lächeln, wenn man ein Auge zudrückt und das zweite lieber gar nicht erst öffnet, zauberhaft, als sie auf die Fahrbahn trat, denn sie dachte, dieser Schritt sei ein Schritt, der Hoffnung und Entschlossenheit symbolisierte, ein Schritt in die Zukunft, in der –

Und jetzt kommt’s! Schon ist es passiert. Ein Auto hat sie angefahren, so plötzlich, dass sie keine Zeit hatte, erschrocken in Zeitlupe ins Scheinwerferlicht zu schauen. Auch ihr Leben hatte keine Zeit, an ihr vorbeizuziehen. Was würde da auch vorbeiziehen, wohl eher würden sich nur Abfall und Staub langsam durch ihren Kopf wälzen. Aber auch das geschah nicht. Ganz einfach bumm, zack und aus. Und kein Licht am Ende des Tunnels, noch nicht einmal ein schwaches Aufblitzen. Sie lag regungslos da. Und poetisch rann das Blut über ihren cremefarbenen Mantel, und kein Blättchen rührte sich und die Welt blieb nicht stehen und die Menschen blieben nicht stehen und das Auto, das sie angefahren hatte, blieb nicht stehen, und die Erde drehte sich weiter und der Tag ging weiter und es war immer noch genauso ein schöner Tag, genauso ein netter Vormittag, einer dieser Herbsttage, an denen sich der Sommer noch einmal meldet.

Ich erwachte auf dem Sofa, den Kopf eingekeilt zwischen Lehne und Sitz. Ich befreite meinen Kopf und hob ihn mit der Hand etwas an, um kontrollieren zu können, wie spät es ist. Ich hätte mir merken sollen, welche dieser drei Uhren, die ich hier habe (in der Vitrine, auf der Truhe, auf dem Boden), richtig geht, denn morgens kann man leicht desorientiert und verwirrt sein, auch wenn man immer pünktlich aufwacht, wirklich, ohne Ausnahme immer zur selben Uhrzeit, plus minus fünf Minuten, falls ihr nicht verpennt oder überhaupt erst gar nicht einschlaft, und das schon seit einigen Jahren, dann zögert ihr, ob es wirklich so spät ist, wie ihr glaubt, dass es ist. Und ob ihr wirklich dort seid, wo ihr glaubt, dass ihr seid. Und ich glaube, dass ich dort bin, wo ich sein soll, also in meinem Wohnzimmer, lebendig und gesund, Hurra!, und glaube, dass es so spät ist, wie es sein soll, also zwischen sechs Uhr zweiundfünfzig und sechs Uhr siebenundfünfzig, also falls ich nicht verschlafen habe oder überhaupt nicht eingeschlafen und dann aufgewacht bin. Mein steifes Skelett klappert ins Badezimmer, ich vergrabe die Zahnbürste samt Paste in meinem Mund und setze mich aufs Klo und pinkle. Dann steige ich über meine Unterhose auf dem Boden, stelle mich mit einem Fuß auf die Kloschüssel und lockere das Ventil vom Spülkasten. Das ist meine Routine, wenn ich hinunterspülen möchte, was ich manchmal, pfui pfui, ekliges, ekliges Mädchen, nicht mache. Ich ziehe an der Schnur der Spülung, ziehe am Ventil der rinnenden Toilette, springe runter, spucke ins Waschbecken. Tadaa, das strahlende Lächeln einer Schauspielerin in einer Zahnpasta-Reklame.

Und los geht’s, ein neuer Tag zum Kotzen beginnt.

Und ich kaufe mir einen cremefarbenen Mantel.

Bumm, zack und aus.

Klick-klick. Mir fällt kein größeres Vergnügen ein, nach dieser ganztätigen Maskerade, nach diesem Hirn-Ausstopfen mit Plejaden sich öffnender Köpfe, runden bis kantigen, mit spitzem Kinn oder ohne Kinn, mir fällt kein größeres Vergnügen ein, nach dieser mehrstündigen, quälenden Plackerei auf den Brettern meiner Arbeit zwischen Vorgesetzten, Kollegen und Kunden und ihren sich öffnenden Köpfen, klapp klapp, auf den Brettern der Stadt, in der ich lebe, vom Supermarkt über die Straßenbahn bis zur Post, auf den Brettern, die meine Welt bedeuten, ich kenne fast kein größeres Vergnügen als sich nach diesem Tag, nach einem Tag wie jedem anderen, an dem ich schon seit dem Aufwachen die Sekunden bis zu seinem Ende abzähle, die Schuhe von den Füßen zu kicken und ein Kammerspiel zu geben. Also stelle ich mich ins Scheinwerferlicht, in den Kreis, den ein Lichtkegel zeichnet, wo ich von Requisiten umgeben bin. Nach der letzten Inszenierung hat sich niemand die Mühe gemacht, diese Requisiten wegzuräumen. Ich komme hierher, um meine eigene One-Woman-Show aufzuführen, für mich selbst, diesmal auf den Brettern meiner Mikrowelt. Ich verliere mich zwischen den Staubbüscheln, der Lichtkegel wartet schon auf mich, er zeigt direkt auf das imaginäre Zeichen. Dahin, wo mein Hintern hingehört und von wo er sich für den Rest der Aufführung auch kein Stück wegbewegen wird. Genau diese Stelle hier an der Wand ist es, bis hierher reicht der Läufer mit traditionellem, beigem Muster und einem großen Ornament in der Mitte, das die Form einer Raute hat. So ein Läufer, wie ihn die Frauchen von Fabrikarbeitern aus alten Schwarz-Weiß-Filmen in ihren Wohnungen liegen haben. Seine zerzausten Fransen kitzeln mich an den Schenkeln.

