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Für Buddha sind tausend Jahre wie ein Tag
Eine Reise durch die thailändische Geschichte
Nicht nur die Gnus, die Zugvögel oder die australischen Krabben - auch ganze Völker wandern. Würde man die Menschheitsgeschichte aus der Weltraumperspektive im Zeitraffer abdrehen, so sähe man ein permanentes Kommen und Gehen. Die Germanen zogen nach Süden bis nach Nordafrika, die sibirischen Jäger überquerten die Beringstraße und ihre Nachkommen gelangten bis nach Feuerland. Die Bantus bevölkerten von Kamerun aus ganz Zentral- und Südafrika, und die Polynesier durchquerten tausend Jahre lang die Weiten des Pazifiks.
Wie aber verhielt es sich mit den Thais? Woher kamen sie und wie war es ihnen gelungen, sich in „Thailand“ niederzulassen?
Die erste Frage hat die Forschung inzwischen beantwortet. Die Thais stammen als eine sino-tibetische Ethnie aus dem Süden des heutigen China. Im achten Jahrhundert lebten sie in im Reich von Nan-Chao in der heutigen chinesischen Provinz Yünnan. Chinesische Quellen beschreiben das Reich von Nan Chao als ein relativ hochentwickeltes Gemeinwesen, möglicherweise auch deswegen, weil Staatsaufbau und Kultur fast vollständig von den Chinesen übernommen wurden.
Merkwürdig, dass sie dann weiter nach Süden gezogen sind, denn Yünnan ist von allen chinesischen Provinzen eine der schönsten. Warm, aber nicht zu heiß, fruchtbar und in der Umgebung des Mekong von berückender landschaftlichen Schönheit. Warum wollten sie weg? War es ihnen zu langweilig und lockte sie das Abenteuer in fernen Ländern? Oder waren sie einfach zu zahlreich geworden, so dass sich ein Teil von ihnen wie die griechischen Kolonisten gezwungen sah, die zu Heimat verlassen?
Was immer auch die Gründe gewesen sein mochten, ab dem späten achten Jahrhundert kamen die Thais nach Indochina, blieben hier, raubten dort und zogen weiter, immer weiter nach Süden, der leicht abschüssigen Landschaft des nördlichen Indochina folgend, bis sie den Chao Phraya Fluss im heutigen Thailand und den Salween im heutigen Myanmar erreichten.
Dieser Route wollte ich folgen. Von Chiang Mai aus wollte ich nach Sukothai und Ayutthaya fahren, den beiden ersten Hauptstädten Siams bis nach Bangkok, der gegenwärtigen Metropole des Landes.
Aber das war leichter gesagt, als getan, denn die thailändische Eisenbahn streikte, und die Bahnverbindung zwischen Chiang Mai und Bangkok war blockiert. Lange Menschenschlagen standen an diesem Morgen vor den Ticketschaltern am Busbahnhof von Chiang Mai. Die gute Nachricht war, dass ich ein Ticket nach Phitsanulok erhielt. Die schlechte Nachricht war, dass der Bus über keine Klimaanlage verfügte, so dass es im Bus bald nach allen möglichen Gewürzen, nach abgepacktem Fleisch und verfaulten Bananen roch. Dann und wann zog auch ein Hauch von Kleinkinderschiss durch die Reihen, wobei mir auffiel, dass die Babys ihre Würstchen offenbar in aller Stille abdrückten und ihrer Umgebung gegenüber ein unschuldiges Gesicht zur Schau stellten. Ihre thailändischen Eltern waren derweil guter Dinge, schnatterten untereinander in einem fort und zeigten sich die eine oder andere Sehenswürdigkeit, die vom Busfenster aus zu sehen war. Ich notierte: der Thai ist eine extravertierte Person, meistens heiter und freundlich, weniger distanziert als der Chinese und größer gewachsen als der Khmer, aber immer hungrig, denn wir waren noch keine Stunde unterwegs, da wurde schon zum ersten Mal an einer Garküche gehalten, damit sich jedermann mit Essen versorgen konnte.
