Читать книгу Jenseits der Freiheit - Ludger Tebartz van Elst - Страница 8
Einleitung
ОглавлениеFreiheit ist ein Phänomen der Grenze. Es gibt keine Freiheit im leblosen Raum, sondern nur an den äußersten Rändern der psychobiologisch erschlossenen Welt. Freiheit gebiert Transzendenz und braucht Struktur. Die konkrete Form der Struktur, die den leeren Raum erschließt und damit zur freien Welt macht, hat Bedeutung für die Ökologie dieser Welt. Wer die Gesetzmäßigkeiten und Wirkkräfte im Grenzraum diesseits und jenseits der Freiheit nicht kennt, ist ihrer Dynamik wehrlos ausgeliefert.
Dies sind die Kerngedanken, die in diesem Buch systematisch entwickelt werden.
Dazu wird zunächst der Frage nachgegangen, was das Leben bewegt. Warum verhalten Tiere und Menschen sich so, wie sie es de facto tun? Dies ist der klassische Forschungsgegenstand der vergleichenden Verhaltensforschung, der Ethologie. Und so können die in diesem Buch erarbeiteten Überlegungen auch als ethologische Reflexionen auf die Verhaltensmuster von Menschen verstanden werden. Zu diesen Fragen werden in Kapitel 1 Antworten aus der klassischen Philosophie, der biologischen Psychologie und der Motivationspsychologie gesammelt und analysiert ( Kap. 1). Die Kerngedanken der für das abendländische Denken so einflussreichen Freud’schen Triebtheorie werden ebenso dargestellt wie das ebenfalls sehr einflussreiche Modell der Maslow’schen Bedürfnispyramide. Schon an dieser Stelle taucht der auch in diesem Buch zentral entwickelte Gedanke der transzendenten Motivation auf. Im Weiteren werden die verschiedenen motivationalen Begrifflichkeiten, die in den verschiedenen Fachsprachen der Philosophie, Psychologie und Medizin nebeneinander bestehen, wie Trieb, Bedürfnis, Emotion, Motiv, Ziel etc., systematisch erfasst, analysiert und operationalisiert. Es wird darauf hingewiesen, dass der auch von Freud zentral verwendete Trieb-Begriff Verhalten aus der objektiven Beobachterperspektive beschreibt, während der Bedürfnis-Begriff in erster Linie auf das subjektive Erleben triebhaft organisierter Verhaltensweisen abhebt. Als grundsätzliches Axiom wird das Postulat eines Lebenstriebs festgehalten. Dieser liegt auch der allgemein anerkannten Darwin’schen Evolutionstheorie als fundamentale Bewegkraft zugrunde. Davon abgeleitet werden für die verschiedenen Organisationsformen des Lebens auf der Erde verschiedene Triebbereiche: die vegetativen Triebe, die vor allem pflanzliches Verhalten erklären, die animalischen Triebe, welche die weitaus komplexeren tierischen Verhaltensweisen verständlich machen, und die kognitiven Triebe, welche aus den wachsenden kognitiven Fähigkeiten der zunehmend intelligenten Tiere erwachsen. Als bisher komplexeste Variante dieser kognitiven Triebe, die aus der Erkenntnis des eigenen Todes unter der Bedingung des fortbestehenden fundamentalen Lebenstriebs zwangsläufig entstehen, werden die transzendenten Triebe identifiziert. Derart motivierte Verhaltensweisen zielen ab auf eine imaginierte Überwindung der eigenen Vergänglichkeit durch Einbettung des eigenen Verhaltens in größere, das eigene Leben übersteigende (transzendierende) Sinnzusammenhänge.