Klick-klick. Genau so sitze ich in diesem Moment da, eine Flasche billigen Portwein vor mir und einen Aschenbecher samt einer Schachtel Zigaretten zu den Füßen. In einer Hand halte ich ein Metallfeuerzeug, so eins mit Verschluss, und mit meinem Daumen öffne und schließe ich es ständig, klick-klick, auf-zu. Auf dem Feuerzeug ist ein Totenschädel aus kleinen weißen Steinchen, na, einige Steinchen sind schon rausgefallen. Und der Aschenbecher ist ein kleiner Metallbecher, der in eine Katze aus Keramik eingesetzt ist. Und den Portwein trinke ich für gewöhnlich aus einem Weinglas, einem kleinen und bauchigen, ohne Stiel, aus geschliffenem Glas. Das Feuerzeug habe ich vor einiger Zeit vom Fensterbrett auf dem Klo in der Arbeit mitgenommen, den Aschenbecher habe ich in einem Antiquitätenladen gekauft. Und was das Glas betrifft, da erinnere ich mich nicht mehr, wie das zu mir gekommen ist. Entweder war es ein Geschenk oder ich hab es irgendwo entwendet – das würde vielleicht erklären, warum ich nur ein Stück davon habe. Aber vielleicht habe ich auch eine ansehnliche Geschenkschachtel mit vier Stück von diesen Gläsern bekommen, jedes an seinem abgegrenzten Platz im Karton. Ich stelle mir vor, wie eines von der Küchenzeile fällt und auf den Fliesen zerbricht, ich sehe, wie das zweite durch die Luft fliegt und an der Wand zerschellt, ich sehe, wie mir das dritte aus der Hand rutscht, als ich besoffen auf der Couch einschlafe. Zum Beispiel. Das ist die Geschichte meiner bauchigen Gläser, meiner Amphoren, die spurlos verschwunden sind. Nur eine blieb übrig. Eine überlebte. Die stärkste. Ich hebe die kleine Amphore hoch, diese Heldin, und betrachte sie. Unten im Glas befindet sich eingetrocknete purpurrote Flüssigkeit, weil mein tapferes Trinkgefäß seit dem letzten Abend auf mich wartet. Blöd, ich würde mir gern die halbe Flasche einschenken, die hier auch auf mich wartet, aber dieser modrige Rest hält mich irgendwie davon ab. Hm? Wie wird sich diese junge Frau – obwohl ihr hier wirklich Fantasien vergeudet, da ihr sie euch jünger vorstellt, als sie tatsächlich ist – wohl entscheiden? Schenkt sie sich in das stinkende Glas nach oder steht sie auf und spült es aus? Mein Erzähler hört das betäubende Ticken der Uhr, das den ganzen Raum meines Wohnzimmers einnimmt, ich höre ein lauter werdendes Ge-Ge-Ge-Ge-Getrommel. Das Ticken wird leiser, wie auch das Getrommel, und ich nehme einen Schluck aus der Flasche. C ist richtig. Der Erzähler winkt angewidert ab und verschwindet wieder für eine Weile. Ich höre ba-dam tsss, den Jingle, der in den kleinen Vorstellungen billiger Entertainer immer bei einem gelungenen Sketch zu hören ist. Ich erwarte auch Lachen und Applaus aus dem Zuschauerraum. Aber es war ein schlechter Sketch. Also: klirr, wumms und aus. Und dann klick-klick.

Ich habe meine üblichen Alltagsgegenstände, die ich benutze; Sachen, die ich trage, Nahrungsmittel und Getränke, die ich esse und trinke. Ich würde sie nicht Lieblings-, sondern nur Alltagssachen nennen. Um zu Lieblingssachen zu werden, müsste ihnen ein Prozess des Beliebtwerdens vorausgehen, ein Prozess des Vergleichens, bei dem sie sich ihre Vorrangstellung in jener Beliebtheit erkämpft hätten. Aber das mache ich normalerweise mit den Alltagssachen nicht. Ich greife nach dem Ersten/Billigsten/ meiner faulen Hand am nächsten, und dem bin ich dann eine gewisse Zeit treu, solange ich nicht auf etwas anderes treffe, das im gegebenen Moment das Erste/Billigste/gerade zur Hand ist. Gegenwärtig sind das also der billige Portwein, die Mentholzigaretten, das Metallfeuerzeug mit dem verblassten Totenschädel, das bauchige Trinkgefäß aus geschliffenem Glas, der Katzenaschenbecher. Und die Lampe mit dem roten Lampenschirm, die garantiert aus irgendeinem Nazi-Bordell stammt, zu der ich mich gerade aufrichte, um sie anzuknipsen, denn auf die Stadt sinkt Dunkelheit, wie mein Erzähler sagt, und sie drängt sich durch die Fenster zu mir herein.

Mein Telefon klingelt gedämpft. Vermutlich ist es in der Manteltasche. Es ist meine Schwester, es zahlt sich nicht aus, aufzustehen und sich davon zu überzeugen. Es ist meine Schwester, es zahlt sich nicht aus, aufzustehen und das Gespräch anzunehmen. Für heute hab ich genug vom Telefonieren. Wie jeden Tag. Ich bin nämlich Callcenteragentin. Schon seit etwa vier Jahren. Die Haltbarkeit von Callcenteragentinnen beträgt angeblich drei Jahre, ich bin also schon drüber.

Mit einem Fuß schiebe ich den Aschenbecher näher heran und greife nach der Zigarettenschachtel. Und dann klick, anzünden, klick. Mit der Zehe streiche ich über die abgeblätterte Brustgegend der Katze. Mein Telefon klingelt noch einmal und ich denke daran, dass meine Schwester diesen Aschenbecher hassen würde. Sie würde meine ganze Wohnung hassen, aber ich habe ihr dazu keine Gelegenheit gegeben, sie war noch nie bei mir. So viel Kitsch und Staub, das wäre mehr, als sie ertragen könnte. Diese Konzentration an Geschmacklosigkeit, darin suhle ich mich. Meine Deponie, meine kleine Schundausstellung, meine Sammlung nutzloser Dinge, an denen niemandem, mich eingeschlossen, etwas liegt. Krempel, der ungefähr so notwendig ist wie meine ganze Existenz. Keine Kunst, kein Souvenir, keine Erinnerungsträger, keine Sammlerstücke. Nur Staubfänger, die ich kaufe und stehle. Manchmal bekomme ich etwas, aber meistens kaufe oder stehle ich sie. Meistens stehle ich sie. Auch auf sie legte sich schon beinahe Staub, wie sie da schon über eine Stunde in der Stille des Zimmers saß, sagt der Erzähler. Vollkommene Stille stört mich nie, solange mir nicht bewusst wird, wie vollkommen sie ist. Nur drei Uhren ticken, jede anders, jede hat ihre Zeit und eine von ihnen setzt manchmal aus, sie hat ein Problem, von Dreiviertel auf Zwölf zu ziehen, und dazu das gelegentliche Knarren des Parkettbodens, das Knistern des verglühenden Zigarettenpapiers und klick-klick.