Waren die Thais auch schon so hungrig gewesen, als sie in Indochina einwanderten? Möglich, aber auf jeden Fall wurden es immer mehr, so dass die Wissenschaft heute zwei Gruppen von Einwanderern unterscheidet. Die erste Gruppe waren die sogenannten „großen Thai“, die sich nach Myanmar wandten und sich am Salween Fluss niederließen, wo sie zu den Vorfahren der heutigen Shan wurden. Ihnen sollte ich später am Inle-See in Burma begegnen. Die zweite Gruppe erhielt von den Forschern das Etikett der „kleinen“ Thai“, was insofern irritiert, weil sie es waren, die im Laufe der folgenden Jahrhunderte das eigentliche Thailand gründen sollten. Soweit die Reiseführer und Geschichtswerke, angereichert mit zahllosen Details und Komplikationen, die man einfach entschlossen ausblenden muss, wenn man einen merkbaren Überblick über die geschichtlichen Abläufe erhalten will.
Inzwischen hatte der Bus den Norden verlassen. Fast unmerklich führte die Straße in tiefer gelegenes Gelände, es wurde wärmer, und die Landschaft links und rechts der Straße prangte in üppigem Lebensgrün. Wasserbüffel standen merkwürdig teilnahmslos im Schlick, Kinder rannten über Bewässerungsdeiche und ließen Drachen steigen, und hier und da ragten die Spitzen kleiner Tempelbauten über die Palmenkronen. Kein Wunder, dass es den frühen Thais in Zentralthailand auf Anhieb gefallen hatte. Im Unterscheid zum schönen, aber recht gebirgigen Yünnan musste ihnen dieses Land zwischen Chiang Mai und Phitsanulok wie eine riesige Reisschüssel erschienen sein, so dass sie sich niederließen und sesshaft wurden.
Aber was war das für eine Welt, in der die Thais heimisch werden wollten? Indochina zur Jahrtausendwende war keineswegs ein leeres Land sondern eine bereits hochentwickelte Agrarregion, deren Bewohner mit Hilfe raffinierter Bewässerungstechniken beachtliche Überschüsse erzeugten. Die Mon im Süden Burmas, die Cham in Zentralvietnam, die Vietnamesen im Delta des Roten Flusses hatten bereits ihre ersten Staaten gegründet. Das bedeutendste und größte dieser Reiche war das Imperium der Khmer von Angkor, das zeitweise Laos, Kambodscha, den Süden Vietnams und den größten Teil Thailands bis an die burmesische Grenze beherrschte. Für die Gottkönige des Khmer-Reiches waren die Thais zunächst nicht mehr als Söldner, die man in den Dienst nahm, wenn man sie brauchte, oder herumstreifende Clans, die man aus dem Land jagte. Auf dem Tempelwänden von Angkor Wat tauchen die Thais als kriegerischer Haufen auf, der sich in Aussehen und Gehabe deutlich von den disziplinierten Khmer-Truppen unterscheidet.
Als der Bus nach einer gut vierstündigen Fahrt in der Stadt Phitsanulok stoppte, war von dieser Vergangenheit nichts mehr zu entdecken. Phitsanulok war eine lebhafte Provinzstadt auf halber Strecke in zwischen Chiang Mia und Bangkok, ein lauter und hektischer Verkehrsknotenpunkt, der allerdings mit einigen Attraktionen aufweisen konnte: dem Kloster des Goldenen Buddha, einem der stimmungsvollsten Nachtmärkte Thailands und eben der Nachbarschaft der Ruinenfelder von Sukothai.