Im zweiten Kapitel dieses Buches wird das Diesseits freien Verhaltens in den Blick genommen ( Kap. 2). Aufbauend auf den im Buch Freiheit (TvE 2015) erarbeiteten Überlegungen werden die Bedingtheiten potentiell freier Verhaltensweisen in den alltäglichen Situationen konkreten Lebens analysiert und beschrieben. Ganz konkret und vor dem Hintergrund klinischer Beobachtungen und Analysen wird beschrieben, wie der Raum potentiell freien Verhaltens strukturiert ist. Denn Freiheit ist weder ein theoretisches Abstraktum noch ein idealistisches Postulat, sondern ein konkretes, empirisches, körperliches, psychobiologisches Phänomen. Freiheit braucht den Raum struktureller Rigidität, um sich davon abheben zu können. Die konkreten Strukturen, die ich dabei meine erkannt zu haben, und das daraus hervorgegangene heuristische SPZ-Modell fußen ganz wesentlich auf Theorie- und Modellbildungen im Zusammenhang mit meiner klinischen psychiatrischen Arbeit. Entsprechende Gedanken wurden ansatzweise auch bereits in einer Vielzahl von medizinischen Fachbüchern und -artikeln veröffentlicht.
Im dritten Kapitel dieses Buches wird die Umwelt in den Blick genommen, in die sich freies und damit potentiell transzendentes Verhalten zwangsläufig einbetten muss (Jenseits der Freiheit) ( Kap. 3). Der Raum der kognitiven Vorstellungswelt ist potentiell völlig grenzenlos. Faktisch ist er es aber nicht. Denn lange bevor sich die kognitiven Möglichkeiten eines Individuums in seiner Biographie und Entwicklungsgeschichte voll entwickeln, wurde dieser potentiell grenzenlose Raum intensiv bearbeitet, gestaltet, begrenzt, geordnet und strukturiert. Er ist überfüllt von Bildern, Wörtern, Begriffen, Theorien, Ge- und Verboten. Diese wurden über die Sprache und gesellschaftliche Kommunikation an den einzelnen Menschen herangetragen und ihm auch aufoktroyiert, ohne dass sich das Individuum zunächst dazu verhalten könnte. Als wirkmächtigstes Phänomen ist hier sicher die Muttersprache zu nennen. Als fundamentales »kognitives Betriebssystem« eröffnet diese dem Individuum nicht nur die grenzenlose Welt des Mentalen, sondern sie begrenzt und strukturiert diese auch sofort wieder. Dies geschieht in Form der vielen Begriffe, Theorien, Weltanschauungen, Erzählungen, Symbole und Sätze, die als Prägungen mit der Primärsprache wie Muttermilch aufgesogen werden. Die Kultur eines Menschen repräsentiert die ökologische Umwelt, in die potentiell freies Verhalten eingebettet ist. Und ganz ähnlich wie auf individueller Ebene die konkrete problematische Entscheidungssituation kritisch durch persönlichkeitsstrukturelle Rigiditäten eingeengt wird, kann dies auch für die kollektive gesellschaftliche Ebene erkannt werden. Denn auch dort wird der gesellschaftliche Diskurs (kollektive problematische Situation, in der sich gesellschaftliche Handlungsfreiheit in Form von Verhaltensalternativen entwickelt) bedingt und eingeengt durch die »Persönlichkeit der Gesellschaft«: Sitten, Bräuche, Traditionen, Identitäten, Wertvorstellungen, Gesetze usw. Und ähnlich wie auf individueller Ebene phasische und teilweise krankhafte Zustände des Körpers (Infektionen, Hormonstatus, Depressionen, Angstzustände, Psychosen) den Entscheidungsfreiraum auf ganz typische und musterhafte Art und Weise beeinflussen und einengen, kann dies auch auf gesellschaftlicher Ebene in Form von Zuständen wie Krieg, Bürgerkrieg, Revolution, Wirtschaftskrise, Pandemie, Boom, Blüte und Hype erkannt werden.
Nachdem die Bedingtheiten individuell freien Handelns vor dem Hintergrund persönlichkeitsstruktureller und krankhafter Einengungen (Diesseits der Freiheit) sowie gesellschaftlich ökologischer Faktizitäten (Jenseits der Freiheit) beschrieben und analysiert wurden, rückt in Kapitel 4 erneut der transzendente Trieb als die in diesem Buch im Fokus stehende Bewegkraft menschlichen Verhaltens ins Zentrum der Überlegungen ( Kap. 4). Es werden ausgehend von der Analyse klassisch religiöser Verhaltensweisen Kriterien transzendenten Verhaltens entwickelt. Ausführlich wird der Frage nachgegangen, in welcher Beziehung transzendente Motivation und Religion zueinander stehen. Auch die Suggestion des frühen Freuds, höhere Kulturleistungen könnten ausschließlich durch Sublimierung (Unterdrückung und Verschiebung) des Sexualtriebs plausibel erklärt werden, wird diskutiert. Es wird festgehalten, dass der transzendente Trieb seine Wirkkraft zwangsläufig bei den Lebewesen entfaltet, die die unausweichliche Realität des eigenen Tods erkennen und trotzdem dem Drang des fundamentaleren Lebenstriebs ausgesetzt sind. Aus subjektiver Perspektive korrespondieren dem die transzendenten Bedürfnisse bzw. das Streben nach Sinn.