Um sechs Uhr zweiundfünfzig, vielleicht auch siebenundfünfzig, wachte ich auf dem Fußboden liegend auf, und vielleicht wachte ich nicht auf und das Erste, was mir in die Nase stieg, war der säuerliche Gestank, der von dem verschütteten Wein kam. Ich setzte mich auf und ließ meine Halswirbelsäule ein paar Mal knacken. Ich zog mir das T-Shirt über den Kopf und schmiss es über den roten Fleck auf dem Parkettboden neben die umgekippte Flasche. Ich trat mit einem Fuß auf das T-Shirt und wischte den restlichen Wein weg. Das T-Shirt landete im Müll. Zeit für ein neues T-Shirt, Zeit für neue Gewohnheiten. Und wieder ein neuer Tag, ihr kennt das ja schon. Die Zahnbürste ins Maul, Pinkeln, das Ventil, Spülen. Diesmal ergänze ich meinen Reinigungsprozess, ich will den Gestank nach Wein und Rauch loswerden. Direkt von der Kloschüssel, mit der Zahnbürste im Mund, springe ich in die Duschkabine.

Ich erwachte durch Fluorid im Hals und kaltes Wasser. Ich musste wohl in der Dusche in die Hocke gegangen und dabei eingeschlafen sein, mein Schläfchen dauerte die eine oder andere Minute, denn das ganze heiße Wasser war futsch. Mit blau angelaufenen Fingern machte ich die Tür der Duschkabine auf. Sieben Uhr zwanzig. Mein Schläfchen hatte länger gedauert, als ich dachte. Ich spuckte die Sauerei, die sich in meinem Mund angesammelt hatte, aus und machte mich auf den Weg ins Schlafzimmer, wo ich die Sammlung dunkelschwarzer, langweiliger, anständiger, beißender Kleider im Stil von Bibliothekarinnen in den Wechseljahren durchging und mir eins davon aussuchte. Die Haare hinter die Ohren gestrichen. Zum Frühstück hatte ich einen heißen Kaffee und eine Zigarette. Das Knurren im Magen gab mir den Befehl zur täglichen Aufnahme eines Krapfens. Ich frühstücke jetzt nämlich Krapfen.

Du bist, was du isst. Ich bin Mehl und Zucker und Fett mit irgendwas Klebrigem drinnen.

Ich hängte mir den Mantel und die Tasche über die Schulter und ging hinaus in düsteres Wetter. Die Echos des Sommers sind dahin, sagt der Erzähler; den Sommer samt seinen Echos kannst du dir in den Arsch stecken, sage ich. Ich ging in die Bäckerei an der Ecke und kaufte mir einen mit Schokolade und einen mit Heidelbeerfüllung.

Bei meiner Schwester war ich kurz vor fünf. Sie erwartete mich, samt dem Trio ihrer Nachkommenschaft, an der Tür. Die Armen.

»Was, du kannst schon gehen, das ist ja toll«, sagte ich und bemühte mich wirklich, diesen jubelnden Hurra-Ton zu treffen, weigerte mich dann aber, auch noch die Verantwortung dafür zu tragen, wie es wirklich klingt. Marek stützte sich unsicher gegen das Bein seiner Mama, lächelte mich dabei aber mit einem stolzen, kindlichen Ausdruck an.

»Du wirst immer dünner«, hieß mich meine Schwester willkommen. Oh Gott, hat ihr jetzt schon wirklich jemand diesen übermütterlichen und vorwurfsvollen ich-mein’s-doch-nur-gut-Ausdruck ins Gesicht geheftet oder was ist da los? Am schlimmsten ist, dass ich sie aber eigentlich schon seit jeher so in Erinnerung habe. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie schon, als sie zehn war.

»Du hast ein bisschen zugenommen«, sagte ich. Nach dieser herzlichen schwesterlichen Begrüßung setzte ich mich in die Küche und wartete darauf, dass sie mir einen Kaffee machte.

»Wo ist er?«, fragte ich sie und begann, in der Boulevardzeitung zu blättern, die auf dem Tisch lag.

»Zdeněk?«, sie drehte sich zu mir und wieder zurück zum Wasserkocher. Diese Alchemie, die sich in dem Gefäß aus Plastik abspielte, verdiente ganz einfach mehr Aufmerksamkeit. Es gibt Zeiten, da hat meine Schwester sehr viel zu tun, wenn wir uns sehen – und für gewöhnlich bedeutet das, dass sie mir den Rücken zudreht. »Er ist auf ein Bier gegangen.« Schockierend! verkündete die Überschrift auf der ersten Seite. Ich nickte. Da wird er also länger weg sein.