Da es schon dämmerte, beschloss ich, in Phitsanulok zu übernachten, um mir den Goldenen Buddha anzusehen. Der Goldene Buddha von Phitsanulok, eine der berühmtesten Buddha Statuen des Landes, befand sich im Kloster Phra Ratana Mahatat am Ufer des Nan Rivers im Norden der Stadt. Es handelte sich um einen überlebensgroßen, sitzenden Buddha in der Haltung der Erleuchtung (Bhumispasa-mudra) , was bedeutete, dass er im Schneidersitz auf einer Empore saß und dass seine rechten Hand beiläufig gen Boden wies Die Statue, ein Meisterwerk der thailändischen Plastik, entstammte dem 15. Jahrhundert und war über und über mit feinen Goldplättchen bedeckt. Positioniert war der Goldene Buddha in einem nicht sonderlich großen, von Säulen begrenzten Raum mit einem Marmorboden, der so spiegelblank war, als würde er jeden Tag gewienert. Da es im Tempel angenehm kühl war, setzte ich mich in eine Ecke des Raumes und beobachtete die Besucher. Die Atmosphäre war entspannt bis an die Grenze zur Heiterkeit, als würde der Anblick des Goldenen Buddha die Stimmung heben. Zugleich war diese Hochgestimmtheit durch zurückhaltende Devotion gedämpft, wenn sich die Besucher der Skulptur zuwandten und ihre Gaben zu Füßen des Buddha niederlegten. Gebetet oder meditiert wurde kaum, eher glichen die Besuche Stippvisiten bei einem freundlichen Hausgeist, den man in bestimmten Abständen einfach besuchen muss. Der Gegensatz zwischen der anspruchsvollen und durchgeistigten Lehre des Buddha und der freundlichen Beiläufigkeit seiner Verehrung verwunderte mich.
Warum der Buddhismus in seinen verschiedenen Varianten zur großen Weltreligion Asiens wurde, ist allerdings durch seine Lehre allein ohnehin nicht zu verstehen. In Wahrheit verdankt der Buddhismus seine Verbreitung seiner enormen spirituellen Elastizität, die ihm die Überwölbung und Assimilierung der unterschiedlichsten Traditionen gestattete. Unterhalb der buddhistischen Lehre von der Nichtigkeit der materiellen Welt gleicht der Buddhismus einer Leinwand, auf der die Völker über die Jahrhunderte hinweg ihre religiösen Träume ausmalten und mühelos den ganzen Kanon ihrer eigenen Götter, Geister und Ahnen miteinbeziehen können. Von Indien aus gelangte der Buddhismus zuerst nach Sri Lanka, dann über Bengalen nach Indochina. Über den Himalaya und die Seidenstraße erreichte er Tibet und Zentralasien, schließlich China, Korea und Japan, um überall lokale Traditionen so intensiv in sich aufzunehmen, dass er eigentlich von Land zu Land ein anderer ist. Als die Thais Indochina erreichten, war der Buddhismus also bereits da, die Gottkönige von Angkor hatten den neuen Glauben angenommen und verbreiteten ihn in ihrem Reich.
Während meiner Anwesenheit zu Füßen des Goldenen Buddha zählte ich Dutzende Familien, die sich vor dem Goldenen Buddha versammelten, unbekümmert herumscherzten und sich dann umdrehten um sich, den Buddha gütig lächelnd im Hintergrund, gemeinsam ablichten zu lassen. Keine dieser Familien war ohne mindestens drei Kinder vor dem großen Buddha erschienen, meistens waren es mehr, und bei vielen war auch noch eine Großmutter mit von der Partie. Dem Augenschein nach waren die Besucher weder arm noch reich sondern völlig normale Thais, die in diesem Tempel das kostbarste präsentierten, was ihnen das Leben schenken konnte: ihre Kinder. An dieser Kostbarkeit herrscht in Thailand kein Mangel, im Gegenteil der Kinderreichtum des Landes hat sich zu einem seiner größten Probleme ausgewachsen. Aus den fünf Millionen Menschen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Thailand lebten, waren zum Beginn des 20. Jahrhunderts bereits zehn Millionen geworden. Im Jahre 1960 wurde die 25 Millionen-Marke überschritten, und nur 25 Jahre später hatte sich die Bevölkerung Thailands auf über 50 Millionen Menschen mehr als verdoppelt. Mittlerweile dürfte die Bevölkerung Thailands die Siebzig Millionen-Grenze erreicht haben.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bus von Phitsanulok nach New Sukothai und nahm von dort ein Tuk-Tuk, das mich zum Ruinenfeld von Old Sukothai brachte. Obwohl sich die Ruinen der alten Königsstadt über einen ausgedehnten Bezirk erstreckten, konnte man die beeindruckendsten Ruinen innerhalb eines fußläufig zugänglichen archäologischen Parks besichtigen. Dieser Sukothai-Park bestand aus gepflegten Rasenflächen mit künstlichen Seen und Inseln, die über kleine, chinesisch anmutende Brücken miteinander verbunden waren. Merkwürdigerweise war ich ganz alleine auf dem Ruinenfeld, und es herrschte eine Ruhe, wie ich sie bisher in Thailand noch nicht erlebt hatte. Die Umrisse der Landschaft verschwammen im Dunst der mittäglichen Hitze, nur Vogelgezwitscher war zu hören, als ich mich in den Schatten setze, um ein wenig über Sokothai zu lesen.