Die Beobachtung menschlichen Verhaltens zeigt, dass der transzendente Trieb eine mächtige Wirkkraft ist. Er ist die Kraft, die auf kollektiver Ebene Kulturen und Religionen hervorbringt und auch wieder untergehen lässt. Auf individueller Ebene ermächtigt der transzendente Trieb zu Handlungen, die dem ihm zugrundeliegendem Lebenstrieb sogar widersprechen oder ihn übersteigen: das Opfer, den Märtyrertod und das Selbstmordattentat.
Abschließend wird erneut die gesellschaftliche Ökologie betrachtet, in die der transzendente Trieb eingebettet ist. Ein Kernanliegen des Textes besteht darin, auf den dynamischen Zusammenhang zwischen den psychobiologischen Phänomenen und Wirkkräften diesseits der Freiheit und ihrer transzendenten Gerichtetheit auf einen Raum jenseits ihrer freien Grenzwelt, ihrem Telos (Kultur, Sprache und Religion in ihren vielfältigen auch säkularen Manifestationen) hinzuweisen. Beide Pole dieser psychobiologischen Wirklichkeit sind einem permanenten geschichtlichen Wandel unterworfen, sowohl der psychobiologisch determinierte Pol diesseits als auch der sprachlich-kulturelle Pol jenseits der Freiheit. Im Entwicklungs- und Veränderungsprozess beider Bereiche stehen sich polar entgegengesetzte Organisationsprinzipien erkennbar gegenüber. Das konservativ-bewahrende Organisationsprinzip garantiert dabei die Stabilität und den Fortbestand des Erreichten und das progressiv-verändernde Prinzip die Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Umweltbedingungen. Dies gilt sowohl für die psychobiologische Wirklichkeit der lebendigen Körper diesseits als auch für die kulturellen Räume jenseits der Grenze.
Die positiv gegebene, profane wie transzendente Kultur war und ist schon immer Ausgangspunkt, Referenzraum und Horizont für freies Verhalten zu allen Zeiten gewesen. Was bedeutet es vor dem Hintergrund dieser Feststellung, wenn die kollektiven, religiösen wie säkularen, transzendenten Systeme, wie es in den letzten Jahrhunderten und im neuen Jahrtausend mit erkennbar zunehmender Dynamik der Fall ist, zunehmend dekonstruiert werden und an Überzeugungs- und kollektiver Bindungskraft verlieren? Mit der Thematisierung dieser Frage schließt dieses Buch. Denn wenn die zentrale, hier vertretende These stimmt, dass der transzendente Trieb als kognitiver Trieb dem erkennenden Menschen körperlich innewohnt, wird er nicht verschwinden, nur weil sich die kollektive Kultur transzendenter Systeme auflöst. Ganz im Gegenteil können solche kollektiven transzendenten Systeme (Kulturen, Religionen) auch als Instrument begriffen werden, die ungeheure Wirkkraft transzendenter Motivation zu kanalisieren und zu domestizieren. Die totalitären gesellschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts, die gut erkennbar auch auf profane, kollektive transzendente Motivationen aufbauten, zeigen dies eindrücklich.
Und so wie die sexuelle Aufklärung Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch sein Sexualverhalten möglichst frei, autonom und vernünftig verwirklichen kann, so ist nach meiner Analyse eine Selbsterkenntnis und Selbstaufklärung über den transzendenten Trieb Voraussetzung dafür, dass transzendente triebhafte Bedürfnisse – werden sie nun individuell oder kollektiv, säkular oder sakral ausgelebt – nicht irrational befriedigt werden, was verheerende Konsequenzen für das Wohl von Mensch und Natur haben kann.