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Vorwort

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Die Psychiatrie ist eine Wissenschaft an der Grenze. Wie keine andere Disziplin bewegt sie sich an der Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen strenger empirischer Forschung und populärwissenschaftlicher Deutung, zwischen den kausalen Gesetzmäßigkeiten der Biologie und der zielgerichteten Verursachung von Verhalten, die Kennzeichen des Lebens ist.

Gegenstand der psychiatrischen Medizin sind die komplexesten biologischen Phänomene, die es gibt: die Wahrnehmung, die Emotionen, das Denken, Wollen und Streben und schließlich das Verhalten von Menschen. Als klinische Wissenschaft hat die Psychiatrie das Privileg, auf ganz intime Art und Weise am Denken, Wollen, Leiden und Glück der behandelten Menschen teilhaben zu dürfen. Gleichzeitig müssen dieselben Phänomene aus der objektiven Außenperspektive der vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie) betrachtet, analysiert und bewertet werden.

Mit unseren Patientinnen und Patienten fragen wir uns immer wieder gemeinsam: Warum denken, fühlen, wollen und handeln Menschen so, wie sie es de facto tun? Muss das eigene Erleben und Streben vor allem als Ausdruck neurophysiologischer und biochemischer Prozesse begriffen werden? Ist es angemessen, das eigene Wollen und Verhalten überhaupt als frei zu begreifen? Oder ist unser Leben vollständig determiniert durch physikalisch-biochemische Prozesse, deren Komplexität wir kaum fassen können?

Dass Freiheit nicht als Theorie oder Grundannahme begriffen werden sollte, sondern vielmehr als ein empirisch fassbares, körperliches, biologisches Phänomen, welches durch die Eroberung der Zeit und die Erkenntnisfähigkeit von Lebewesen entsteht, ist in zwei früheren Werken des Autors (BioLogik; Freiheit) thematisiert worden (Tebartz van Elst 20031; TvE 2015). Dabei wurde der psychobiologische Weg in der Entwicklungsgeschichte des Lebens und der Lebensgeschichte eines Menschen bis hin zur Grenze, zum Phänomen der Freiheit, analysiert und beschrieben.

Dieses Buch thematisiert nun Fragen diesseits und jenseits dieser Grenze, diesseits und jenseits der Freiheit. Denn wer sein eigenes Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Wollen und Handeln und das der Gruppen in einer Gesellschaft beobachtet (den Diskurs), wird schnell feststellen: es gibt erkennbare und benennbare Muster und Stereotypien in der kognitiven Welt. So gestaltlos die Welt des Mentalen auch sein mag, sie ist nicht ohne Struktur, sie funktioniert nicht ohne Gesetzmäßigkeiten.

Diese Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der psychobiologischen Räume, in denen Willensfreiheit stattfindet, sollen in diesem Buch bedacht werden.

Es zeigt sich: Willensfreiheit und die Freiheit des Verhaltens sind nichts Absolutes. Sie finden nicht außerhalb der Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaft statt, sondern sind als körperliches, psychobiologisches Phänomen in diese eingebettet. Und freies Verhalten bezieht sich notwendig auf unfreie, weil nicht unmittelbar-veränderbare Gegebenheiten: den eigenen Körper, die eigene Persönlichkeit, Krankheiten und Behinderungen (das Diesseits der Grenze). Aber auch die gesellschaftliche Umwelt, die Sprache und Kultur, mit denen alles Bedeutungsvolle im eigenen Leben überhaupt erst begriffen wird, treten dem wollenden Menschen als unfreie Gegebenheit gegenüber (das Jenseits der Freiheit).