Da die Einwanderung der Thai-Bevölkerung im 13. Jahrhundert immer mehr zunahm, wurde das Verhältnis zum Reich der Khmer zum Problem. Es kam zu Reibereien, ehe sich die örtlichen Thai-Stämme von Sukothai gegen die Khmer erhoben, die Besatzungstruppen davonjagten, um die Unabhängigkeit ihrer Stämme auszurufen. Nach der Genealogie der thailändischen Könige soll das im Jahre 1238 unter der Führung eines gewissen Sri Indradityas geschehen sein, dem die Legende als thailändischer Nationalheld zahlreiche mythische Züge andichtete.
Wirklich in das Scheinwerferlicht der Geschichte traten die Thais aber erst mit Indradityas jüngerem Sohn Ramkhamhaeng, dem dritten König von Sukothai (1279-1299), den die Thais bis auf den heutigen Tag als Begründer ihrer Nation verehren. Ramkhamhaeng befestigte Sukothai und begann mit dem Bau großer Tempel- und Bewässerungsanlagen. In seiner Regierungszeit entstand die Thai-Schrift, die wie alle Schriften Südostasiens eine Mischung aus alphabetischer und Silbenschrift darstellt. Ramkhamhaeng erhob den ohnehin schon vorherrschenden Buddhismus zur Staatsreligion und förderte die Missionstätigkeit srialankesischer Mönche, die alle Winkel des Landes durchwanderten, um auch den letzten heidnischen Thai zu missionieren. Am Ende seines Lebens soll König Ramkhamhaeng höchst selbst eine Tributgesandtschaft nach China geführt haben, wo er vom Nachfolger Kubilai Khans empfangen und bestätigt wurde. Da fast gleichzeitig die Mongolen die benachbarte burmesische Metropole Pagan zerstörten und sich das Reich der Khmer im Niedergang befand, gelang es Ramkhamhaeng fast das gesamte heutige Thailand unter seiner Herrschaft zu einigen.
Wenn die Herrlichkeit Sukothais auch kaum einhundert Jahre währte, wurde sie für die thailändische Kultur und Geschichte stilbildend. Aus dem Prang, dem Tempelturm der Khmer entwickelte sich der konisch zulaufende thailändische Tempelturm und schließlich die glockenförmige Chedi. Während im benachbarten Indien der Buddhismus unter den Schlägen islamischer Eroberer vernichtet wurde, erblühte er im Reich der Thai zu neuer Herrlichkeit. Nirgendwo in Asien gelangte die Figur des schreitenden Buddhas zu solch zauberhafter und filigraner Darstellung wie im Königspalast von Sukothai. Mehr schwebend als gehend scheint sich der schreitende Buddha über den Boden zu bewegen, vorbei an einer ganzen Galerie halbverfallener Säulen und einem überlebensgroßen Buddha an der Stirnseite des Tempels entgegen. Eine ganze Stunde saß ich im Schatten der Ruinen des Königspalastes und imaginierte die Bilder eines mittelalterlichen Reiches, seine turbulenten Alltagsszenen, die Ankunft der Heere, die die Khmer immer weiter nach Osten drängten, die Meditationen der srilankesischen Mönche und die Audienzen des Königs. Um mich herum blühte die Natur, Überreste zerfallener Skulpturen lagen im Unterholz, und ein Buddha Kopf mit der spitzen zulaufenden Krone der Erleuchtung auf dem Schädel ragte über den Rand der Bäume.