Karolína kam zu mir gelaufen. Sie hatte ihre Puppe dabei und fing an, mir etwas zu erklären, mit einem wichtigen Gesichtsausdruck und weniger wichtigen Gesten. Ich nickte nur verwirrt, denn es überraschte mich, wie so ein kleines Mädchen fähig ist, die gleiche besorgte Miene wie ihre Mutter aufzusetzen. Wie gut, dass meine Schwester uns den Rücken zudrehte, denn ich wette, es wäre ihr nicht entgangen, dass sich in mir alles zusammenzog, als würde ich mir einen Löffel Essig in den Hals gießen. Normalerweise lachen die Leute über so was, oder? Wenn die Kinder die Miene von Erwachsenen aufsetzen und Sätze sagen, die auch Erwachsene sagen, die sie sich von ihnen abgeschaut haben, und wenn sie dann sogar noch die Kleider von der Mama anziehen, also sofern das keine Jungs machen, denn darüber lacht dann kaum noch jemand. Ich wurde dadurch aber lediglich nervös und es widerte mich ein bisschen an. Es überraschte mich sogar, dass es etwas gab, das mir irgendwie unangemessen erschien, genau das ist das Wort, mir kommt nicht einfach so etwas unangemessen vor, nein, so einfach bin ich nicht aus der Ruhe zu bringen. Mit diesem Lamentieren erinnerte mich Karolína an eine Sendung, die ich vom Herumzappen durchs Kabelfernsehen kenne, das ich mir damals, als ich mit Salmonellen zu Hause lag, anschaffte. Da lief eine Übertragung von irgendeiner Wahl zur Kinder-Miss. Das Ganze spielte sich ab in einer gottverlassenen Stadt im Süden der USA. Kleine Mädchen stolzierten über eine Bühne, sie waren zwischen vier und acht Jahre alt. Ihre kindlichen Gesichter verschwanden unter einer Tonne Make-up, ihre kindlichen Haare unter protzigen Toupets. Und als wäre das nicht schon genug gewesen, stellten sie sich auf dem Laufsteg zur Schau, mit hohen Schuhen und ausgestopften Brüsten, kreisten mit ihren kindlichen Hüften und schickten laszive Küsschen ins Publikum. Und um sie herum liefen ihre hysterischen Mütter, die sich in drei Kategorien unterteilen ließen: In der ersten Gruppe waren außergewöhnlich hässliche Mütter, die das kompensieren mussten, wozu sie selbst nicht in der Lage waren. In der zweiten Gruppe waren außergewöhnlich junge Mütter, die das kompensieren mussten, was sie selbst nicht geschafft hatten. In der dritten Gruppe waren alte, ehemalige Misses vom Arsch der Welt, die kompensieren mussten, dass sie das alles schon hinter sich hatten. So oder so, es ist klar, dass alle drei Gruppen von Müttern diese Wettbewerbe vor allem aus einem Grund abklapperten. Klar, sie bekommen Geld dafür, klar, sie sind mächtig stolz, bum, aus, bussi, baba, seien wir uns ehrlich, da steht noch etwas anderes dahinter, ganz einfach: Vorwürfe. Ein schlechtes Gewissen. Alle wollen sie mit dieser Maskerade versuchen, etwas zu übertönen: Ihre Gewissensbisse nämlich, die davon kommen, dass sie es manchmal heimlich bereuen, Kinder zu haben. Niemals würden sie zugeben, dass sie manchmal daran denken, zumindest eine Sekunde, zumindest in einem einzigen schwachen Moment, während sie, nach Erbrochenem stinkend, beim Anblick alter Fotos vom Abschlussball heulen, wie es wäre, wenn sie sich nochmals entscheiden könnten.

Ich kann nicht sagen, dass ich Danas Kinder nicht mag. Ich kann aber auch nicht sagen, dass ich ihnen gegenüber irgendeine intensive Zuneigung verspüre. Ich weiß eigentlich nicht einmal, wie ich ausdrücken könnte, was sie für mich bedeuten. Wie soll man das beschreiben, wenn man ganz einfach nichts fühlt? Wenn ich sie anschaue, ist es, als würde ich Fische beobachten, die in einem Aquarium schwimmen. So irgendwie ist es. Mein Interesse für sie gleich dem für Regenbogenforellen oder einen Piranha – aber das werde ich meiner Schwester bestimmt nicht erzählen und auch sonst niemandem. Niemand würde das begreifen, sofort würde man diese Äußerung als großkalibrige Widerwärtigkeit abstempeln, denn einem vierjährigen Spross den Brustkorb auszustopfen und ihm die Haut, die Haare, die Figur und den Charakter zu verhunzen, das geht; aber sagt um Himmels willen auf keinen Fall, dass euch an Kindern in etwa so viel liegt wie an Skalaren. Nicht, dass es darauf ankommt, was die Leute denken, aber ich muss es nicht unbedingt unterstützen, dass es fremde schlechte Meinungen über mich gibt. Das Leben ist viel einfacher, wenn man solche Sorgen nicht hat. Und darum geht es mir in erster Linie. Ich mache mir nichts vor, so nach der Art: Sollen doch die Leute über mich denken, was sie wollen. Klar, sollen sie doch denken, was sie wollen. Aber dieser um eine Nummer kleinere Schuh (das Leben also, eine Metapher also) ist bequemer, solange sie nichts denken. Wenn wir jedenfalls in Betracht ziehen, dass ich meine Neffen und meine Nichte insgeheim mit Fischen in einem Aquarium vergleiche, dann könnte man den Ältesten, Zdenda, als meinen Lieblingsfisch bezeichnen. Nächstes Jahr soll er in die Schule kommen. Im Unterschied zu den anderen Kindern plappert er keinen Unsinn, stattdessen ist er manchmal in Gedanken versunken. Er ist anders, was meiner Schwester, im Gegensatz zu mir, Sorgen macht. Wir sind immer unterschiedlicher Ansicht. Wenn ich nächstes Mal nicht weiß, was ich fühlen denken oder sagen soll, schaue ich einfach Dana an und überlege, was sie fühlt. Errate, was sie denkt. Höre zu, was sie sagt. Und wähle dann das exakte Gegenteil.

Ich habe nie verstanden, warum meine Schwester alle drei Kinder so kurz nacheinander bekommen hat. Noch dazu mit diesem Kuřinec, diesem Hühnerdreck. Ja, sein Name kommt mir irgendwie gerade recht. Das, wofür sich Zdeněk Kuřinec, Zdeněk Hühnerdreck, das ganze Leben lang schämte, weswegen er als Kind ausgelacht und in der Pubertät schikaniert wurde, und was jetzt taktvoll umgangen wird, das wird in meiner Macht zum Spaten, mit dem ich in sein Ego steche. Ich trat ihm auf sein Hühnerauge, sozusagen. Verschmierte die Hühnerscheiße.

Der alchemistische Prozess erreichte seinen Höhepunkt. Das Wasser kochte, das Wasser blubberte. Ich beobachtete den Rücken meiner Schwester und ihre zurückgekämmten Haare. Knips. Und ich schaue wieder auf die Cellulitis der Sängerinnen auf Seite sechs.