In dieser Gemengelage von überwiegend unfreien Rahmenbedingungen bewegt sich das Wollen und Verhalten eines Menschen. Beide haben Gründe, zumindest teilweise erkennbare und benennbare Bewegkräfte, die Ursachen von Bewegungen und Verhalten sind. Als übergeordnete endogene, der Biologie des Lebens an sich erwachsene Bewegkräfte werden aus objektiver Perspektive die Triebe identifiziert. Ihnen entsprechen aus subjektiver Perspektive des Selbsterlebens die Bedürfnisse. Dem objektiven Sexualtrieb entspricht das subjektive Bedürfnis nach Sexualität. Der fundamentale Lebenstrieb führt bei Lebewesen, die die eigene Vergänglichkeit begreifen, aus objektiver Sichtweise zum transzendenten Trieb. Aus subjektiver Perspektive entsprechen dem die transzendenten Bedürfnisse oder – in einer anderen Sprechtradition – das Bedürfnis nach Sinn.

Auf transzendente Beweggründe wird im postmodernen Denken nur wenig reflektiert. Wahrscheinlich liegt das u. a. daran, dass es im allgemeinen Diskurs unserer Zeit eng mit religiösem Denken verknüpft vorgestellt wird, welches vielen als antiquiert gilt. Dabei stellen die religiösen transzendenten Systeme zwar die bekanntesten Beispiele transzendenter Kognition und Motivation dar – aber sicher nicht die einzigen.

Schon im Buch Freiheit (TvE 2015) wurden das Musterhafte, Stereotype, Immer-Wieder-Kehrende und Vorhersagbare im Wahrnehmen, Denken, Erleben und Verhalten von Menschen als die Stigmata des Unfreien beschrieben. Solche Stigmata der Unfreiheit können nach meiner Analyse auch im transzendenten Erleben und Verhalten von Menschen erkannt werden. Sie scheinen mir im säkularen wie im sakralen Denken und Verhalten eng mit transzendenter Übertreibung, Extremismus und Fanatismus verknüpft zu sein.

Freiheit als neurokognitiver Auftrag bedeutet für den Einzelnen wie für die Gesellschaft unter anderem auch die Aufgabe, solche potentiell sehr schädlichen Strukturen der Unfreiheit zu erkennen und an ihrer Überwindung zu arbeiten.

Wenn ich mit diesem Buch dazu einen kleinen Beitrag leisten kann, würde mich das sehr freuen.

Der Gedankengang dieses Buches baut systematisch auf den vorherigen Publikationen BioLogik (TvE 2003) und Freiheit (TvE 2015) auf und setzt das dort entwickelte Denken fort. Um unnötige Redundanzen zu vermeiden, wird im Text daher immer wieder verkürzt auf die Argumentation in diesen Werken verwiesen, ohne die entsprechenden Gedankengänge hier im Detail zu wiederholen.

Abschließend möchte ich an dieser Stelle all den Menschen danken, mit deren Hilfe ich im diskursiven Austausch, in kontroverser und affirmativer Diskussion die hier vorgestellten Überlegungen entwickeln konnte: meiner Frau an erster Stelle, meiner Familie, Großfamilie, meinen Kolleginnen und Kollegen an der Klinik (besonders am Mittagstisch), der Universität und Forschung. Danken möchte ich vor allem aber auch meinen Patientinnen und Patienten. Ich erlebe es als Privileg und Geschenk, in meinem beruflichen Alltag an den vielfachen Besonderheiten, Eigenheiten, Faszinosa und Alltäglichkeiten ihrer Wahrnehmungen, ihres Denkens, ihrer Ängste und Sorgen, ihrer Wünsche und Aspirationen und ihres Wollens, Hoffens und Glaubens auf intime Art und Weise teilhaben zu dürfen. All diese Erfahrungen sind die eigentliche empirische Grundlage dieses Buches. Danken möchte ich schließlich dem Kohlhammer Verlag, Frau Brutler, Frau Reutter und vor allem Herrn Dr. Poensgen, der dieses Buch von Beginn an wohlwollend unterstützt und durch seine Überarbeitung und Anregungen sehr bereichert hat.

Ludger Tebartz van Elst

Freiburg im Breisgau, November 2020

1 Der Autorenname »Tebartz van Elst« wird in den Literaturverweisen im Folgenden mit »TvE« abgekürzt.

Jenseits der Freiheit

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