Auch während meiner weiteren Erkundung des Ruinenfeldes von Sukothai begegnete ich überall Buddha- Skulpturen. Sie standen, schritten, saßen oder schliefen, geradeso als wolle der Erleuchtete jede nur mögliche Körperhaltung probeweise mit der Mediation in Verbindung bringen. Unvergesslich blieb mir der fast fünfzehn Meter hohe Riesenbuddha im Wat Su Chum, einer kolossalen Gestalt, die noch übermächtiger wirkte, weil sie in von einem engen Gemäuer umgeben war. Diese Einschnürung des monumentalen Buddha erschien mir wie ästhetischer Ausdruck dafür, dass die Lehre des Buddha die Grenzen des Menschlichen sprengt. Aus diesem Grunde bezeichnet sich der srilankesische Buddhismus, der sich in ganz Indochina außer in Vietnam durchsetzte, als das „kleine Fahrzeug“, weil er eingestand, dass seine Weltentsagung nur für eine kleine Zahl von Menschen lebbar war, wobei dem einfachen Gläubigen immerhin die Möglichkeit blieb, in der Verehrung dieser wenigen religiösen Virtuosen ebenfalls Verdienste zu erwerben. Der Mayahana-Budhdismus, der Buddhismus des „großen Fahrzeugs“, der die Lehre des Erleuchteten mit Millionen Geistern und Göttern anreicherte, entstammte einer späteren Epoche und verbreitete sich auf einem anderen, einem zentralasiatischen Weg über die Seidenstraße nach China.
Am gleichen Abend kehrte ich nach Phithsanulok zurück und spazierte über den Nachtmarkt. Träge floss der Nan River unterhalb der Böschung nach Süden, große Hügel voller abgeholzter Bäume warten am Ufer auf ihren Abtransport. Die anhebende Dämmerung warf ihren Schatten über den Fluss, und an den Essenständen herrschte bereits Andrang. Viele thailändische Familien absolvierten ihren Abendspaziergang, auch Männergruppen, aber nur wenige Touristen waren unterwegs. Hoch schlug die Stichflamme aus den Pfannen der Garköche, die Speck, Bohnen, Fleisch, Fisch und allerlei undefinierbares Gemüse zum Kochen brachten. Erstaunlich viele Prostituierte standen im Halbschatten der Seitenstraßen und warteten auf Kundschaft, einige von ihnen von erschütternder Kindhaftigkeit. Obwohl Prostitution in Thailand offiziell verboten ist, gehört ihr Anblick zum festen Bestandteil des thailändischen Alltags. Längst hat sich die käufliche Liebe zu einem der größten Wirtschaftszweige des Landes entwickelt, nachgefragt nicht nur von westlichen Touristen in Bangkok oder Pattaya sondern massenhaft auch von der einheimischen Männerwelt in der thailändischen Provinz. Als ich mich in einer Garküche biederließ und ein Fischgericht bestellte, konnte ich beobachten, wie die Kontaktaufnahme zwischen Prostituierten und Freier ablief. Männern wie Frauen schienen die Verhandlungen peinlich zu sein, gerade so, als beherrsche sie eine Aversion gegenüber dem, was sie taten. Trotzdem wurde man sich schnell handelseinig und verschwand im Schatten einer Gasse. Der unbedarfte westliche Besucher, der so etwas zum ersten Mal erblickt, ist leicht geneigt, dieses Geschehen nach einem weitverbreiteten Standardklischee zu beurteilen, in dem Gut und Böse fein säuberlich getrennt sind. Danach prostituieren sich die hungernden Frauen aus purer Not, aus Hunger oder um ihre Familien zu ernähren. Nichts könnte falscher sein. Thailand ist kein reiches Land, und auch wenn die Lebensbedingungen unvergleichlich viel härter sind als in Europa oder Amerika, verhungert niemand mehr in Siam. Die Wahrheit ist viel prosaischer. Wer sich in Thailand prostituiert, will einfach schneller und leichter Geld verdienen, als dies für junge Frauen auf den Reisfeldern der in der Fabrik möglich ist. Dass diese Pläne dann oft nicht aufgehen, und dass die jungen Frauen schnell in das Räderwerk krimineller Zuhälterstrukturen geraten, ist dann wieder eine ganz andere Geschichte.