Noch bevor sie überhaupt verheiratet waren, erzählte sie mir, dass er sie geschlagen hatte. Sie hatte ein geschwollenes Auge und blaue Flecken an der Hand. Zunächst weinte sie stundenlang, erst dann war sie überhaupt fähig, etwas zu sagen. Bis in die Nacht hinein saßen wir dann da, wir planten, dass sie für eine Weile zu mir ziehen würde und dass sie gleich am nächsten Morgen, während er in der Arbeit ist, alle ihre Sachen abholt. Doch der Hühnerdreck, also der Kuřinec, ging nicht in die Arbeit. Er wartete zu Hause auf sie. Nüchtern, mit einem Strauß Rosen, als Sargnagel. Und weniger als ein Jahr später war Zdenda auf der Welt.

»Was gibt es Neues? Hast du endlich jemanden?«, fragte sie, als sie mir einen Instantkaffee und sich selbst einen Tee aufgoss.

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Nein, es ging gar nicht um diese Frage. Beziehungsweise ging es nicht darum, was für eine Frage sie gestellt hatte. Das wird Dana wohl nie aufgeben – sich in mein Privatleben einzumischen. Aber dieses »endlich«. Danas endlich. Ein bedeutungsvolles endlich. Eins muss ich meiner Schwester lassen: Sie hat die Begabung, eine Menge Information in ein unauffälliges Füllwort hineinzucodieren. Ein Mensch, der sie nicht kennt, würde das gar nicht erst bemerken. Es geht nicht um den Ton, den sie verwendet. Es geht nicht um den Ausdruck, den sie dabei im Gesicht hat, diese Miene, mit der sie eine Tasse mit stinkender Flüssigkeit vor mich hinstellt. Es gibt kein Bedeutungswörterbuch für diese einerseits nichts und andererseits allessagenden Wörter. Sie können jedes Mal etwas anderes bedeuten, lassen sich nur durch das Prisma des Kontexts entziffern, der sehr weit zurückreicht. Weit nach hinten. Ich bin schon so bekontextet, dass ich mir den wahren Sinn ihrer Äußerung immer automatisch übersetze. Ich dechiffriere alle Bedeutungen, die das jeweilige endlich, übrigens, beziehungsweise, vielleicht hat. Und was sage ich darauf? Ich zahle es meiner Schwester immer heim, indem ich vortäusche, dass endlich nur endlich ist, und es nicht nötig ist, darauf zu reagieren.

»Ja, letzte Woche hab ich mit jemandem geschlafen.«

Dana warf einen Blick auf Karolína, die mit der hundert Jahre alten Stoffpuppe unterm Arm immer noch die kleine Version meiner Schwester spielte, schwer zu sagen, ob diese Version komischer oder tragischer war, und schickte ihre Tochter aufs Zimmer.

»Und, wird etwas daraus?«, fragte sie, als sie mir gegenüber Platz nahm.

»Ich hoffe nicht, ich nehme die Pille.«

»So wirst du den Rest deines Lebens alleine bleiben.«

»Naja, verdammt«, sagte ich und riss meine Augen weit auf. Das war mir bisher gar nicht bewusst.

»Du wirst draufzahlen«, Dana überging meine Spielerei und griff nach dem Papieretikett ihres Teebeutels.

»Bei mir wird es keine Fische geben.« Zum Glück schaffte sie es nicht einmal, mich verwirrt anzuschauen, denn ich verzog mein Gesicht wegen des scheußlichen Gesöffs, das sie mir serviert hatte. »Um Gottes willen, was kaufst du denn da für verkohltes Zeug?«

»Du bist ein hoffnungsloser Fall«, seufzte sie und zog an ihrem Teebeutel, holte ihn mit einem regelmäßigen Auf und Ab aus dem Wasser und tauchte ihn wieder in die Tasse zurück.

»Das glaube ich auch«, nickte ich und gab ein paar Löffel Zucker in den Kaffee.

»Ich dachte, du trinkst ihn ohne Zucker.«

»Kaffee schon«, sagte ich, den bitteren, verkohlten Geschmack immer noch auf der Zunge.

Sie wiederholte ihre Mutmaßung über den hoffnungslosen Fall. Dieses Mal ohne Worte.

Ich dachte mir dasselbe. Aber über sie. Dana war ein hoffnungsloser Fall. Mein Erzähler hat die Hände in die Hüften gestützt und schüttelt den Kopf, er ist verwirrt. Was du da zusammenlügst, du bringst die Leser durcheinander, jetzt werden sie sich die Frage stellen, welche der beiden Schwestern verdammt noch mal der hoffnungslose Fall ist. So wie ich ihn kenne, würde er das anders sagen. Er würde sagen: Liebe Leserinnen, liebe Leser, erwähnenswert ist vor allem, dass jede der beiden einen ganz anderen Lebensstil mit Hoffnungslosigkeit gleichsetzt. Und wenn wir noch bedenken, dass jede der beiden einen ganz anderen Lebensstil hat, dann haben wir es mit einem Konflikt zweier Mutmaßungen über zwei hoffnungslose Existenzen zu tun. Das würde er sagen. Halt die Klappe, sage ich und vertreibe ihn aus meinem Kopf raus, raus, raus.

»Ich habe nichts gesagt«, protestierte meine Schwester plötzlich.

Habe ich da eben laut gedacht? »Was?«

»Was?«

»Was?«, sagte ich so schnell, dass sich unsere Stimmen fast vermischen. »Und du hast deinen Typen bei einer Tombola gewonnen, oder was?«, fügte ich hinzu, um von meinem inneren Monolog abzulenken.

»Willst du dein Leben lang allein bleiben?« Sie sammelte sich wieder.

Ich seufzte auf, schlürfte Zucker mit Kaffee und zündete mir eine an. Als ich den ersten Zug ausatmete, stand Dana auf, um die Tür zu schließen und das Fenster zu öffnen, bevor der Zigarettenrauch das Zimmer füllte.

»Ich hoffe ja sowieso, dass dir das vergeht, wenn du wen kennenlernst«, fügte sie hinzu.

Und wann geht das in deinen Kopf rein? Im ersten Moment konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob ich nicht wieder laut gedacht hatte. Dana reagierte nicht, aber das hieß noch nicht, dass ich etwas wirklich nur in Gedanken formuliert hatte.