Der Bus brachte mich am nächsten Tag in einer fünfstündigen Fahrt von Phitsanulok aus zuerst nach Nakhim Sawan, dann über Ang Thong bis nach Ayutthaya, das sich nur noch eine gute Busstunde von Bangkok entfernt befindet. Um Treibstoff zu sparen, stellte der Busfahrer die Klimaanlage des Busses aus und behauptete, als die Fahrgäste protestierten, sie sei defekt. Jedermann riss die Fenster auf, doch nur um heiße Luft in den Bus zu lassen, der mit der Gewalt eines heißen Föhnstrahls durch die Reihen fegte. Als ich den Bus in Ayutthaya verließ, umgab mich die Hitze wie eine zweite, glitschige Haut. Augenblicklich brach mit der Schweiß aus, und ich flüchtete ins nächstbeste Hotel, dessen Außenwerbung eine Klimaanlage verhieß. „Kälte ist Zivilisation“ heißt es in „Mosquito Coast“. und manchmal ist sie genau das, was der Reisende in den Tropen mehr als alles andere braucht. Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich, wie sich die Prostituierten für die Nachtschicht in Position brachten. Da blieb ich doch lieber im kühlen Zimmer und beschäftigte mich mit Ayutthaya.
Ayutthaya, heute eine nicht sonderlich bedeutsame Provinzstadt siebzig Kilometer nördlich von Bangkok war über vierhundert Jahre hinweg die glanzvolle Hauptstadt Thailands gewesen. Schon einhundert Jahre nach der Gründung Sukothais hatten die Fürsten von Aytuhia Macht, Einfluss, Ressourcen und Bevölkerung der alten Hauptstadt überflügelt. Ohne große Auseinandersetzungen wurde Sukothai in der Mitte des 14. Jahrhunderts wie als eine Art ältere Schwester in den Reichsverband von Ayutthaya einfach einverleibt. Da das einstmals so ruhmreiche Khmer-Reich seine besten Tage hinter sich hatte und es im benachbarten Burma drunter und drüber ging, konnten die Könige von Ayutthaya die Grenzen ihres Reiches bis nach Laos, Kambodscha und auf die malayische Halbinsel ausweiten. Aus der kleinen Garnisonsstadt in einer Flusschleife des Chao Praya entwickelte sich eine der größten Städte Asiens, umgürtet von einer gewaltigen Stadtmauer und mit zahllosen Tempeln und Palästen geschmückt. Von den Holländern, Engländern und Portugiesen, die ab dem 16. Jahrhundert an den Küsten erschienen, importierte man die Feuerwaffen, die man zur Abwehr der Burmesen brauchte und versuchte zugleich mehr schlecht als recht, sich den Zudringlichkeiten der europäischen Mächte zu entziehen. Europäische Kapitäne, Seeräuber, Händler oder Schmuggler suchten ihr Glück an den Grenzen Indochinas und waren in der Wahl ihrer Mittel alles andere als zimperlich. Einer von ihnen, den das Geschick in ganz besonderer Weise weit emporhob, um ihn dann umso tragischer abstürzen zu lassen, war der Grieche Konstantin Phaulkon, den ein abenteuerliches Seefahrerleben im Dienst englischen Ostindienkompagnie im Jahre 1675 nach Ayutthaya verschlug. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung stieg er schnell zum Dolmetscher am Hof König Narais auf, der an ihm einen Narren gefressen hatte und ihn schon nach kurzer Zeit zum Minister ernannte. In seiner Eigenschaft als privilegierter Ratgeber des Königs bereicherte sich Phaulkon so schamlos, dass es selbst den Mitgliedern des wenig zimperlichen Königshofes auffiel. Um sein Gastland gegen die Expansion der Engländer zu schützen, entsandte Phaulkon im Jahre 1684 eine siamesische Gesandtschaft zum Hof des Sonnenkönigs in Versailles und erlaubte den Franzosen den Bau einer Befestigung im Stadtgebiet des heutigen Bangkok. Die sich andeutende katholische Mission und die Absinken Thailands auf den Rang einer französischen Kolonie wurde allerdings durch eine höfische Opposition unter der Führung des Adligen Petraja verhindert. Er ermordete den erkrankten König Narai und ließ Phaulkon gefangennehmen und hinrichten. Als neuer thailändischer König begründete Petraja nicht nur eine neue Dynastie sondern verfügte, dass alle ausländischen Mächte Thailand verlassen mussten, was bis 1690 auch geschah.
Ich las weiter bis spät in die Nacht, ehe ich einschlief. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Die Klimaanlage war ausgefallen, es war stickig heiß im Zimmer, und ich war von Mücken gestochen worden. Ich versuchte den Ventilator anzustellen, doch er funktionierte nicht. Nachtlampe? Fehlanzeige. Draußen war es ruhig, dann hörte ich laute Stimmen im Hinterhof. Mit schepperndem Rappeln sprang der Generator an, kurz darauf setzte sich der Ventilator in Bewegung. Das Licht ging an, und ich schlug zwei Mücken tot. Eine Tropennacht, wie ich sie oft erlebt hatte.
Am nächsten Morgen lernte ich beim Frühstück die Japanerin Naiko kennen, eine junge Frau irgendwo zwischen zwanzig und dreißig, die völlig in schwarz gekleidet war und bei jedem Wort, das sie sagte, die Augen weit aufriss. Soweit ich ihr Englisch verstehen konnte, war sie Studentin, kam aus Osaka und befand sich auf ihrer ersten Asienreise, die sie bisher durch Vietnam, Laos und Kambodscha nach Thailand geführt hatte. Immerfort ratterte sie alle Sehenswürdigkeiten herunter, die sie schon gesehen hatte und schlug mir anschließend vor, mir ihr gemeinsam ein Tuk-Tuk zu mieten, das uns einige Stunden lang durch das weitausgedehnte Ruinengelände von Ayutthaya fahren würden. Das war eine gute Idee, denn die Tuk Tuk Fahrer, die vor dem Hotel bereits auf Kundschaft warteten, forderten gesalzene Preise. Der junge Tuk-Tuk-Fahrer, den wir für unsere Ayutthaya-Tour auswählten, hatte von der Königsstadt zwar keine Ahnung, folgte aber gehorsam den Anweisungen, die ihm Naiko auf der Grundlage ihrer Ayutthaya- Karte gab und war ansonsten ein unauffälliger Geselle, der während unserer Besichtigungen geduldig wartete oder sich einfach in den Schatten zu einem Nickerchen verzog.
Die dreieinhalb Stunden, die ich mit Naiko und unserem somnabulen Tuk-Tuk-Fahrer auf dem Ruinenfeld von Ayutthaya verbrachte, gehörten zu den anschaulichsten Erlebnissen meiner Thailand-Reise. So weit verstreut die Ruinen auch im Gelände lagen, so waren doch fast alle prachtvoll herausgeputzt und manchmal wie eine Installation mitten in das Gesträuch drapiert. Hier und da waren moderne Steinbuddhas mit leuchtendgelben Gewändern einfach dazugestellt worden, damit sich der Anblick eines verfallenen Tempels oder Palastes auch effektvoll abrunde. Auch wenn ich wusste, dass Vieles, was ich sah, nicht original sondern unbekümmert nachgebauter Fake war, ergriff mich bald ein Gefühl, dass ein guter Freund aus Knabentagen das „Indianer Jones Feeling“ genannt hatte, die Empfindung, sich in einer Umgebung aufzuhalten, in der Kultur und Natur, Fantasie und Realität auf das Anregendste ineinander über gehen, so dass man sich fühlt, als durchstreife man ein Märchenland im Modus eines glückhaften Traumes. Historiker mögen darüber die Nase rümpfen, Reisende wissen, was ich meine
Der größte und schönste Palast Ayutthayas, der Wat Si Saphet, war eine ursprünglich umzäunte Anlage, in deren Mitte sich drei beeindruckende Thai-Chedis erhoben. Zu Füßen der drei Pagoden befanden sich Skulpturengruppen, die den Erleuchteten im Kreis seiner Schüler zeigten. An einer andern Stelle saß ein Dutzend Buddhas wie die geklonten Mitglieder einer Nirwana-Armee in Reih und Glied ordentlich nebeneinander und blickten den Besuchern erwartungsvoll entgegen. Hier wie schon in Sukothai waren die Statuen mit gelben Mönchsgewändern bekleidet, die mir so sauber vorkamen, dass ich sicher war, sie würden jeden Tag gewaschen. Irgendwo im Wat Si Saphet sollte sich ein Fußabdruck Buddhas befinden, den Naiko unbedingt sehen wollte, so dass wir uns auf die Suche machten, ohne ihn zu finden. Dafür entdeckte ich jede Menge kleiner Warane, die sich im Tempelgras versteckten, einmal hörte ich sogar ein Zischen und machte, dass ich weiterkam.