Tramtrara. Meine Schwester. Meine hoffende Schwester. Nein, es lohnt sich nicht, sie zu fragen, warum um Himmels willen sie darauf hofft, dass jemand anderes die Meinung darüber ändert, wie er sein Leben führen will. So ist sie einfach. Alle Meinungen und Ansichten über das Leben, die im Widerspruch zu dem stehen, was sie für normal hält und wie es sein soll, sind automatisch verschroben, schlecht, komisch. Und manchmal versucht die Arme sogar, es ernsthaft zu begreifen. Warum das so ist. Die Menschen sind doch nicht so verschieden, dass sie sich nicht nach ein und demselben Ideal sehnen! Dass sie den Sinn des Lebens nicht in einem evolutionär vorgegebenen Modell sehen, das aus Partnerschaft und Reproduktion besteht. Nein, wo denn auch, ich sehe die kleine Karolína, wie sie den Kopf schüttelt, von einer Seite auf die andere, und mit erhobenem Finger sagt sie zu ihrer Puppe: Nein, nein, so nicht, meine Kleine. Na, und wenn das so nicht ist, dann ist das nicht so, und dann bin ich die Komische, Falsche und Verschrobene. Immer schon war ich das störende Element, das unsere geschwisterliche Beziehung verdorben hat. Ich denke, Dana wollte immer, dass wir so ein beklopptes Schwesternduo werden, nicht nur verwandt, sondern auch beste Freundinnen, zwei so Schwestern, die sich gegenseitig Zöpfe flechten, die Nägel feilen, sich zur Begrüßung umarmen und sich gegenseitig die Haare halten, wenn eine mal zu viel getrunken hat. Dass ich ein normales Leben führe, mir einen Kerl suche, mit dem ich dann zusammen bin. Dass ich ein normales Leben will und eine Familie gründe. Dass ich mich mit Danas Lebensstil zufriedengebe. Mich einem Tyrannen unterordne, ihm jeden Tag ein warmes Abendessen koche und Angst habe, einen Fuß vor die Tür zu setzen, um mir nicht anhören zu müssen, was für eine Hure ich sei, und andererseits aufpassen muss, nicht zu lange nicht vor die Tür zu gehen, um mir nicht anhören zu müssen, was für eine faule Sau ich sei. Rechnungen, Kloputzen, Kinder in den Kindergarten, Ćevapčići mit Kartoffeln, Rechnungen, Kloputzen, Flaschenbier und Würste. Nein, leider, davon träume ich nicht. Zur Gänze schuldig. Warum wollen Frauen überhaupt Kinder? Weil sie sich wichtiger und ernster vorkommen, sie haben ja dann Verantwortung. Eine Frau ist erst eine Frau, wenn sie auch Mutter ist. So ein Blödsinn. Ich sehe mich auf meiner Kloschüssel stehen und das Ventil vom Spülkasten lockern, um diese Scheiße tief runterzuspülen. Und vermutlich auch deshalb, weil sie denken, dass sie ihre eigene Traurigkeit in Freude verwandeln, wenn sie ihre Energie in jemand anderen investieren können, der die Dinge so macht, wie sie es wollen. An der Mutterliebe gibt es nichts Natürliches, nichts Instinktives. Vergessen wir Darwin für eine Weile. Mutterliebe wird aus den abartigsten Winkeln gespeist, daran gibt es nichts Reines. Sie entsteht aus der Sehnsucht, lebenslange Macht über das menschliche Leben zu haben.

Was würde Mercedes dazu sagen? Sie würde vermutlich sagen: »Und was ist denn rein, mein goldiges Schätzchen? Reines Gold?« Und Ondřej würde sagen: »Wer nicht beleidigt werden will, den beleidigt niemand.«

Ich ging von meiner Schwester nach Hause und bereute es, dass ich nicht mit dem Auto unterwegs war. Ich ging ungefähr drei Kilometer zu Fuß, unglaublich schnell wurde es dunkel und auch immer kälter. Ich erinnerte mich daran, dass mir, als ich klein war und in der Dämmerung nach Hause ging, oft eine Geschichte, eine Vorstellung durch den Kopf ging: Der ganze Stadtteil mit seinen identischen Straßen hatte sich in eine Parallelwelt verwandelt, in der alles haargenau gleich, aber doch auch ganz anders war. Und von dieser Transformation wusste nur ich, denn nur ich verwandelte mich nicht. Auf einmal war alles dunkel und fremd. Ängstlich ging ich durch die Dunkelheit und stellte mir vor, wie anders alle sein werden, sobald ich nach Hause komme. Mutter, Vater, Schwester. Ich würde nach Hause kommen und wissen, dass das nur Nachbildungen meiner Familie sind. Mechanische Maschinen vielleicht, die aussehen wie Menschen, oder Außerirdische, die aussehen wie Menschen, oder Teufel aus der Hölle, die aussehen wie Menschen. Und das Schlimmste daran war nicht, dass sich alles änderte und entfremdete, dass alles dunkel wurde, wie die Straßen, durch die ich ging. Das Schlimmste daran war, dass nur ich dieselbe war. Und dass ich es niemandem sagen konnte. Dass ich es nicht einmal versuchen konnte, weil alle sich verwandelt hatten. Und weil sie wussten, dass ich ich geblieben war. Das beunruhigte mich am meisten. Als ich dann nach Hause kam, fragte ich meine Mutter und meine Schwester immer und manchmal auch meinen Vater (und die waren davon meist ziemlich genervt) nach Sachen, die nur meine »echten« Familienmitglieder wissen konnten.

Da war ich ungefähr sieben oder acht.

Und als ich dann so nach einiger Zeit wieder durch die still gewordenen Straßen nach Hause ging, war ich von dieser Vorstellung nicht mehr beunruhigt. Ich wünschte mir sogar, es wäre so. Mir wurde klar, dass sie sich in nichts Schlimmeres mehr verwandeln konnten. Dass ich sogar froh wäre, wenn sich die Welt ändern würde, während ich nicht zu Hause war. Vielleicht wäre sie dann ein Ort, an dem ich gern bleiben würde.

Das war, bevor Miriam meinen Vater umgebracht hat.

Ba-dam tsss.