Als nächstes lotste uns Naiko zum Riesenbuddha des Vihara Phra Monkoi Bopit. Bald standen wir vor einer rekonstruierten 14 Meter hohen sitzenden Buddha Statue, die in ihren Ursprüngen auf das frühe 16. Jahrhundert zurückging. Der Buddha, den wir sahen, hatte mit dieser ursprünglichen Skulptur aber wohl nur noch die Sitzhaltung und die Ausmaße gemein. Moderne Restauratoren hatten sie vergoldet und mit einem modernen Gebäude umgeben, das die Statue vor den Unbillen der Witterung schützen sollte.
Noch beeindruckender als der sitzende Riesenbuddha erschien mir der schlafende Buddha des Wat Loyala Suthram, eine vierzig Meter lange und acht Meter hohe Skulptur, die ohne schützende Ummantelung mitteln im Gelände lag. Ganz schwindelig konnte einem werden, wenn man dem hausgroßen Buddha-Kopf mit seinen geschlossenen Augen gegenüberstand, der auf vier stilisierten Lotosblumen ruhte. Da ich damals nur unzureichende Kenntnisse über die buddhistische Ikonografie des schlafenden Buddhas besaß, ließ ich nur das Erlebnis der puren Größe in eine naiver Ergötzung mir wiederhallen. Erst später erfuhr ich, dass manche Skulpturen, wie etwa der liegende Buddha von Gal Vihare in Sri Lanka, den ent-schlafenen Buddha kurz vor seinem Eingang ins Nirwana zeigen. Andere schlafende Buddhas gemahnen den Gläubigen daran, dass der Traum ein Trugbild ist, eine Vorgaukelung von Realität, der keiner Wirklichkeit entspricht. Ob es sich bei dem schlafenden Buddha des Wat Loyala Suthram um einen ent-schlafenden oder um einen träumenden Buddha handelte, hätte ich damals an der Fußstellung erkennen können. Liegen die Füße parallel, träumt der Buddha, ist der obere Fuß leicht über dem unteren Fuß gewölbt, ist er bereits im Nirwana angekommen.
Was war das Ende der Geschichte von Ayutthaya? So lang und glanzvoll sich die Epoche Ayutthayas im Rückblick auch darstellte, am Ende versank die Stadt in Feuer und Zerstörung. Nach jahrhundertelangen Kriegen, in denen sich die Thai immer nur mit Mühe gegen die Burmesen hatten wehren können, gelang den kriegerischen Nachbarn in Jahre 1769 ein überraschender Durchbruch. Ayutthaya wurde eingenommen und so gründlich zerstört, dass kein Stein auf dem anderen blieb. Diese Vernichtung ihrer glanzvollen Hauptstadt ist für die Thais bis auf den heutigen Tag ein nationales Trauma geblieben, an das sie mit einer Mischung aus Trauer und Zorn gedenken.
Obwohl die Thais die Burmesen kurz darauf aus dem Land drängten, bauten sie Ayutthaya nicht wieder auf sondern verlegten ihre neue Hauptstadt nach Thonburri/Bangkok direkt ans Meer. Eine neue Dynastie kam an die Macht, deren Könige seit 1782 ununterbrochen das Land regieren. Ein neues Kapitel der Geschichte wurde aufgeschlagen, in dem Bangkok zur alles überragenden Metropole des Landes wurde, so groß und expansiv, dass man im Schatten ihrer Wolkenkratzer fast vergessen könnte, dass Thailand auch eine Geschichte hat.
Königspalast von Ayutthaya