Ich bin Callcenteragentin mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum und arbeite für eine private Informationshotline. Ich informiere Menschen. Über alles. Wenn ihr etwas nicht wisst, zögert nicht und ruft mich an. Ich sage euch echt alles. Also, alles, was sich in unseren Datenbanken und im Internet finden lässt, also wenn ihr kein Geld ausgeben wollt, sucht es euch lieber selber raus. Ich sage euch, wie viele Zähne ein Eichhörnchen hat, um wie viel Uhr euer Bus fährt, wie der gegenwärtige Kurs des amerikanischen Dollar ist, auf welcher Autobahn es gerade staut, wie schwer Justin Bieber ist, welche Filiale eurer Bank gerade am nächsten ist, was für eine Telefonnummer die Post hat, wie spät es gerade in Arunachal Pradesh ist. Ich bin eure obligate Instantantwort. Den ganzen Tag lang mache ich nichts anderes, als mir anzuhören, was die Leute wollen, suchen und brauchen. Die Welt stellt Fragen, ich antworte. Arbeit, so notwendig wie Annas gesamte Existenz, denkt mein Erzähler, in Zeiten des Internets und der maximalen Zugänglichkeit allgemeiner Informationen spiele ich hier das Universalgenie. Die Rettung der analphabetischen Bevölkerung, auf Abruf. Ich sage euch alles, und wenn ich etwas nicht weiß, verbinde ich euch weiter.

Seit ich hier angefangen habe, hat sich die Frequenz, mit der die eingehenden Anrufe in die Leitung kommen, mehrere Male geändert, und auch die Art der Fragen ändert sich. Als ich angefangen habe, riefen die Leute ständig an und fragten nach allem. Zwar kannten schon alle das Internet, aber nicht alle mochten es und fast niemand hatte es am Handy. Es gab eine Zeit, wo ich unter anderem bei der Lösung von Kreuzworträtseln half, Hausaufgaben und Referate schrieb, Vorträge über historische und geografische Besonderheiten hielt, Kinoprogramme und Inhaltsangaben von Büchern vorlas, Theaterkarten bestellte. Dann lernten die Menschen das Internet zu benutzen, auch am Handy, und brachten dadurch die Hälfte der Callcenter-Herde um ihren Job.

Ich bin zwar über mein Dienstalter hinaus, ich strotze auch nicht vor sympathischem Gezwitscher, doch habe ich bestimmte Qualitäten, die für Teamleader von Callcenteragenten wichtig sind. Ich bin einer der leistungsfähigsten Mitarbeiter, mache jeden Monat Überstunden, arbeite an Feiertagen, welche die anderen mit Menschen verbringen wollen, die sie ihre Nächsten nennen, drücke mich präzise aus und bin kein Hitzkopf, ich kann ohne Weiteres auch mal ein unfähiger Trampel sein, so was bringt mich nicht aus der Ruhe, und schönen Tag und auf Wiederhören. Also, meine Chefin hat hinter ihrem Kopf eine Pinnwand hängen, mit optimistischem Quatsch und aufmunternden Zitaten, und in der Mitte ist ein Foto von mir, ein Polaroid, auf dem schaue ich aus, als hätte ich gerade einen Krampf in der rechten Gesichtshälfte, weil ich mich nicht entscheiden kann zwischen einem höflichen Lächeln, panischem Verschwinden durch den nächstgelegenen Notausgang und unappetitlichem Rülpsen, und oberhalb des Fotos klemmt ein Zettel mit rosaroter Aufschrift: Mitarbeiter des Jahres.

Ich sage es euch ganz ehrlich, so eine Arbeit ist nichts für Sensibelchen. Wenn eine Zwölfstundenschicht zu Ende geht und ihr das fünfhundertste Gespräch führt, in dem euch ein grimmiger Rentner dermaßen beschimpft, dass ich es nicht einmal wiedergeben kann, denn eine derbe Ausdrucksweise versaut das Karma, dann kann man schon mal die Nerven verlieren. Und wenn man sie Tag für Tag verliert, dann bekommt man mit der Zeit Minderwertigkeitskomplexe, man wird ein Nervenbündel, das nichts mehr aushält, weder den Druck der Anrufer, damit die ja nicht denken, man sei eine blöde … (drei Punkte = karmische Zensur), noch den Druck des Chefs, der meint, man müsse die Anrufer schneller abfertigen, oder den Druck des Ehemanns und der Familie, die meinen, man sollte ausgeglichener sein, oder den Druck der eigenen Nerven, die meinen, man soll auch in der Freizeit mit seiner Umgebung kommunizieren. Und wenn ihr diese Frettchen auf Speed nicht aushaltet, die euch leiten und euch zwingen, bei jedem Teambuilding-Scheiß mitzumachen, und die euch zwingen, sonnig und herzig zu sein, weil wir alle an einem Strang ziehen, und blableblibloblu, dann bleibt gleich erstmal lieber draußen. Nein, ich bin wirklich nicht sonnig und auch nicht herzig und an einem Strang ziehe ich schon gar nicht, aber ich kann das alles sehr gut spielen oder ich kann mich so geschickt rausreden, dass sie mich in Ruhe lassen.

»Guten Tag, Anna Kaplanová am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?«, frage ich, die Finger auf der Tastatur bereit. Alle zehn. Meine gefeilten Nägel warten nur darauf, eine Symphonie für diese Idioten zu spielen. Mit der rasenden Fahndung nach Wahrheit und Informationen loszulegen. Meine zehn gierigen Helfer. Wir sind da. Wir warten. Gierig nach einer Frage. Ihr braucht mich. Also fragt mich.

»Ich bräuchte die Zugverbindung von Ostrava-Poruba nach Prag.«

Ich suche die nächste Verbindung und beim Vorlesen der Abfahrtszeiten beiße ich von einer Lakritzstange ab. Die mehrjährige Praxis lehrt einen, wie man isst, ohne dass es in der Stimme zu erkennen ist. Außerdem, wir Mitarbeiter des Jahres dürfen das. Meine Chefin winkt mir von ihrem Tisch aus zu, tippt mit dem Finger auf ihre Armbanduhr und wartet, bis ich nicke. Diese Geste ist ihr Code, mit dem sie mich an unsere Besprechung erinnert. Ja, so aktiv sind wir hier. Wir deuten uns zu, denn es gibt nicht genug Zeit, um miteinander zu sprechen. Ich sehe, wie mir meine dicke, vierzigjährige, in einen Militäranzug gezwängte Chefin mit schwarzer Vaseline unter den Augen zuwinkt; sie springt zu Boden, rollt Fässer zur Wand, wo sie unbeholfen in die Hocke geht, ein Tier imitiert, etwa eine Ente, mir dann unlogische Signale mit den Fingern gibt, das Schattenbild einer Giraffe an die Pinnwand wirft, sich zum Schluss auf die Armbanduhr klopft und durch die gläserne Tür davonschleicht. Ich hole eine Granate aus meiner Hosentasche, ziehe ihre Sicherung mit den Zähnen heraus und werfe sie ins Besprechungszimmer.

Ich vergeude eine Stunde meines ansonsten gänzlich vollwertigen Lebens voller Höhen und Tiefen, Aktion und Reaktion, Reproduktion und Reinkarnation, und nach der Besprechung, wo sich alle mit allen beraten, sonnig, und schwupps, so ein Mist und noch einer dieser witzigen Slogans, ich halte mir den Bauch vor Lachen, ba-dam tsss, als würde ich auch so witzig sein wollen, ach ja, nach der Besprechung gehe ich zurück in mein Gehege. Für heute ist Feierabend, also packe ich meine Sachen, aber da spüre ich, wie mir jemand auf die Schulter tippt. Ich zucke zusammen. Meine Chefin zwitschert mir zu, sie würde mir gern noch ein Feedback geben, was bedeutet, dass sie einen an ihren Schreibtisch führt, da nach oben, da zu den Fenstern, an ihren Thron an der Stirnseite des Callcenters. Das bedeutet, dass man in einem Sessel Platz nimmt, der größer und bequemer ist als der, den man in seinem Gehege stehen hat, und dass sie einem samtgepolsterte und mit Edelsteinen besetzte Kopfhörer aufsetzt, schöner und hochwertiger als die, die man in seinem Gehege trägt, und dann spielt sie einem ein Gespräch vor oder zwei; ein Gespräch, das man an diesem Tag geführt hat und das sie sich angehört hat, zu dem sie einem etwas sagen will, einen loben will, gewöhnlich jedoch im Gegenteil, gewöhnlich hat man es vermasselt und die Sonne verschwindet hinter kleinen schwarzen Wolken, nein, das ist keine Schikane, das ist doch Feedback. Ich setze die Kopfhörer auf und meine Chefin spielt das Gespräch ab. Ich habe gewusst, dass sie mir genau dieses eine vorspielen würde.

Seine Stimme klang, als würde man mit einem Teelöffel gegen eine Karamellkruste klopfen, und ich wollte, dass er mir für einen Moment direkt ins Ohr knuspert.

Ich fragte ihn: »Was, wohin?«

»Zur Esplanade.« Krach.

»Entschuldigen Sie bitte, können Sie das wiederholen? Die Verbindung ist irgendwie schlecht.«

»Sicherlich«, krach. »Zur Esplanade.«

»Können Sie mir das buchstabieren?«

»E, S, …«

»E wie Emil?«

»Ja, E wie Emil, S wie Samuel.«

Dann sagte er P wie Paula. L wie Ludwig. Krach krach.

Er sagte: »Wissen Sie, ich bin nicht aus Prag.« Und dann: »Das wäre lieb von Ihnen, ich bin schon ganz verzweifelt.«

»Wissen Sie, warum ich Ihnen das vorspiele?«, fragt mich meine Chefin.

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihm den Weg später richtig erklärt.«

»Haben Sie ihn wirklich nicht gehört? Ich verstand ihn sofort.«

»Entschuldigung, ich nicht. Sonst hätte ich ihn doch nicht gebeten, mir den Ort zu buchstabieren.«

Meine Chefin schaut etwas verwirrt, vielleicht hätte sie auch das Gesicht verzogen, wenn sie es könnte.

»Das Vorgehen war korrekt, oder?«

»Das Vorgehen war korrekt, doch dauerte das Gespräch zwei Minuten länger als nötig gewesen wäre.«

»Aber ich habe ihn nicht verstanden.«

Ein geschlossener Kopf. Sie macht eine abwinkende Geste. »Ich werde das nicht bewerten. Es war nicht schlecht, aber nächstes Mal hören Sie besser zu. Hm?« Zum Schluss fügt sie ein bisschen zwitscherndes Gezwitscher hinzu. Ich nicke.

»Gut, das ist alles.«

»Ich würde es gern noch einmal hören, wenn ich kann.«

Meine Chefin zieht überrascht die Augenbrauen zwei Stufen höher, dann lächelt sie mich an. »Damit müssen Sie sich nicht quälen, es geht doch um nichts.«

Ich werde mich nicht quälen.

»Ich weiß, aber trotzdem würde ich es gern noch einmal hören, wenn es nichts ausmacht.«

»Gut. Aber Sie wissen, es ist Freitag? Sie sollten nach Hause gehen.«

»Keine Angst«, ich nicke.

»Fahren Sie nicht wieder mit Ihrem Freund in den Böhmerwald?«, fragt sie mich, als sie aufsteht und sich die Handtasche, eine falsche Louis Vuitton, über ihren fleischigen Arm schiebt.

»Doch, doch, ich gehe gleich.«

»Gut. Sie haben nichts zu befürchten. Sie wissen ja«, dabei streckt sie das Kinn zur Pinnwand mit meinem Foto und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ja, das weiß ich. Sie winkt mir zu und geht und ich werfe die zweite Granate über meine Schulter. Ich setze die Kopfhörer wieder auf. Er sagte: »Ich bin verzweifelt« und ich, nur ich konnte ihn aus dieser Verzweiflung befreien. Er sagte: »Das wäre lieb von Ihnen«, und ich lächelte über seine Verwirrtheit. Ich sollte los, ich fahre doch in den Böhmerwald. Verzweifelt, verzweifelt, verzweifelt.

Ja, das hätte ich fast vergessen. Ich klopfe mir gegen die Stirn, während ich die Kopfhörer abnehme. Ich lüge manchmal.

Staubfänger

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